Die Seligpreisungen

Raphael Döhn

Kurzbeschreibung:
Die ersten Worte Jesu in der Bergpredigt des Matthäusevangeliums sind die so genannten Seligpreisungen (Mt 5,3-12). Jesus preist hier Menschen selig, die nach irdischen Maßstäben oft als im Leben „zu kurz Gekommene“ bezeichnet werden. In den Seligpreisungen, die eine Parallele in der lukanischen Feldrede haben (vgl. Lk 6,20-23), kommen diesen Menschen sowohl eschatologischer Trost als auch Aufforderungen zu einem bestimmten Verhalten im Leben zu.
Zusätzliche Autoreninformation: Raphael Döhn
Student der Universität Kassel
Kategorie:
Bibeltheologische Komm.
Bibelstellenbezug:
Mt 5,3-12
Letzte Aktualisierung:
25.05.2012

Inhaltsverzeichnis

 

1. Erster Leseeindruck


2. Synchrone Zugangsweise: Die Seligpreisungen des Matthäusevangeliums

2.1 Einordnung in den Kontext
2.2 Die Gattung „Seligpreisung“
2.3 Der Aufbau der Seligpreisungen
2.4 Strittige Begriffe in den Seligpreisungen

 

3. Diachrone Zugangsweise: Bergpredigt und Feldrede

 
4. Drei Forschungsthesen zum Sachverhalt

4.1 Der Forschungskontext – Eine prominente klassische These
4.2 Die gegenwärtig dominierende Auffassung
4.3 Neue Entwicklungen – eine sich abzeichnende Tendenz

 

5. Literaturverzeichnis


1. Erster Leseeindruck

Die paradoxe Gestalt der Seligpreisungen sticht schon beim ersten Lesen ins Auge. Jesus preist eben jene Menschen selig, die im 1. Jh. n. Chr. genauso wie im gesellschaftlichen Diskurs des 21. Jh. in der Regel nicht als erfolgreiche oder mit Glück gesegnete, sondern vielmehr als bemitleidenswerte oder einflusslose Menschen gesehen werden. Besonders die Wendungen „geistlich arm“ und „die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit“ können beim ersten Lesen verwirren und bedürfen einer Klärung.

2. Synchrone Zugangsweise: Die Seligpreisungen des Matthäusevangeliums

2.1 Einordnung in den Kontext

Oft wird darauf hingewiesen, das gesamte Matthäusevangelium sei für die christliche Lehre geschrieben und als eine Art „katechetisches [unterrichtendes/unterweisendes] Lehrbuch“ (Berner, 1983, 92) zu verstehen. In keinem anderen Evangelium tritt Jesus derart als Lehrer auf, der seine Lehre weitergegeben sehen will. Bezeichnend hierfür ist Mt 28,20: „[…] und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.“ Dies bezieht sich auch auf die Bergpredigt, die oft als eine Art Essenz des christlichen Glaubens bzw. „Summarum der Lehre Jesu“ (Wucherpfennig, 2009, 23) bezeichnet wird.

Bei den Seligpreisungen handelt es sich um den Auftakt der Bergpredigt im Matthäusevangelium. Die Bergpredigt erstreckt sich über die Kapitel 5-7 und ist somit die erste der fünf großen Reden Jesu im Matthäusevangelium (Mt 10, Mt 13, Mt 18 und Mt 23-25). Oftmals wird die Bergpredigt die wichtigste christliche Rede bzw. die „Rede der Reden“ (Wucherpfennig, 2009, 22) im Neuen Testament genannt. Die Position der Seligpreisungen am Anfang der Bergpredigt scheint nicht arbiträr zu sein, vielmehr bringen sie bereits zu Beginn der Bergpredigt „die eschatologische Motivierung der Ethik des [Matthäus-]Evangeliums in klarster Weise zur Geltung“ (Schmid, 1965, 78). Außerdem wurden Seligpreisungen auch in der griechischen und alttestamentlich-jüdischen Literatur oft als Einstieg in Texte benutzt (vgl. Betz, 1995, 105). Zu beachten ist, dass es sich bei der Bergpredigt nicht um das Protokoll einer Jesusrede, sondern vielmehr um eine Redekomposition handelt, die in mehreren Schritten und aus mehreren Quellen vom Endredaktor Matthäus zusammengestellt wurde (vgl. Luz, 1998, 1310).

