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Kirche im Neuen Testament

Die Schriften des Neuen Testaments bieten eine Fülle von ekklesiologischen Modellen. Dabei muss beachtet werden, dass alle diese verschiedenen Entwürfe aus konkreten geschichtlichen Situationen entstanden und auf diese bezogen sind. Dieser Umstand warnt davor, das Neue Testament einfach als Steinbruch für die aktuelle Diskussion um die Identität der Kirche zu benutzen. Vielmehr muss gefragt werden, inwieweit Probleme, auf die die Autoren des Neuen Testaments mit ihren Modellen reagierten, auch heute akut sind.

Jesus und die Kirche

„Jesus kündigte die Königsherrschaft [Gottes] an, und was kam, war die Kirche.“ Dieser Satz des katholischen Modernisten A. Loisy wird in beinahe jeder Untersuchung zur neutestamentlichen Ekklesiologie zitiert – oft mit der Absicht, die eschatologische Verkündigung Jesu und die Institution Kirche einander kritisch gegenüberzustellen. Daran ist sicher richtig, dass Jesus keine Kirche gründen wollte. Allerdings gehören in seiner Verkündigung Königsherrschaft Gottes und Volk Gottes unmittelbar zusammen. Ihm ging es um die eschatologische Neuschöpfung des Volkes Gottes, d. h. er begann die endzeitliche Heilsgemeinde zu sammeln (vgl. das Themenkapitel zur Verkündigung Jesu). Kern dieser Heilsgemeinde waren die Jünger, die sein Wanderleben teilten. Ihr Leben im Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft bildete zugleich einen unübersehbaren Kontrast zu der gesellschaftlichen Umwelt, in der sie lebten.

Das Selbstverständnis der frühesten Gemeinden

Diese Impulse wirkten nach dem Ostergeschehen weiter und bestimmten die Identität der frühesten Gemeinden wesentlich mit. Der entscheidende Anstoß aber war die Erfahrung der Gegenwart des Geistes Gottes. Sie vermittelte die Gewissheit, dass mit der Auferweckung Jesu von den Toten die Endzeit angebrochen sei. Aufgrund dessen verstand sich die Jerusalemer „Urgemeinde“ jetzt ihrerseits als eschatologische Heilsgemeinde, deren Aufgabe es sei, die Sammlung des erneuerten Gottesvolkes fortzusetzen. Die Taufe auf den Namen Jesu Christi ist der Akt der Eingliederung in diese Gemeinschaft. Dieses Selbstverständnis hat in der Pfingsterzählung der Apg (2,1-41) seinen Niederschlag gefunden.

Auch die Selbstbezeichnung „Gemeinde (Gottes)“ (ἐκκλησία [τοῦθεοῦ]/ekklēsia [toū theoū]) geht auf dieses Selbstverständnis zurück. Im Bereich der hellenistischen Poleis bedeutet ἐκκλησία die Volksversammlung der freien Männer. Die Septuaginta dagegen verwendet den Begriff vielfach, um das hebräische ((יהוה) קהל/qehal (jhwh) (Volksgemeinde Gottes) wiederzugeben. Die frühen Christen knüpften also bewusst an die alttestamentliche Bezeichnung des Volkes Gottes an und führten sie weiter (so ausdrücklich Hebr 2,12).

Ekklesiologie bei Paulus

Bei Paulus finden sich Überlegungen zum Wesen der Kirche vor allem im 1Kor. Dabei verknüpft er Christologie und Ekklesiologie aufs engste miteinander. Die Christen werden in der Taufe durch den Geist alle in einen einzigen Leib aufgenommen, der der „Leib Christi“ ist (1Kor 12,13.27). Die Einheit dieses Leibes wird in dem gegenseitigen Miteinander und Füreinander der Glieder sichtbar. Sie gipfelt darin, dass die sozialen Unterschiede in ihm keine Rolle spielen (1Kor 12,13; vgl. Gal 3,28).

Die Leib-Metaphorik wird im Kol und Eph wieder aufgenommen. Dort ist Christus das Haupt des Leibes, der von ihm her gebildet wird und auf ihn hin wächst (Kol 2,19; vgl. Eph 1,22f.; 4,16).

Eine weitere Grundmetapher des paulinischen Kirchenverständnisses ist die der Gemeinde als eines Bauwerks (1Kor 3). Auch hier ist der christologische Bezug eindeutig, denn es geht Paulus zunächst vor allem um das Fundament, auf dem das Bauwerk errichtet wird – Christus. Erst in zweiter Linie spielt die Festigkeit des Gebäudes eine Rolle. In diesem Zusammenhang begegnet dann auch die Rede von der Gemeinde als dem „Tempel Gottes“ (1Kor 3,16f.), mit der Paulus einschärft, dass das Gemeinde–Sein Konsequenzen für das Verhalten haben muss (vgl. 1Kor 6,19). Auch diese Metapher ist im Eph aufgenommen und weiterentwickelt worden.

