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(erstellt: Januar 2015)

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1. Einleitung

Die → Religionspädagogik ist eine vergleichsweise junge Disziplin, die sich erst mit der Wende zum 20. Jahrhundert als eigenständiges Fach im Fächerverbund der → Theologie herausgebildet hat (vgl. Kunstmann, 2004, 19; Schambeck, 2013, 94). Als interdisziplinär orientierte Wissenschaft in ihrer heutigen Form konnte sie sich sogar erst in den 1970er Jahren etablieren (vgl. Leimgruber/Ziebertz, 2010, 31; Schweitzer/Simojoki/Moschner/Müller, 2010, 324). Gegenwärtig gilt die Religionspädagogik als die Disziplin in der Praktischen Theologie, „in deren Rahmen religiöse Bildungsprozesse beschrieben, analysiert und reflektiert werden“ (Sajak, 2012, 65). Sie ist eine „auf Religion bezogene Theorie von Erziehung, Bildung, Sozialisation, Lernen und Entwicklung in Kirche, Schule und Gesellschaft“ (Schweitzer, 2002, 47). Im Folgenden beschreiben wir ihr wissenschaftstheoretisches Verständnis und ihr Verhältnis zu ihren Bezugsdisziplinen.

2. Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Religionspädagogik

Die Wissenschaftstheorie beschäftigt sich allgemein mit den Zielen, Methoden und Ergebnissen der einzelnen Wissenschaften und klärt die Vorrausetzungen ihrer Erkenntnisgewinnung. Die Wissenschaftstheorie kann diese Fragestellung beschreibend-rückblickend bearbeiten und versuchen, die Bedingungs­konstellationen für wissenschaftliche Paradigmenwechsel, Umbrüche und neue Erkenntnisse in der Forschung zu bestimmen (z.B. Kuhn, 1976). Andere Ansätze der Wissenschaftstheorie klären dagegen normativ-logisch, wie wissenschaftlich gearbeitet werden sollte, um in einer angemessenen Weise einen Forschungsfortschritt zu erzielen. Das Feld der normativ-logischen Ansätze wird dabei durch zwei klassische erkenntnistheoretische Positionen beschrieben: Der logische Empirismus von Rudolf Carnap und der kritische Rationalismus von Karl Popper. Nach Carnap (1926, 8) sollte die Wissenschaft induktiv vorgehen. D.h. aus „ein- oder mehrmaliger Beobachtung eines gewissen Bedingungsverhältnisses“ wird „auf seine allgemeine Gültigkeit“ geschlossen. Mehrmalige Beobachtungen haben damit einen verifizierenden Charakter bezogen auf die theoriebildende Verallgemeinerung. Später hat Carnap seine Sicht auch um deduktive Aspekte erweitert, indem er benennt, dass Forschende sich immer auch von rudimentären theoretischen Vorstellungen leiten lassen und Erwartungen entwickeln, die danach bewertet werden, ob sie durch die Beobachtungen bestätigt oder nicht bestätigt werden (Carnap, 1946). In der religionspädagogischen Forschung entsprechen vor allem qualitative Ansätze diesem Forschungsideal (z.B. Kaupp, 2005), d.h. allgemeinere Muster sollen im Rahmen von Interviews entdeckt werden und stehen nicht als theoretische Vorannahmen im Voraus fest. Karl Popper (1935) positioniert sich kritisch zu einem derartigen Vorgehen, denn auch wiederholte ähnliche Beobachtungen garantieren nicht, dass nicht eine weitere Beobachtung dem „verallgemeinerten“ Muster widerspricht. Die Wissenschaft sollte daher deduktiv vorgehen, so dass aus der Theorie eine Aussage abgeleitet wird, die falsifiziert werden kann. Die Möglichkeit des Scheiterns ist so die entscheidende Voraussetzung für wissenschaftliche Aussagen (Popper, 1982, 15). Das Scheitern einer Vorhersage betrifft die Theorie, die dann revidiert werden muss. Eine Verifikation hat demgegenüber den Nachteil, dass sie immer vorläufig bleibt. Das gilt jedoch vergleichbar auch für Poppers Ansatz. Denn scheitert die Falsifikation und die aus der Theorie abgeleiteten Aussagen treffen zu, dann hat die Theorie auch nach Popper weiterhin ihre vorläufige Daseinsberechtigung. Der Status der Theorie ist jedoch bei Popper stärker. Sie kann bis zu ihrer möglichen Falsifikation stichprobenunabhängig Gültigkeit beanspruchen, wohingegen in einer strikt empiristischen Sicht die Theorie gleichsam eine Zusammenfassung der Beobachtungen darstellt. In der Religionspädagogik folgen entwicklungs­psychologische Modelle (z.B. Oser/Gmünder, 1988) diesem Ansatz (→ Entwicklungspsychologie). Auch Theoriemodifikationen aufgrund von Falsifikationen kennzeichnen diesen Forschungsprozess, so dass etwa strukturgenetische Annahmen verabschiedet wurden (z.B. Streib, 2001; Streib/Klein, 2014).