2.2 Die Gattung „Seligpreisung“

Seligpreisungen werden auch Makarismen genannt (abgeleitet vom griechischen makários bzw. makárioi). Sie sind sowohl in griechischer als auch in alttestamentlich-jüdischer Literatur eine häufig auftretende Stilform. Makários bzw. makárioi, das Einleitungswort der Seligpreisungen, kann im Deutschen am besten mit selig, glücklich, heil oder wohl übersetzt werden. Seligpreisungen können mit einem Prädikat in der 2. oder 3. Person erscheinen, manchmal fehlt das Prädikat auch völlig (vgl. Strecker, 1984, 30ff).

In Seligpreisungen kommt es zu einer emphatischen Zusage von Heil bzw. Lebenserfüllung. Dieses Heil kann religiös, aber auch weltlich oder sogar materiell gemeint sein. Im konkreten Fall der matthäischen Seligpreisungen handelt es sich um eine eschatologische Heilszusage (vgl. Frenschkowski, 2004, 1184). Häufig wird durch einen Nachsatz eine Begründung für den Makarismus ausgedrückt, wie es auch in den matthäischen und lukanischen Seligpreisungen der Fall ist. Ein Beispiel ist: „[…] denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,3) (vgl. Luz, 2002, 272).

2.3 Der Aufbau der Seligpreisungen

Die Seligpreisungen in Mt 5,3-10 bestehen aus jeweils zwei Unterabschnitten. Die Protasis, der 1. Teil der Seligpreisung, beginnt jeweils mit dem Wort makárioi („selig“). Der darauf folgende Nachsatz, die Apodosis, wird mit hóti („denn“) eingeleitet und hat das Prädikat in der 3. Person Plural (vgl. Broer, 1986, 39f).

In Mt 5,3-10 lassen sich zwei Strophen à 4 Verse (v3-6 und v7-10) erkennen. Vers 3 und 10 enden mit dem gleichen Nachsatz: hóti auton estin he basileía ton ouranon („denn ihrer ist das Himmelreich“). Sie bestehen aus jeweils zwölf Worten und rahmen somit die zwei Strophen ein. Ihr Nachsatz ist jeweils im Präsens formuliert. In den Nachsätzen in v4-9 hingegen taucht jeweils ein Verb im Futur auf. In den Versen der ersten Strophe (v3-6) beginnen die selig Gepriesenen jeweils mit einem Pi: ptochoí, penthoúntes, praeís, peinontes (vgl. Luz, 2002, 269). Des Weiteren haben beide Strophen in etwa bzw. genau die gleiche Länge: Jeweils 36 Worte pro Strophe. Jedoch bestehen einige textkritische Unsicherheiten zur genauen Wortzahl (vgl. Wucherpfennig, 2009, 25; Luz, 2002, 269). In den letzen Versen einer jeden Strophe taucht das matthäische Schlüsselwort dikaiosýne („Gerechtigkeit“) auf (vgl. 5,6.10). Mt 5,11f wird in der Regel als die Seligpreisung gesehen, die die Reihe der Makarismen abschließt und mit 35 Worten mit Abstand die längste ist. Auch sie beginnt mit makárioi, ist jedoch in der 2. Person Plural formuliert und unterscheidet sich damit elementar von den übrigen Seligpreisungen. Oft wird sie als „Anwendung“ (Schmid, 1965, 75) von v10 oder als ausführliche Entfaltung des Themas der Seligpreisung in v10, also der Verfolgung, bestimmt (vgl. Grundmann, 1986, 119). Vers 12 wird zumeist nicht als eigenständige Seligpreisung, sondern als eine Art Anhang von v11 gesehen, da er nicht mit makárioi, sondern mit dem Aufruf chaírete kaí agalliásthe („Seid fröhlich und getrost“) beginnt (vgl. Luz, 2002, 269). Bisweilen wird er aber auch als Sonderform innerhalb der Makarismenreihe definiert (vgl. Betz, 1995, 110). Je nach Zählweise existieren 8 Seligpreisungen (mit v11f als Anhang) (vgl. Mayordomo, 2009, 14), 9 (mit v12 als Anhang) (vgl. Luz, 2002, 269; Grundmann, 1986, 119) oder 10 (v3-12 als jeweils ein Makarismus) (vgl. Betz, 1995, 110).