Mehrfach reflektiert Paulus über das Verhältnis zwischen Israel und der Kirche. Er sieht beide unmittelbar aufeinander bezogen. Deshalb kann er in 1Kor 10,1 die Wüstengeneration als „unsere Väter“ bezeichnen. Den Höhepunkt seiner Darlegungen zu diesem Thema stellt zweifelsohne Röm 9-11 dar. Hier findet sich mit Röm 9,25 auch die einzige Stelle, an der Paulus die Kirche zumindest implizit als „Volk Gottes“ bezeichnet. Er sieht die Kirche aus den Heiden als Zweig, der auf den Ölbaum Israel von Gott aufgepfropft worden ist (Röm 11,13-24).

Ekklesiologie in der dritten frühchristlichen Generation

Die existentiellen Fragen der dritten frühchristlichen Generation schlagen sich in dem breiten Raum nieder, den implizite und explizite ekklesiologische Überlegungen in den ihr zuzurechnenden Schriften des Neuen Testaments einnehmen. Dabei haben die Fragen nach der Bewahrung der Identität der Kirche in der weitergehenden Geschichte und nach dem Verhältnis zu ihrer Umwelt zu ganz unterschiedlichen Antworten geführt, von denen hier nur einige exemplarisch genannt werden können.

So versteht das Mt die Kirche als Jüngergemeinschaft, die im Gehorsam die Lehre Jesu lebt (Mt 28,18-20) und damit das neue Volk Gottes darstellt. Eine gewisse Parallele bietet das Joh, in dem die Erinnerung an die Worte des Herrn ebenfalls entscheidend für das Wesen der Gemeinde ist (vgl. Joh 14,26; 16,12f.). Sie ist als Gemeinschaft von Freunden verstanden (Joh 15,12-17), die allein in der geistvermittelten Bindung an Christus existieren kann (Joh 15,5).

In der paulinischen Tradition sind vor allem der Eph (s.o.) und die Pastoralbriefe wichtig. Hier wird die Kirche als „Hauswesen Gottes“ begriffen (1Tim 3,15), das bestimmter Ordnungen bedarf, um zu funktionieren. Die Amtsträger sind mit der Verwaltung der „wahren Lehre“, d. h. des Wortes Gottes beauftragt (2Tim 2,15 u. ö.), um den allen Menschen geltenden Heilswillen Gottes zur Geltung zu bringen (1Tim 2,4ff.). Dabei besteht die Tendenz, in der Umwelt geltende Denkweisen auch auf die Kirche zu übertragen.

Eine extrem konträre Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zur nichtchristlichen Umwelt gibt die Apk, die im Unterschied zu Lukas nicht damit rechnet, dass ein friedliches Miteinander möglich sein könnte. Vielmehr sieht der Seher Johannes die Kirche als Opfer der Widersacher Christi, deren Verfolgung sie leidend ertragen muss und deren Ende in der letzten Schlacht sie herbeisehnt.

Im Blick auf das Verhältnis zu Israel beginnt sich die Tendenz durchzusetzen, die Kirche als einzige legitime Besitzerin des von Israel fälschlich okkupierten Heils darzustellen. Matthäus sagt ausdrücklich, dass Israel das Reich Gottes weggenommen wird (Mt 21,43). Jetzt ist die Kirche das zum Gehorsam berufene Volk Gottes. Im Joh verwerfen „die Juden“ das Heil und sind Söhne des Teufels (8,44).

Vielfach wird das Verhältnis zu Israel gar nicht mehr reflektiert, sondern die im Alten Testament Israel geltenden Heilsprädikate werden einfach auf die Kirche übertragen (vgl. z. B. 1Petr 2,9f.). Hier ist ein Defizit entstanden, das im christlichen Antijudaismus eine fatale Wirkungsgeschichte hatte.

Literatur

K. Berger, Art. Kirche II. Neues Testament, TRE 18, 201-218.

Chr. Grappe, Art. Kirche III. Urchristentum, RGG4 4, 1000-1004.

K. Kertelge, Art. Kirche I. Neues Testament, LThK3 5, 1453-1458.

J. Roloff, Art. Kirche im Neuen Testament, EKL3 2, 1053-1057.

ders., Die Kirche im Neuen Testament, GNT 10, Göttingen 1993.

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Die Texte auf dieser Seite sind mit freundlicher Genehmigung übernommen aus:

Cover der Bibelkundes des Neuen Testaments von Klaus-Michael Bull

Bull, Klaus-Michael: Bibelkunde des Neuen Testaments. Die kanonischen Schriften und die Apostolischen Väter. Überblicke – Themakapitel – Glossar, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 8. Aufl. 2018.

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