Mit Blick auf die Entwicklung der Religionspädagogik als Wissenschaft erweisen sich nun jedoch viele fachspezifische Fragen als bestimmend, so dass die allgemeine Wissenschaftstheorie hin zu einer Wissenschaftstheorie der Religionspädagogik erweitert werden muss.

3. Die Fachlogik der Religionspädagogik

Galt Religionspädagogik lange als „Anwendungswissenschaft“ (Porzelt, 2009, 135), welche theologische Kenntnisse so aufzubereiten habe, dass sie leicht übernommen werden können, versteht sich die Religionspädagogik heute selbst als Handlungswissenschaft (vgl. Schambeck, 2013). Religionspädagogik entwickelt Theorien von Praxis religiöser Bildungs- und Lernprozesse für religiöse Bildungs- und Lernprozesse ( Bildung, religiöse).

Gemäß diesem Ansatz entwirft und diskutiert Religionspädagogik wie jede moderne Wissenschaft Theorien (vgl. Nipkow, 2001; Ziebertz, 2002, 159-165). Es geht ihr somit vorzüglich um Gedankengebäude, Begriffe und Modelle, die Regelmäßigkeiten jenseits der Details von Einzelfällen systematisch zueinander in Beziehung setzen und erklären. Ihr Gegenstandsbereich ist dabei je nach Ansatzpunkt „religiös vermittelte Praxis“ (Ziebertz, 2002, 159), die „Kommunikation des Evangeliums im Medium von Lernprozessen“ (Schröder, 2012, 172) oder „religiöse Lern- und Bildungsprozesse“ (Schambeck, 2013, 102). Ihr Horizont wird angesichts religiöser Individualität dabei ein weiter sein, der nicht nur dezidiert christliche oder kirchlich rückgebundene religiöse Bildungspraxis in den Blick nimmt (vgl. Nipkow, 2001, 1720f.). Außerdem geht es ihr nicht nur um religiöses Lernen oder religiöse Bildung an sich, sondern auch um die Faktoren, welche beide Prozesse bedingen. Mit diesen Theorien klärt die Religionspädagogik religiöse Bildungspraxis über sich selbst auf.

Gleichzeitig liefert Religionspädagogik Theorien für Praxis. Ihre Erkenntnisse zielen auf die Bewältigung von Aufgaben und Problemen, die sich im Zusammenhang religiöser Bildung ergeben. Demnach soll sich religiöses Lehren und Lernen auf wissenschaftliche Methoden und wissenschaftlich begründete Theorien stützen können. Der Gewinn einer derart wissenschaftlich begründeten Orientierung liegt dann in einer optimierten Praxis. Zerfaß (1974) hat diese Sichtweise anhand eines Ist-Soll-Transformationsmodells für die gesamte Praktische Theologie bestimmt. Der wissenschaftliche Diskurs bietet dabei jene Ressourcen, die es ermöglichen, gezielt eine „vorfindliche Praxis“ in eine „neue“ Praxis zu verwandeln. Dazu gehören auch die Bestimmung der gegenwärtigen Situation (→ Empirie) und die Klärung einer Soll-Situation mit Rückbezug auf die religiöse Tradition (→ Hermeneutik). Um dem instrumentellen Charakter zu wehren, der einer solchen Lesart von Handlungswissenschaft leicht zu eigen ist, betonen z.B. Dressler (2004, 261) und Lämmermann (2012) die normativ-evaluative Dimension religionspädagogischer Theorie, die sich aus einer Orientierung an theologischen Erkenntnisquellen speist und für die Praxis Geltung beansprucht.