2.4 Strittige Begriffe in den Seligpreisungen

Im Folgenden werden Interpretationen und Einschätzungen zu einer Auswahl der umstrittensten (und m.E. wichtigsten) Begriffe innerhalb der Seligpreisungen wiedergegeben.

Die da geistlich arm sind“ (hoi ptochoí to pneúmati)

Der Terminus der „Armen im Geist“ (Luz, 2002, 278) gehört zu den umstrittensten Begriffen in der Bibelexegese. Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass der Dativ to pneúmati als Dativ der Beziehung und pneúma an dieser Stelle als menschlicher und nicht als göttlicher Geist zu verstehen ist (vgl. Luz, 2002, 277f; Grundmann, 1986, 121; Strecker, 1984, 33). Dieser Konsens schränkt die Masse unterschiedlicher Deutungen zumindest etwas ein.

Da Lukas im Gegensatz zu Matthäus nur von hoi ptochoí, also den Armen, spricht, ist zu fragen, was für eine Form von Armut bei Matthäus durch die Einfügung von to pneúmati beschrieben wird und inwiefern sich die matthäischen ptochoí von den lukanischen unterscheiden.

Eine Unterscheidung zwischen einer materiellen Armut bei Lukas und einer „Armut im Geist“, die völlig von äußeren Notlagen losgelöst ist, wie bei Matthäus, greift wohl zu kurz. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass zwischen den lukanischen Armen und den matthäischen „Armen im Geist“ größere Gemeinsamkeiten bestehen als man im ersten Moment annehmen mag. So kann sogar die These aufgestellt werden, dass arm und „arm im Geist“ im Grunde denselben Zustand meinen, da diese beiden Begriffe zur Zeit Jesu im Judentum häufig synonym verwendet wurden (vgl. Broer, 1986, 70f; Wiefel, 1998, 83). Demzufolge sollte die Einfügung von to pneúmati wahrscheinlich nicht den Sinn verändern, sondern nur vor einer einseitig materiellen Deutung bewahren. Daher sind Positionen, die bei den „Armen im Geist“ sowohl den Aspekt der materiellen Armut als auch den Aspekt einer demütigen Haltung vertreten sehen, durchaus berechtigt (vgl. Luz, 2002, 280; Schmid, 1965, 79). Die in Mt 5,3 Bezeichneten können dann als ihr Gemüt betreffend Verzweifelte gesehen werden. Sie stehen „als Bettler vor Gott“ (Luz, 2002, 278). Sie sind demütig gegenüber Gott und den Menschen und suchen Zuflucht bei Gott bzw. hoffen auf ihn. Hierbei wissen sie, dass sie das Himmelreich nur als Geschenk Gottes und nicht als „Verdienst“ für ihr Verhalten erhalten können (vgl. Gnilka, 1988, 250). Jedoch will Mt 5,3 auch darauf hinweisen, dass ein solcher Zustand der Demut bei Menschen oft von materieller Armut hervorgerufen wird bzw. mit ihr einhergeht. So sind jene, die bei Gott Zuflucht suchen eher unter den wirtschaftlich Armen als unter den wirtschaftlich Reichen zu finden (vgl. Broer, 1986, 74). Trotzdem werden bei Matthäus gerade nicht die wirtschaftlich Armen per se selig gepriesen. Vielmehr ist ihr physisches Elend als Grundlage für eine demütige, auf Gott hoffende, religiöse Haltung selig machend (vgl. Schmid, 1965, 78f).

Nur wenige Exegeten lösen die demütige Haltung völlig von der materiellen Armut. Ihre Position besagt, dass Matthäus bzw. die Verfasser der Seligpreisungen (zur Verfasserfrage vgl. „3. Diachrone Zugangsweise: Bergpredigt und Feldrede“ in diesem Kommentar) der Meinung gewesen sind, dass alle Menschen demütig vor Gott sein können, auch wenn sie über wirtschaftlichen Reichtum verfügen. Andererseits können auch Arme nach Besitz streben und hierüber ihre demütige Haltung verlieren (vgl. Fiedler, 2006, 110). Generell sind dann mit den „Armen im Geist“ jene gemeint, die alles weltliche und menschliche Wollen loslassen, um sich Gott zu öffnen (vgl. Wucherpfennig, 2009, 26).

