Die Essener

Im Falle der Essener hängt die historische und theologische Einordnung und Beschreibung der Gruppierung weitgehend davon ab, wie man das Verhältnis zwischen ihr und den Schriftrollen von Qumran beurteilt. Der über Jahrzehnte weithin bestehende Konsens, in den Bewohnern von Qumran Essener zu sehen und die in den Höhlen gefundenen Schriften als Dokumente essenischer Theologie zu betrachten, ist in letzter Zeit sowohl aus archäologischen als auch aus inhaltlich-theologischen Gründen von einer Reihe von Wissenschaftlern in Frage gestellt worden. Die kritischen Anfragen zwingen zu einer differenzierteren Sicht, doch wird man grundsätzlich daran festhalten können, dass die Bewohner von Qumran eine Gruppe innerhalb der essenischen Bewegung waren.

Die antiken Berichte über die Essener finden wir bei Flavius Josephus (Bell. 2,119-166; Ant. 13, 171-173; 15,371f.; 18, 11-25), Plinius d.Ä. (Naturalis historia 5,73) und Philo von Alexandrien (prob 72-91). Bei der Beurteilung dieser Berichte ist zu beachten, dass wohl keiner der drei Autoren aus eigener Anschauung schreibt. Insbesondere Josephus bemüht sich zudem, die Anschauungen der Essener für seine nichtjüdischen Leser im Sinne einer interpretatio graeca verständlich zu machen. Gerade wenn man dies berücksichtigt, sind die Parallelen zwischen den antiken Berichten und dem aus den Schriftrollen gewonnenen Bild erstaunlich.

Auch bei der Auswertung der Schriftrollen aus den Höhlen von Qumran hat sich eine differenzierte Lektüre durchgesetzt. Nicht alles, was gefunden worden ist, kann einfach unbesehen für die Theologie und Lebensweise der (Qumran-)Essener in Anspruch genommen werden. Offenbar wurden auch Texte aufbewahrt, die zwar von Interesse waren, aber nicht Ausdruck der theologischen Überzeugungen der (Ab)Schreiber. Trotzdem ist es möglich, unter Einbeziehung der Texte aus den Höhlen ein Bild von der Geschichte und Theologie der Essener zu zeichnen.

Für die Bezeichnung der einzelnen Schriften, die in den Höhlen um Qumran gefunden wurden, hat sich eine Nomenklatur durchgesetzt, die zuerst die Höhlennummer nennt (z.B. 1Q) und dann ein Kürzel für die Schrift (z.B. "S" für Sektenregel) oder eine laufende Nummer anfügt. Sind mehrere Fragmente derselben Schrift in einer Höhle gefunden worden, dienen hochgestellte Kleinbuchstaben zur Unterscheidung (z.B. 1Q Jesa).

Der Name "Essener" ist nach der wahrscheinlichsten Etymologie vom aramäischen (חזן/ ḥāzên) abzuleiten, das "rein, heilig" bedeutet. Nach der in Qumran gefundenen Gemeinderegel (1QS) bezeichnete sich die dortige Gruppe selbst als "Einung" (יחד/ jāḥad).

Die Geschichte der Essener ist für uns nur in großen Zügen erkennbar. Der Name der Gruppe weist in das Umfeld der im Zusammenhang mit den Pharisäern erwähnten "Synagoge der Chassidim (Frommen)". Sie wäre dann wie diese im Zuge der Opposition gegen die Hellenisierungstendenzen des frühen 2. Jh. v.Chr. entstanden. Allerdings scheint diese ursprüngliche Nähe später in erbitterte Feindschaft umgeschlagen zu sein, da die Pharisäer in den Qumranschriften als "diejenigen, die ‚glatte’ Anweisungen geben" erscheinen (4Qp 169 u.ö.). Offenbar galt den Essenern ihre Torapraxis als zu wenig konsequent.

Für die Erhellung der weiteren Geschichte der Essener ist ein in Qumran entdecktes (Brief?)Fragment (4Q MMT) von entscheidender Wichtigkeit. Der in mehreren Abschriften überlieferte Text geht vielleicht direkt auf den Lehrer der Gerechtigkeit – die herausragende Führergestalt der Frühzeit der Essener – zurück und ist um 150 v.Chr. an den Hasmonäer Jonatan (161-143) gerichtet worden, der neben der politischen Führung auch das Hohepriesteramt für sich in Anspruch nahm. Der Brief listet über 20 Vorschriften der Tora auf, gegen die die im Tempel übliche Praxis nach Ansicht des Lehrers der Gerechtigkeit verstieß. Außerdem bietet er eine Liste von Sabbatterminen, die auf dem von den Essenern vertretenen Sonnenkalender basieren, während am Tempel ein Mondkalender verwendet wurde. Das Schreiben gipfelt in der Forderung an Jonatan, auf das Amt des Hohenpriesters zu verzichten. Er war nach Meinung des Lehrers der Gerechtigkeit illegal zu dieser Würde gekommen, da er nicht dem Geschlecht der Zadokiden entstammte. Die Essener hielten dagegen am Anspruch der Zadokiden auf das Amt des Hohenpriesters fest.