Als Produzent von Theorien von Praxis für Praxis verstanden, ist die Religionspädagogik in der Lage, religiöse Bildungsprozesse (a) differenziert zu beschreiben, (b) zu erklären, (c) vorherzusagen, sowie (d) diese Bildungsprozesse zielorientiert zu beeinflussen und (e) kritisch zu evaluieren (vgl. Beck/Krapp, 2001, 38; Lämmermann, 2012). Betrachten wir als Beispiel die Theorie des religiösen Urteils von Oser und Gmünder (1988). Mit ihren Begriffen und Konzepten erlaubt sie (a) eine differenzierte Wahrnehmung und Beschreibung von Entwicklungsschritten im religiösen Urteil von Individuen. Kinder, die z.B. ein positives Erlebnis in ihrem Leben als Belohnung Gottes auffassen, folgen demnach einer instrumentellen Rationalität („do-ut-des“), in der das heteronom gedachte Subjekt das Handeln einer überweltlich gedachten Wirklichkeit zwar im Sinn von deren Anforderungen beeinflussen kann, die Anforderungen selbst aber nicht. Gleichzeitig ermöglicht es besagte Theorie, (b) Verhalten zu erklären. Die Auffassung eines positiven Erlebnisses als Belohnung ist dann dem entwicklungsgemäßen Verständnishorizont des Kindes geschuldet, d.h. es erklärt sich die Welt mit den kognitiven Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen. Alternative Erklärungen, wie etwa eine dogmatisch normative Lesart der kindlichen Auffassung als pelagianisch, lassen sich aufgrund der herangezogenen Theorie als weniger angemessen erweisen. Ebenso ermöglicht religionspädagogische Theorie (c) eine Verhaltensvorhersage und vorsorgliche Folgenabschätzung. Z.B. kann erwartet werden, dass eine dogmatisch orientierte Unterrichtseinheit über die pelagianische Irrlehre der Mitwirkung des Menschen am Heil bei Kindern der zweiten Stufe nach Oser und Gmünder keinen oder nur einen geringen Einfluss auf das zugrunde liegende do-ut-des-Muster der Wirklichkeitsinterpretation hätte, sondern von den Kindern eher als nicht nachvollziehbare Verurteilung ihrer Auffassungen erlebt würde. Sodann ermöglicht es die Theorie, (d) konkrete pädagogische und didaktische Schritte für religiöse Bildungspraxis zu entwerfen. Strukturgenetische Entwicklungstheorien wie die von Oser und Gmünder empfehlen z.B. eine Kommunikation auf Stufe x+1, so dass dem Kind das kognitive Dilemma geboten werden könnte, dass Gott nicht in der Welt eingreifen kann. Schließlich haben religionspädagogische Theorien in der Regel auch (e) eine normativ-evaluative Dimension. Die Theorie von Oser und Gmünder setzt als zu erreichendes Entwicklungsziel religiöse Autonomie (Schweitzer, 1999) und ermöglicht damit eine Kritik etwa konservativer Konzepte wie „Gehorsam“ und „Autorität“.

4. Das Verhältnis der Religionspädagogik zu ihren Bezugsdisziplinien

Um ihre Aufgaben zu erfüllen, rekurriert die Religionspädagogik auf verschiedene Bezugswissenschaften wie die → Theologie oder die Humanwissenschaften Psychologie, Soziologie und → Pädagogik.

4.1. Religionspädagogik und Theologie

Der Bezug der Religionspädagogik zur Theologie ist nicht selbstverständlich, da in anderen europäischen Ländern die Religionspädagogik vielfach als rein pädagogisches Fach konzipiert wird (vgl. z.B. Schweitzer, 2006, 273). Die Sinnhaftigkeit einer Verortung der Religionspädagogik innerhalb des theologischen Fächerverbunds wird daher im Folgenden zu begründen sein. Als Teildisziplin der Praktischen Theologie ist die Religionspädagogik insbesondere auf die theologischen Disziplinen der Exegese, der Kirchengeschichte und der Systematik verwiesen. Im Sinn des Selbstverständnisses als Handlungswissenschaft ist dieses Verhältnis dabei so zu denken, dass die Religionspädagogik die aus den genannten Bezugsdisziplinen rezipierten Erkenntnisse in eigene Ansätze und Fragestellungen integriert.

Unter den drei genannten theologischen Disziplinen scheint die Nähe zwischen Religionspädagogik und Systematik am größten zu sein, denn beide verfolgen eine Deutung des Lebens aus christlicher Perspektive (vgl. z.B. Gennerich, 2010; Kumlehn, 2013). Allerdings geht die Religionspädagogik diese Erschließungsaufgabe von der gesellschaftlichen und individuellen Wirklichkeit her an, während die Systematische Theologie von der Tradition bzw. auf der Grundlage begrifflicher Konzepte her denkt (vgl. Englert, 1995, 161; Kumlehn, 2013, 36). Im Sinne Dresslers und Lämmermanns können systematische Konzepte als normativ-evaluative Eckpunkte in religionspädagogischen Theorien berücksichtigt werden (vgl. Dressler, 2006; Lämmermann, 2012). Auch können systematische Einsichten den materialen Horizont religionspädagogischer Überlegungen zu Lehr- und Lernszenarien liefern (z.B. Gennerich, 2010). In beiden Fällen bleiben systematische Theorien und Konzepte jedoch auf pädagogische oder didaktische Fragestellungen verwiesen, die sich dem Eigensinn religiöser Bildungs- und Lernprozesse verdanken. Inspirierend für die systematische Reflexion kann religionspädagogische Forschung dann sein, wenn sie von ihrem spezifischen Ansatzpunkt in der Lebenswelt religiöser Subjekte aus theologische Konzepte entwickelt. Eine derartige „religionspädagogische Theologie“ (Rothgangel, 2013) würde systematisch relevante Begriffe und Konzepte im Kontext zugehöriger Lebenserfahrung problematisieren und in den Dialog mit der Systematik einspeisen (vgl. Gennerich, 2013).