Über keine der Seligpreisungen ist in der Forschung so viel geschrieben worden wie über die der „Armen im Geist“. Dies liegt an den sehr unterschiedlichen Verständnismöglichkeiten und ihrer hervorgehobenen Position als erste Seligpreisung in der Makarismenreihe. Zudem wird sie oftmals als wichtigste unter den Seligpreisungen gesehen, da das „Armsein im Geiste“ (Schmid, 1965, 50) erst die in den übrigen Seligpreisungen beschriebenen Tugenden hervorrufe bzw. sich alle übrigen Tugenden grob unter einem Oberbegriff, dem „Armsein im Geiste“, zusammenfassen ließen (vgl. Betz, 1995, 111; Betz, 1978, 18f).

Trotz der Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten, die in diesem Kommentar nur angerissen werden können, lässt sich eine allgemeine Schlussfolgerung ziehen. Die Seligpreisung der „Armen im Geist“ hat einen höchst paradoxen Charakter. Menschen, deren Leben von Demut, Hilflosigkeit, dem Hoffen auf Gott und je nach Interpretation auch materieller Armut geprägt ist, werden selig gepriesen, obschon oder sogar weil sie oftmals im irdischen Leben unterdrückt werden. Hieraus ergibt sich ein Zuspruch von Hoffnung, der im 1. Jh. n. Chr. genauso wie heute gerade denen gilt, die nach weltlichen Kategorien oft als „zu kurz Gekommene“ oder der Gnade Gottes Unwürdige gesehen wurden bzw. werden.

„Gerechtigkeit“ (dikaiosýne)

Der Begriff „Gerechtigkeit“ taucht bei Matthäus insgesamt 7-mal auf, davon 5-mal in der Bergpredigt und dabei 2-mal in den Seligpreisungen (vgl. 5,6.10). Hierbei muss nicht zwingend davon ausgegangen werden, dass „Gerechtigkeit“ bei Matthäus in jedem Zusammenhang exakt das Gleiche bedeutet (vgl. Broer, 1986, 90f).

So kann „Gerechtigkeit“ einerseits eine menschliche Haltung bzw. ein menschliches Tun beschreiben (vgl. Strecker, 1984, 38f), andererseits aber auch eine Gabe Gottes meinen, die dem Menschen zukommen kann (vgl. Luz, 2002, 283). Auch kann „Gerechtigkeit“ beides meinen, ein Tun und eine Gabe Gottes; in diesem Fall wird sie als „Gottes Bundesordnung als Gabe und Aufgabe“ (Luz, 2002, 283) verstanden.

In v6 kann „Gerechtigkeit“ als menschliches Tun und Gabe Gottes zugleich gemeint sein. Hungern und dürsten muss keineswegs ein passives Sehnen nach „Gottes Gerechtigkeit“ meinen, sondern kann als Tun verstanden werden (vgl. Luz, 2002, 284). Die eschatologische Verheißung der Sättigung kann jedoch nur von Gott her erfolgen. Insofern wäre „Gerechtigkeit“ hier auch als Gabe Gottes zu verstehen (vgl. Zeilinger, 2002, 43f).

In v10 hingegen ist kaum vorstellbar, dass Menschen wegen „Gerechtigkeit“ verfolgt werden, wenn „Gerechtigkeit“ eine Gabe Gottes meint. Hier dürfte es zumindest auch ein „gerechtes“ Verhalten der Menschen meinen, dass zu ihrer Verfolgung führt (vgl. Luz, 2002, 284).

Was aber ist gemeint, wenn Menschen sich an der „Gerechtigkeit“ orientieren sollen? Für Matthäus ist dies eine Aufforderung zu einem mit Gottes Willen übereinstimmenden Handeln. Diesen Willen offenbart Jesus im Matthäusevangelium u.a. im „doppelten Liebesgebot“ (Mt 22,37-40) und in der „Goldenen Regel“ (Mt 7,12) (vgl. Lührmann, 1984, 415). Eine weitere „Anleitung“ zu einem gerechten Verhalten ist in Mt 5,43-45 zu finden: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen […]. Denn er [Gott] lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ D.h. die „Gerechtigkeit“ der Bergpredigt und somit auch der Seligpreisungen meint ein Verhalten, in dem sich der Mensch an der unergründlichen und unerschöpflichen Liebe Gottes orientiert und muss daher über die pure Gesetzeserfüllung hinausgehen (vgl. Luz, 1998, 1311; Stuhlmacher, 1982, 287f).

