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(erstellt: April 2011)

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1. Rache als Begriff des Rechts

Rache ist im biblischen Sprachgebrauch ein Begriff des → Rechts und bezeichnet das Eingreifen der für die Wahrung der Rechtsordnung zuständigen Autorität, die den Täter gerecht bestraft und dem Opfer zu seinem Lebensrecht verhilft. Ein begangenes Unrecht wird also durch Bestrafung ausgeglichen und damit aufgehoben (vgl. die Maxime der Talion in Ex 21,12-14.23-25). Daraus erklärt sich die Verbindung des Wortfeldes נקם nqm „rächen“ mit dem Sachbereich „Gerechtigkeit“ und Begriffen wie פקד pqd „überprüfen / heimsuchen“, ריב rjb „einen Rechtsstreit führen“, שׁפט špṭ „richten“ und שׁוב šwb Hif. sowie שׁלם šlm Pi. „vergelten“ (vgl. 1Sam 24,13; Jer 11,20; Ps 58,11f.; Ps 94,1f.). Das Alte Testament kennt eine Vielzahl von Fällen, in denen Rache ausgeübt wird: körperliche Verstümmelung (Ri 16,28), ungerechtfertigte Nachstellungen (2Sam 4,8), Beleidigungen (1Sam 25,39), Ehebruch (Spr 6,34) oder die Vorenthaltung der versprochenen Frau (Ri 15,1-7). Aber nicht nur der Einzelne oder der König als Repräsentant seines Volkes üben Rache gegenüber den Feinden aus (1Sam 14,24), auch Gott selbst tritt im Fall des Bundes- und Rechtsbruches als Rächer in Erscheinung (Jos 22,23; Dtn 7,10). Die stärkste Rache auslösende Tat ist die vorsätzliche Tötung eines Menschen, die unweigerlich zur Blutrache führt und die auch Gott als den Herrn des Lebens auf den Plan ruft (vgl. → Zorn).

2. Die Blutrache

2.1. Das Blut als Sitz des Lebens und das Hoheitsrecht des Schöpfers

Insofern das Alte Testament → Blut mit Leben gleichsetzt (Dtn 12,23) und im Blut den Sitz der Lebenskraft sieht (Lev 17,11), steht das Blut in direkter Verbindung mit dem Schöpfergott als dem Herrn des Lebens, so dass ein Blutvergießen nur mit Einschränkung und mit göttlicher Zustimmung zulässig ist. Dieser Sachverhalt trägt nach Auskunft der Urgeschichte den Gegebenheiten der nachsintflutlichen Menschheit Rechnung, in der, anders als in der Schöpfung des Anfangs, wo kein Wesen auf Kosten des anderen sein Leben erhalten soll (Gen 1,29f.), Gewalt und → Mord als Möglichkeit des gefallenen Menschen (vgl. Gen 3) nicht auszuschalten sind, so dass ein Wort zur Eindämmung der Gewalt vonnöten ist.

Dies geschieht in der „Speiseregelung“ von Gen 9, wo es heißt: „Nur Fleisch in seiner Seele, seinem Blut, dürft ihr nicht essen“ (Gen 9,4). Äußerlich scheint es hier darum zu gehen, nur ausgeblutetes Fleisch zu essen, was indirekt auch den Blutgenuss als solchen ausschließt (vgl. den entsprechenden Sakralrechtssatz in Lev 3,17; Lev 7,26f.; Lev 19,26; Dtn 12,16.23). Als urgeschichtlicher, d.h. mit Wesensaussagen arbeitender Text hat die Aussage jedoch eine tiefere Bedeutung und enthält die allgemeine Norm, dass das Leben auch bei Tiertötungen dem Menschen niemals zu Gebote steht. Die antike Welt kannte nämlich eine Fülle von Blutriten, bei denen der Genuss des Blutes als Aneignung von Lebenskraft erlebt wird (Zimmerli, 328). Hier zieht der alttestamentliche Glaube eine Grenze, die für alle gilt: Der Mensch ist nicht Herr über Leben und Tod. Das ungehemmte Töten der Tiere aber birgt eine Gefahr, die Gefahr des Blutdurstes (Num 23,24; Dtn 32,42; Jer 46,10), des Tötens um des Tötens willen, der Mordgier. So gesehen wehrt das Verbot des Blutgenusses einer Verrohung, die leicht auf das Verhalten zum Mitmenschen übergreifen kann.