Das Verhältnis der Religionspädagogik zur Exegese und Kirchengeschichte scheint auf den ersten Blick nicht ganz so eng zu sein, weil die historisch-kritischen Verfahren dieser Fächer nur wenig zur Identifikation mit biblischen oder religiösen Gehalten beitragen könnten (vgl. Kunstmann, 2004, 26). Gleichwohl liefern beide Disziplinen wichtige Beiträge zur Elementarisierung biblischer und historischer Gehalte (z.B. Dierk, 2005; Lindner/Riegel/Hoffmann, 2013; Theißen, 2003). Außerdem entfalten die Exegese und die Kirchengeschichte Texte als Zeugnisse gelebten Glaubens vergangener Zeiten und stellen der religionspädagogisch relevanten Rezeption dieses Glaubens Kenntnisse über kontextuell korrekte Lesarten dieser Glaubensweisen zur Verfügung. In diesem Dialog wird die Religionspädagogik eher die Sachwalterin der aktuellen Rezeption sein, während Exegese und Kirchengeschichte eher als Sachwalter der Quellen auftreten (vgl. Rothgangel/Wilk, 2006).

Etwas anders bestimmt sich das Verhältnis der Religionspädagogik zu den anderen Disziplinen der Praktischen Theologie, denn sie teilt mit diesen den Ansatz, Inhalte der religiösen Tradition subjektorientiert zu erschließen. Dadurch ergibt sich ein breites Schnittfeld zwischen den praktisch-theologischen Fächern. So sind z.B. empirische Studien zu religiösen Einstellungen von Kirchenmitgliedern für Seelsorge, Gottesdienst ( Gottesdienst, evangelisch; Gottesdienst, katholisch) und Religionspädagogik gleichermaßen relevant, da sie helfen, die je adressierten Zielgruppen präziser zu erfassen. Die damit gegebene Nähe der praktisch-theologischen Fächer zueinander hat Anlass gegeben, die vorherrschende sektoriale Funktionsbestimmung zugunsten einer dimensionalen zu erweitern (Englert, 1995). In diesem Sinn bleibt religionspädagogische Reflexion nicht auf das Praxisfeld des Religionsunterrichts ( Religionsunterricht, evangelisch; Religionsunterricht, katholisch) in Schule und Gemeinde beschränkt, sondern bedenkt sämtliche Phänomene religiösen Lernens und religiöser Bildung, auch wenn diese im Gottesdienst stattfinden sollten. Derartig konturierte Modelle und Theorien können dann auch in den anderen Disziplinen der Praktischen Theologie fruchtbar gemacht werden (z.B. Gennerich, 2007; 2010, 218-264) bzw. Theorien und Modelle aus anderen Disziplinen der Praktischen Theologie in den religionspädagogischen Diskurs eingespeist werden (z.B. Husmann, 2006).