Das „Himmelreich“ (he basileía ton ouranon)

Obschon die Verheißungen in v3 und v10 jeweils mit einem Prädikat des Präsens formuliert sind, ist das „Himmelreich“ bei Matthäus doch eindeutig als eschatologisches Heilsgut und nicht als Beschreibung eines in der Gegenwart erreichbaren „Ortes“ zu verstehen (vgl. Luz, 2002, 280f). Dies lässt sich z.B. deutlich an der Verwendung des Begriffes „Reich“ in Jesu Rede „Vom Weltgericht“ in Mt 25,31-34 erkennen: „Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!“.

Eine präsentische Dimension erhält das „Himmelreich“ durch den „vollmächtigen Zuspruch Jesu“ (Schweizer, 1986, 56) sowie den Umstand, dass die Menschen durch seine Verkündigung schon von dem „Himmelreich“ wissen (vgl. Betz, 1995, 119; Luz, 2002, 281).

Wichtig ist, dass „Himmelreich“ nicht einfach als ein einzelner Teil des Kosmos verstanden wird. Das „Himmelreich“ lässt sich nicht als ein bestimmter „Ort“ identifizieren, sondern ist vielmehr jenseits von Himmel und Erde bzw. nicht auf den Himmel als Gegenstück zur Erde beschränkt (vgl. Betz, 1995, 119; Luz, 2002, 281). Dies wird auch ausgedrückt, indem in den Nachsätzen in Mt 5,4-9 die „Gottesherrschaft in je neuen Bildern“ (Wiefel, 1998, 81) wie „das Erdreich besitzen“, „Gott schauen“ oder „Gottes Kinder heißen“ angekündigt werden (vgl. Luz, 2002, 280f). Es besteht somit kein Unterschied zum von Matthäus an anderen Stellen erwähnten „Reich Gottes“ (he basileía toú theoú) (vgl. Betz, 1995, 118f).

Von entscheidender Bedeutung für die Wirksamkeit dieser eschatologisch ausgerichteten Verheißung ist, dass sie von Jesus, der mit göttlicher Autorität spricht, verkündet wird (vgl. Luz, 2003, 46; Feldmeier, 1998, 33). Nur durch die Verkündigung durch den „Menschensohn-Weltrichter“ (Strecker, 1984, 35) gewinnt der Verweis auf das „Himmelreich“ Autorität.

 

3. Diachrone Zugangsweise: Bergpredigt und Feldrede

Die Forschung geht davon aus, dass drei Seligpreisungen direkt auf den historischen Jesus zurückgehen (Mt 5,3-4 und Mt 5,6). Diese drei lassen sich in ähnlicher Form auch in der Feldrede des Lukas finden (vgl. Lk 6,20-21). Jedoch seien ton ouranon („der Himmel“) (Mt 5,3), to pneúmati („im Geiste“) (Mt 5,3) und (hoi) dipsontes ten dikaiosýnen („die, die dürsten nach der Gerechtigkeit“) (Mt 5,6) später hinzugefügte Änderungen. Denn zum einen tauchen diese drei Wendungen in den Seligpreisungen des Lukas nicht auf. Zum anderen gelten die lukanischen Seligpreisungen als sprachlich näher an den Aussagen Jesu bzw. als ursprünglicher (vgl. Luz, 2002, 270ff; Wiefel, 1998, 80). Inwiefern die erwähnten Zusätze sowie Mt 5,5 und Mt 5,7-12 von Matthäus oder bereits vor ihm gebildet wurden, bleibt teilweise unklar. Da v11f in ähnlicher Form auch bei Lukas (Lk 6,22f) vorhanden ist, ist man sich jedoch weitgehend einig, dass diese zwei Verse in der Logienquelle Q stehen, jedoch vor ihrer Aufnahme in das Matthäusevangelium vermutlich von Matthäus selbst redaktionell bearbeitet wurden (vgl. Luz, 2002, 271; Fiedler, 2006, 115; Zeilinger, 2002, 36).