Ging es in Gen 9,4 um das Blut der Tiere, so in Gen 9,5f. um das Blut des Menschen. Denn nachdem die Friedensordnung des Anfangs (Gen 1‚29f.) durch die Gewalttat des Menschen gebrochen ist, ist auch das Leben des Menschen gefährdet. Daher muss die chaotische Tendenz der Schöpfung nach dem Sündenfall mit den Mitteln der gefallenen Welt eingedämmt werden. Ein Zeichen der ordnenden Gewalt ist die Weisung Gottes: „Wer Menschenblut vergießt, durch Menschen soll sein Blut vergossen werden; denn als Bild Gottes hat er den Menschen geschaffen“. Hier wird zum einen die Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung bestätigt, dessen Existenz als → Ebenbild Gottes – eben weil damit ein Sein und nicht nur eine Funktion angesprochen ist – nicht mit der Verwirklichung des Schöpfungsauftrages steht und fällt.

Wenn nun Gen 9,6 darauf hinweist, dass das vergossene Blut durch einen Menschen geahndet wird, dann ist zunächst nicht im juristischen Sinn an den Vollzug der Todesstrafe oder der Blutrache gedacht. Die urgeschichtliche Darstellung ist vielmehr Illustration zum Prinzip der Talion, in der die Tat den Täter trifft, also in Form der Strafe zu ihm zurückkehrt, das tödliche Unheil somit in todbringender Weise auf den Mörder zurückschlägt und seinem Leben den Segen nimmt. Weil im Mord am Menschen Gottes Ebenbild getroffen wird, ist der Mord das unbedingt Verwehrte und zugleich ein direkter Eingriff in Gottes Herrschaftsrecht. Es wird in Gen 9,6 zwar nicht rechtlich die Todesstrafe gefordert, wohl aber ist dem Menschen damit aufgegeben, den Mord zu ahnden.

2.2. Der Vorgang der Blutrache

Blutrache zwischen verschiedenen Sippen eines Stammes oder Volkes wird nicht allein durch die vorsätzliche Tötung eines Menschen sowie die Tötung eines Menschen in Kriegshandlungen oder Notwehrsituationen (Ri 8,18) ausgelöst, sondern auch durch Gewalttaten wie Vergewaltigung (Gen 34,31) oder eine Körperverletzung mit nichttödlichem Ausgang (Gen 4,23; Ri 16,21.28). Im Hintergrund steht die Vorstellung, dass das vergossene Blut eine Stimme hat und den auf den Plan ruft, von dem alles Leben kommt. So schreit das Blut zu Jahwe, wie auch sonst ein unterdrückter Mensch nach Vergeltung ruft (Gen 4,10; Hi 24,12). Daher lastet das gewaltsam vergossene Blut auf dem Täter (2Sam 21,2); es verunreinigt das Land (Num 35,33f.) und das Volk (Dtn 19,10; Dtn 21,8), das damit seine erlöste Existenz infolge der Herausführung aus Ägypten gefährdet.

Die Einrichtung der Blutrache ist somit nicht Ausdruck von Willkür, sondern Vollzug der von Gott als dem Herrn des Lebens verhängten Strafe (Gen 9,5.6; Num 35,31; Ps 9,13) und damit eine legitime Institution zur Eindämmung der Gewalttätigkeit in Gesellschaften ohne staatliche Institution zum Schutz von Leben und Ehre des Einzelnen. Sie verhindert, dass im Konflikt von Familien und Sippen ein rechtsfreier Raum entsteht, in dem das Lebensrecht des Einzelnen nicht gesichert ist. „Wer immer einen Menschen aus einer fremden Familie tötet, muss wissen, dass ihn diese Tat das Leben kosten wird“ (Otto, 37). Ein Ausgleich durch Geldzahlung ist nicht möglich (Num 35,31-34). Vielmehr gilt: „Wer einen Menschen so schlägt, dass er stirbt, wird mit dem Tod bestraft“ (Ex 21,12; vgl. Lev 24,17.21; Num 35,31-33; Dtn 19,11).

Die Ausübung der Blutrache obliegt dem go’ēl haddām „Bluträcher“ – nach der aus Lev 25,48-49 und Num 27,10 erschlossenen Reihenfolge Sohn, Bruder, Brüder des Vaters, Sohn des Bruders des Vaters –, der die durch die Tötung des Familienmitglieds zerstörte Ordnung wiederherstellt. Das Alte Testament nennt als konkrete Fälle der Blutrache: → Gideons Rache an → Sebach und Zalmunna (Ri 8,4-21), die des → Joab an → Abner (2Sam 3,27), die der Gibeoniten an den Nachkommen → Sauls (2Sam 21,1-9) und die des → Joasch an den Mördern seines Vaters (2Kön 14,5-6). Vollstreckt wurde die Blutrache an dem Mörder oder an einem dem zuvor Umgebrachten entsprechenden Mann (eine Blutrache für eine getötete Frau ist nicht bekannt) – in der Regel durch das Schwert oder den Dolch, wobei es kein Rächer darauf anlegen soll, sein Opfer leiden zu lassen.