4.2. Religionspädagogik und Humanwissenschaften

Das Verhältnis der Religionspädagogik zu den Humanwissenschaften der Pädagogik, der Psychologie und der Soziologie bestimmt sich zum einen durch thematische Überschneidungen, zum anderen durch die Rezeption vor allem empirischer Forschungsmethoden ( Empirie). Inhaltliche Überschneidungen liegen auf der Hand: Sowohl der Pädagogik als auch der Religionspädagogik geht es um Lernen und Bildung. Psychologie und Religionspädagogik teilen sich das Erkenntnisinteresse an Wahrnehmungs- und Zuschreibungsprozessen, Soziologie und Religionspädagogik für Praxis in ihrem lebensweltlichen Kontext. In diesem Sinn entnimmt die Religionspädagogik den humanwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen Konzepte und Theorien, um die von ihr untersuchten religiösen Lern- und Bildungsprozesse zu beschreiben, zu erklären, vorherzusagen, zielorientiert zu beeinflussen und kritisch zu evaluieren. So stellt der pädagogische Bildungsbegriff eine Leitkategorie religionspädagogischer Reflexion dar (z.B. Dressler, 2006; Kropač, 2009) und die religionspädagogische Erforschung zeitgenössischer Religiosität wäre ohne den soziologischen Individualisierungs-Begriff nicht mehr denkbar (z.B. Ziebertz/Kalbheim/Riegel, 2003; Streib/Gennerich, 2011). Im Sinne Bernd Schröders können diese übernommenen Konzepte als „Regulative“ (Schröder, 2012, 213) verstanden werden, die religionspädagogischer Forschung und religionspädagogischem Denken eine Richtung geben. Die Integration der in einem anderen wissenschaftlichen Kontext entstandenen Modelle in die religionspädagogische Reflexion erfolgt dabei abgestimmt auf den Eigensinn religiöser Lern- und Bildungsprozesse.

Neben diesen konzeptuellen Übernahmen wirken sich die genannten Humanwissenschaften vor allem durch die Rezeption empirischer Forschungskonzepte auf die Religionspädagogik aus. Seit der sog. „empirischen Wendung“ (Wegenast, 1968) ist die Religionspädagogik konstitutiv an einer eigenständigen Erforschung der adressierten Subjekte interessiert. Pädagogik, Psychologie und Soziologie bieten ihr hierbei nicht nur eine Fülle von qualitativen und quantitativen → Forschungsmethoden, sondern definieren auch methodologische und forschungspraktische Standards. Letzteres fordert die deutschsprachige Religionspädagogik in besonderer Weise heraus, denn sie ist aufgrund ihrer Geschichte sowohl institutionell als auch mit ihren Publikationsorganen eher an geisteswissenschaftlicher Reflexion orientiert. Empirische Studien mit anspruchsvollen, komplexen Designs finden sich deshalb eher selten im religionspädagogischen Kontext. Gleiches gilt für empirische religionspädagogische Veröffentlichungen in pädagogischen, psychologischen und soziologischen Journalen mit peer-review-Verfahren (z.B. Streib/Klein, 2014).

5. Die Religionspädagogik als intradisziplinäre Wissenschaft

Insgesamt erweist sich die Verhältnisbestimmung der Religionspädagogik zu ihren Bezugswissenschaften als außerordentlich komplex. Sie lässt sich nicht pauschal so bestimmen, dass die theologischen Fächer eine normative Orientierung beisteuern und die Humanwissenschaften die empirisch fundierte Wahrnehmung der Subjekte in ihren Lebenskontexten (vgl. Englert, 1995, 160f.). Die Religionspädagogik ist herausgefordert, rezipierte Konzepte und Theorien in den Eigensinn religionspädagogischer Theoriebildung zu integrieren.

Ist die Religionspädagogik damit eine interdisziplinäre Wissenschaft? Forschungen zur Interdisziplinarität zeigen, dass es prinzipiell keine interdisziplinären Erkenntnisse geben kann, da ein Erkenntnisgewinn immer innerhalb einer Disziplin mit der ihr eigenen Fragestellung erzielt wird. Die Schwierigkeit der Interdisziplinarität ist dabei die Inkommensurabilität der Fragestellungen in den verschiedenen Disziplinen (vgl. Kocka, 1987). Wenn Religionspädagogik also aus den Bezugswissenschaften Theorien und Methoden entlehnt und innerhalb der Fragestellungen und Erkenntniswege der eigenen Domäne zu Theorien und Modellen kommt, dann arbeitet sie intradisziplinär (vgl. Van der Ven, 1990). In der Übernahme von Theorien und Konzepten aus den Bezugswissenschaften entsteht Innovationspotenzial für die Religionspädagogik, durch die Integration dieser Theorien und Konzepte in religionspädagogische Erkenntniswege wird die Anschlussfähigkeit innovativer Ansätze an den bisherigen religionspädagogischen Diskurs gewährleistet.

Wo letzteres nicht geschieht, bleibt religionspädagogische Forschung für Entfremdung anfällig. Historische Analysen religionspädagogischer Lehrbücher ( Schulbuchforschung) zumindest legen es nahe, dass die Normen der Religionspädagogik stark vom (pädagogischen) Zeitgeist geprägt werden (vgl. Zilleßen, 1985). Es empfiehlt sich daher, die normative Perspektive der Ideologiekritik (→ Kritik) gegenüber der instrumentellen Dimension der Religionspädagogik, die der Rationalität der religiösen Tradition selbst inhärent ist (Clayton, 1992, 53; 134), balancierend zu gewichten.

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