Die Reaktion des Hasmonäers scheint eine gewaltsame Aktion gegen den Lehrer der Gerechtigkeit gewesen zu sein (vgl. 1QpHab VIIIf). Damit war der Bruch auf kultischem Gebiet endgültig, denn die Essener sahen den gesamten Jerusalemer Kult als illegitim an. Politisch scheint der Dissens allerdings nicht so groß gewesen zu sein. Zumindest ist ein anlässlich des Sieges über Demetrios III. verfasstes Glückwunschschreiben an Alexander Jannai (103–76; 4Q 448) überliefert.

Die Siedlung in Qumran ist offenbar im Gefolge des endgültigen Zerwürfnisses mit dem Tempel entstanden. Hier befand sich ein, wenn nicht das, Zentrum der Essener, die die Wüste als den Ort ansahen, dem Herrn den Weg zu bereiten (Jes 40,3). Essener aber gab es nach übereinstimmender Auskunft von Flavius Josephus und der Damaskusschrift (CD) in ganz Israel. Josephus und Philo beziffern ihre Zahl mit 4000.

Das Zentrum in Qumran wurde im Jahre 68 von den Römern zerstört, nachdem es den Bewohnern noch gelungen war, die wertvollen Handschriften zu verbergen. Die Essener aber wurden im Jüdischen Krieg nicht vollständig vernichtet. Nachklänge ihrer Theologie finden sich im rabbinischen Judentum, z.B. das ausgeprägte Interesse am Tempel.

Das Ziel der Essener war ein Leben gemäß der Weisung (Tora) Gottes, deren Studium nach Auskunft der Gemeinderegel der Nächte gewidmet waren. Im Unterschied zu den Pharisäern legten sie die Tora aber äußerst rigoros aus. Die für die Priester am Tempel geltenden Regeln wurden z.T. sogar noch verschärft, um die Heiligkeit der Endzeitgemeinde (das wahre Israel), die als einzige gerettet werden wird, zu erhalten (vgl. neben 1QS vor allem die Tempelrolle 11QT). Der Lebenswandel in Heiligkeit wird zudem als Sühnung der Übertretung der Tora verstanden. Verstöße gegen die entsprechenden Regeln sind mit drakonischen Strafen belegt.

Die rigorose Auslegung der Reinheitsgebote führte auch dazu, dass Frauen bei den Essenern eine ganz untergeordnete Rolle spielten. Zumindest ein Teil der essenischen Bewegung scheint sie ganz aus ihren Reihen verbannt zu haben. Da Frauen potentiell als kultisch unrein galten, wurden sie nach Darstellung der Qumrantexte zumindest von den gemeinsamen Mahlfeiern ausgeschlossen. Diese Mahlfeiern verstanden die Essener als Vorwegnahme des großen Freudenmahles am Ende der Zeit.

Die mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Essener selbst zurückgehenden Schriften sind häufig von einem scharfen Dualismus geprägt. So fordert die Gemeinderegel die "Söhne des Lichts" auf, die "Söhne der Finsternis" zu hassen. Für die unmittelbar bevorstehende Endzeit rechnen die Essener mit einem Kampf zwischen beiden (vgl. die so genannte Kriegsrolle 1QM). Diese dualistische Weltsicht spiegelt sich auch in der Anthropologie wider, die den Menschen entweder vom Geist der Wahrheit oder vom Geist des Frevels beherrscht sieht. Dem entspricht die Lehre, dass Gott das Geschick der Menschen schon vor der Schöpfung festgelegt habe. Hier lässt sich der Einfluß apokalytischen Denkens unmittelbar greifen.

Die Essener waren streng hierarchisch organisiert. An ihrer Spitze stand laut Gemeinderegel ein Leitungsgremium aus 12 Laien und drei Priestern. Oberstes Entscheidungsgremium scheint aber die "Ratsversammlung der Vielen" gewesen zu sein. Die Aufnahme in die Gemeinschaft war durch eine mehrjährige Prozedur geregelt. Die Mitglieder brachten dabei ihren Besitz in die Gemeinschaft ein. Vermutlich wurde das als Rückgabe des Eigentums an Gott verstanden.

Literatur

E. Lohse (Hrsg.), Die Texte aus Qumran hebräisch-deutsch, 4. Aufl., Darmstadt 1986.

J. Maier (Hrsg.), Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer. Band I: Die Texte der Höhlen 1-3 und 5-11, UTB 1862, München/ Basel 1995; Band II: Die Texte der Höhle 4, UTB 1863, München/ Basel 1995; Band III: Einführung und Register, UTB 1916, München/ Basel 1996.

P.R. Davies, G.J. Brooke, P.R. Callaway, Qumran. Die Schriftrollen vom Toten Meer, Stuttgart 2002
H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch, Freiburg 91999.

A. Stendel, Die Texte aus Qumran II. Hebräisch/Aramäisch und Deutsch, Darmstadt 2001.

A. Lange, Art . Qumran, RGG4 4, 1873-1896.

H. Lichtenberger, Art. Essener/Therapeuten, RGG4 2, 1590-1592.

J. C. VanderKam, Einführung in die Qumranforschung, UTB 1998, Göttingen 1998.

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