Durch die Beauftragung eines Einzelnen mit der Blutrachepflicht wurde diese in gesetzliche Bahnen gelenkt und eine Potenzierung von Blutracheaktionen ausgeschlossen. Zugleich suchte man durch die Unterscheidung zwischen vorsätzlichem Mord und fahrlässiger Tötung die Zahl möglicher Blutfehden zu verhindern (Ex 21,18-19.22.23; Ex 21,21.26-27.28-32). Im Fall des unaufgeklärten Mordes oder Totschlages, wo die Gefahr bestand, dass die Siedlung, die der gefundenen Leiche am nächsten lag, zum Zielobjekt einer Blutrache wurde, entwickelte man ein Zeremoniell, das das zum Himmel nach Rache schreiende Blut zum Schweigen bringen sollte (Dtn 21,1-9). Eine weitere Möglichkeit, Blutrachefälle zu verringern, war mit der Einrichtung von Asylstätten gegeben (→ Asyl). In der älteren Asylgesetzgebung des → Bundesbuchs wurde dem Mörder im Heiligtum Schutz vor dem Bluträcher gewährt, bis sein Fall untersucht war (1Kön 1,50-53; 1Kön 2,28f.). In der jüngeren Gesetzgebung werden die Heiligtümer durch Asylstädte abgelöst, die nach geometrisch-geographischen Gesichtspunkten ausgesucht wurden und in der Mitte der Stammesgebiete lagen und die sowohl von den Vertretern der religiösen Institutionen als auch von der Staatsgewalt sowie den Sippen der Stämme anerkannt sein mussten. Jos 20,7f. nennt namentlich sechs Asylstädte: Kedesch, → Sichem, Kirjat-Arba (→ Hebron), Bezer, Ramot Gileat und Golan. Hier wurde der Tatbestand nach Tathergang und Motiv geprüft und im Fall des Urteils Mord der vermeintliche Totschläger aus der Asylstadt geholt und dem Bluträcher als dem Vollzugsorgan des Ortsgerichts übergeben. Bei gewährtem Asyl für jemanden, der einen Unfalltod verschuldet hat, war dieser an den Asylort gebunden, denn beim Verlassen des Asylortes durfte er vom Bluträcher getötet werden. Erst nach dem Tod des Hohenpriesters, der befreiende Sühnung der Blutschuld gewährte, war es dem Schutzsuchenden erlaubt, in die Heimat zurückzukehren (Dtn 19,2-13; Jos 20,1-9; Num 35,9-34).

Die geistige, kulturelle und wirtschaftliche Umstrukturierung Judas in der nachexilischen Zeit führte dazu, dass sich die Ausübung der Blutrache als ein an der Gruppe orientiertes Denken überlebte und bedeutungslos wurde.

3. Das Verbot der Rache

Mit der Übertragung der Rache auf Gott (Dtn 32,35) geht eine Ablehnung der Rache gegenüber Angehörigen des eigenen Stammes einher (1Sam 24,13). Nach 2Sam 14 bringt die weise Frau aus → Tekoa (→ Frauen in der Literatur 8.1.) durch eine Beispielgeschichte (2Sam 14,4-11), die die selbstzerstörerische Gewalt der Blutrache – vgl. in diesem Zusammenhang auch das Prahlen mit übertriebener Vergeltung im Lamechlied Gen 4,23f. – deutlich macht, → David dazu, den Brudermörder → Abschalom zu begnadigen. Das → Heiligkeitsgesetz schärft in Lev 19,18 gleichfalls das Verbot der Rache innerhalb des Familienverbandes mit Nachdruck ein (vgl. auch Spr 20,22), was keineswegs heißt, dass der Mörder ungestraft bleiben soll. Dies zeigt nicht zuletzt ein Blick auf Gen 4,10-14, wo den Brudermörder Kain das Schicksal des Ausschlusses aus der Sippe ereilt. Die zusätzliche Forderung von Lev 19,18, das Böse durch das Gute zu überwinden, hat ihren Ermöglichungsgrund in der Heiligkeit Gottes, die sich im Befreiungsgeschehen des Exodus dem erwählten Volk erlösend zugewandt hat.

Literaturverzeichnis

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  • Zimmerli, W., 1 Mose 1-11. Urgeschichte (ZBK.AT 1.1), Zürich 1991

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