Folgende Umformungen sind wohl direkt auf Matthäus zurückzuführen: Die Abwandlung von he basileía toú theoú („das Reich Gottes“) (vgl. Lk 6,20) in he basileía ton ouranon („das Reich der Himmel“) (vgl. Mt 5,3), die Einfügung des matthäischen Schlüsselworts dikaiosýne („Gerechtigkeit“) sowie von (hoi) dipsontes („die, die dürsten“) in v6 und die Formulierung von v10. Vers 5 und v7-9 werden in der Forschung eher einer vormatthäischen Redaktion zugeordnet (vgl. Bergemann, 1993, 98; Luz, 2002, 271; Barth, 1980, 605). Die These, Lukas habe die Seligpreisungen in Mt 5,5 und Mt 5,7-9 in Q vorgefunden und ausgelassen, wird zumeist bestritten (vgl. Schmid, 1965, 75; Luz, 2002, 271). Die Ergänzung to pneúmati („im Geiste“) in v3 wird häufig Matthäus zugeschrieben (vgl. Schnackenburg, 1982, 164; Barth, 1980, 605; Broer, 1986, 53). Jedoch wird auch die Möglichkeit einer vormatthäischen Einfügung von to pneúmati in Erwägung gezogen (vgl. Bergemann, 1993, 85f; Strecker, 1984, 33; Luz, 2002, 270). Generell sind die Seligpreisungen in Mt 5,3-10 in der 3. Person Plural, in Mt 5,11f in der 2. Person Plural niedergeschrieben, wohingegen die lukanischen Seligpreisungen durchgängig in der 2. Person Plural formuliert wurden. Die Frage, ob Matthäus oder Lukas die ursprüngliche grammatikalische Person gewählt haben, ist nicht letztgültig zu beantworten (vgl. Broer, 1986, 32f; Wolter, 2008, 248). In der Regel wird in der Forschung jedoch die Position vertreten, die 2. Person sei ursprünglich gewesen. Hierauf weist u.a. die Tatsache hin, dass bei Matthäus v11f ebenfalls in der 2. Person Plural steht und die Verwendung der 2. Person auch in einer Seligpreisung der Armen im Thomasevangelium gewählt wurde (vgl. Schweizer, 1986, 45; Luz, 2002, 270; EvThom log 54).

 

4. Drei Forschungsthesen zum Sachverhalt

4.1 Der Forschungskontext – Eine prominente klassische These

Die Seligpreisungen als Anspruch

K.-W. Niebuhr meint in den Seligpreisungen der Bergpredigt eine „paränetische Tendenz“ (Niebuhr, 2008, 279) zu erkennen, d.h. er sieht sie primär als Mahnrede, welche den rechten Weg weisen und zu einer bestimmten Haltung bzw. einem bestimmten Verhalten anleiten soll. Hierbei sieht er die Seligpreisungen eng mit den Worten vom Salz und vom Licht (Mt 5,13-16) und den Antithesen (Mt 5,21-48) verknüpft. Die Seligpreisungen seien von diesen Aufforderungen zu guten Werken nicht zu trennen und daher ginge es auch bei den Seligpreisungen darum, „die rechte Haltung und das rechte Verhalten der Angesprochenen“ (Niebuhr, 2008, 279) hervorzurufen.

4.2 Die gegenwärtig dominierende Auffassung

Die Seligpreisungen als Zuspruch des Himmelreichs

Broer wendet sich gegen „eine einheitlich ethische Interpretation“ (Broer, 1986, 96) der Seligpreisungen. Er sieht vor allem in den Seligpreisungen in Mt 5,3-6 sowie Mt 5,10-12 einen reinen Zuspruch von Heil für diejenigen, die sich in einer misslichen Lage befinden. Hierbei betont er das Moment des passiven Leidens in v3-6 sowie v10-12. Entgegen Broers Ansicht muss v6 jedoch nicht unbedingt passiven Charakter haben (vgl. „2.4 Strittige Begriffe in den Seligpreisungen/Gerechtigkeit“ in diesem Kommentar).

Trotz des Aufforderungscharakters, den Broer in v7-9 durchaus gegeben sieht, überwiegt für ihn der parakletische, also ermutigende Charakter der Seligpreisungen. Er weist der gesamten Gattung „Makarismus“ primär einen ermutigenden und höchstens sekundär einen mahnenden Charakter zu (vgl. Broer, 1986, 42ff, 96ff).

