Gleichnisse Teil 2

Der literarische Charakter der Gleichnisse Jesu

Im Unterschied zur Allegorie enthalten die Gleichnisse Jesu unmittelbar die Sache selbst. Sie holen den Hörer mit seiner Welt unmittelbar in die erzählte Welt hinein. Auf diese Art erschloss Jesus seinen Hörern eine neue Perspektive auf ihr Leben. Man kann zugespitzt sagen, dass er in den Gleichnissen ihre Alltagswelt und die Königsherrschaft Gottes gleichsam kurzschloss. Jesus traute den Gleichnissen also eine unmittelbare Eigenkraft zu. Das unterscheidet seine Gleichnisrede im übrigen von der des Frühjudentums, die Gleichnisse entweder illustrativ oder erklärend einsetzte.

Allen neutestamentlichen Gleichnissen ist gemeinsam, dass in ihnen mit wenigen Erzählzügen nur das Nötigste gesagt wird. Sie sind chronologisch aufgebaut. Der Erzählablauf strebt ohne Abschweifung direkt auf die Pointe zu. Dadurch geschieht Sammlung und Fixierung auf das Wesentliche. Der Hörer erlebt den chronologischen Ablauf so als sachliche Stringenz. Das wird noch dadurch unterstützt, dass die Pointe in der Regel besonders ausführlich erzählt wird (sog. Achtergewicht). Häufig sind Gleichnisse nach der volkstümlichen regel de tri aufgebaut, d.h. die Erzählung folgt einem Dreischritt (vgl. Mt 25,14-30 – dort sogar doppelt: 3 Szenen und 3 Knechte).

Gleichnisse, Parabeln und Beispielerzählungen

In der Gleichnisforschung wird zwischen Gleichnissen im engeren Sinne und Parabeln unterschieden. Das Neue Testament macht diesen Unterschied nicht. Das Wort παραβολή/ parabole bedeutet Gleichnis, Parabel, Vergleich, Bildwort, Rätsel und Allegorie.

Gleichnisse im engeren Sinne erzählen den Adressaten vertraute Vorgänge und Erfahrungen, die üblicherweise gemacht werden. Indem Jesus die Gottesherrschaft mit dieser üblichen Welt und ihren Gesetzmäßigkeiten in Relation setzt, zielt er auf das innere Einverständnis der Hörer zu seiner Botschaft. Beispiel ist das Gleichnis vom viererlei Acker (Mk 4,3-9).

Die Parabeln dagegen interessieren sich für den besonderen Einzelfall. Der Hörer wird in der Erzählung plötzlich mit einer extravaganten Wendung im Geschehnisablauf konfrontiert, die ihn zwingt, sein bisheriges Weltverstehen in Frage zu stellen und sich einer neuen Sinnsetzung zu öffnen. Hier ist der Zusammenhang mit der Verkündigung Jesu besonders evident, die mit dem unerwarteten Nahwerden der Gottesherrschaft in der Alltagswelt rechnete. Beispiel ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32).

Häufig werden als dritte Gruppe von Gleichnissen die Beispielerzählungen benannt, die nur im lk Sondergut zu finden sind (Lk 10,30-35; 12,16-20; 16,19-31; 18,10-13). Die Besonderheit dieser Gleichnisse wird darin gesehen, dass jeweils eine Figur unmittelbar als positives oder negatives Exempel aufgebaut wird. Da dieser Eindruck aber vor allem durch den redaktionellen Rahmen des Evangelisten entsteht, werden die Beispielerzählungen in der neueren Forschung meist zu den Parabeln gezählt.

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