4.3 Neue Entwicklungen – eine sich abzeichnende Tendenz

Die Seligpreisungen als Miteinander von Anspruch und Zuspruch

Auch wenn Niebuhr das Moment des Zuspruchs und Broer jenes des Anspruchs nicht völlig verneinen, setzen sie doch eindeutige Schwerpunkte in ihrem Verständnis der Seligpreisungen. G. Strecker hingegen betont, dass in den Seligpreisungen „Gesetz und Evangelium in eins gesetzt“ (Strecker, 1984, 35) sind. Somit seien sowohl das fordernde als auch das tröstende Element der Seligpreisungen nicht nur gleichberechtigt, sondern gingen ineinander über: „[D]ie eschatologisch-ethische Forderung Jesu hat den Charakter des evangelischen Zuspruchs und das Evangelium, die befreiende und tröstende Zuwendung Gottes an die Menschen, begegnet als lehrende und fordernde Botschaft Jesu“ (Strecker, 1984, 35).

Literaturverzeichnis

Kommentare

Betz, H.-D., 1995, The Sermon on the Mount. A Commentary on the Sermon on the Mount, including the Sermon on the Plain (Matthew 5:3-7:27 and Luke 6:20-49), Minneapolis

Bovon, F., 1989, Das Evangelium nach Lukas (EKK III/1), Zürich

Fiedler, P., 2006, Das Matthäusevangelium (ThKNT 1), Stuttgart

Gnilka, J., 21988, Das Matthäusevangelium (HThK I/1), Freiburg

Grundmann, W., 61986, Das Evangelium nach Matthäus (ThHK 1), Berlin

Luz, U., 52002, Das Evangelium nach Matthäus (EKK I/1), Zürich

Schmid, J., 51965, Das Evangelium nach Matthäus (RNT 1), Regensburg

Schweizer, E., 41986, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 2), Göttingen

Strecker, G., 1984, Die Bergpredigt. Ein exegetischer Kommentar, Göttingen

Wiefel, W., 1998, Das Evangelium nach Matthäus (ThHK 1), Berlin

Wolter, M., 2008, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen

Zeilinger, F., 2002, Zwischen Himmel und Erde. Ein Kommentar zur „Bergpredigt“ Matthäus 5-7, Stuttgart

Monographien

Bergemann, T., 1993, Q auf dem Prüfstand. Die Zuordnung des Mt/Lk Stoffes zu Q am Beispiel der Bergpredigt, Göttingen

Berner, U., 21983, Die Bergpredigt. Rezeption und Auslegung im 20. Jahrhundert, Göttingen

Broer, I., 1986, Die Seligpreisungen der Bergpredigt. Studien zu ihrer Überlieferung und Interpretation (BBB 61), Bonn

Sammelbandeinträge

Feldmeier, R., 1998, Verpflichtende Gnade. Die Bergpredigt im Kontext des ersten Evangeliums, in: Ders. (Hg.), Salz der Erde. Zugänge zur Bergpredigt, Göttingen

Niebuhr, K.-W., 2008, Die Seligpreisungen in der Bergpredigt nach Matthäus und im Brief des Jakobus. Zugänge zum Menschenbild Jesu?, in: P. Lampe/ M. Mayordomo/ M. Sato (Hg.), Neutestamentliche Exegese im Dialog. Hermeneutik - Wirkungsgeschichte - Matthäusevangelium. Festschrift für Ulrich Luz zum 70. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn, 275-296

Zeitschriftenartikel

Betz, H.-D., 1978, Die Makarismen der Bergpredigt (Matthäus 5, 3-12). Beobachtungen zur literarischen Form und theologischen Bedeutung, in: ZThK 75, 3-19

Luz, U., 2003, Die Bergpredigt - politisches Programm oder lebensferne Utopie?, in: ZNT 6, 43-47

Mayordomo, M., 2009, Gewaltvermeidung in der Bergpredigt, in: ZNT 12, 12-21

Schnackenburg, R., 1982, Die Seligpreisung der Friedensstifter (Mt 5,9) im matthäischen Kontext, in: BZ 26, 161-178

Stuhlmacher, P., 1982, Jesu vollkommenes Gesetz der Freiheit. Zum Verständnis der Bergpredigt, in: ZThK 79, 283-322

Wucherpfennig, A., 2009, Die Bergpredigt: Elementarunterricht des Gottessohnes, in: ZNT 12, 22-31

Lexikonartikel

Barth, G., 1980, Art. Bergpredigt I. Im Neuen Testament, in: TRE V, 603-618

Frenschkowski, M., 2004, Art. Seligpreisungen, in: RGG 7, 1184-1186

Lührmann, D., 1984, Art. Gerechtigkeit III. Neues Testament, in: TRE XII, 414-420

Luz, U., 1998, Art. Bergpredigt I. Neues Testament, in: RGG 1, 1309-1311

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