Entwicklung des Urchristentums
Das "Apostelkonzil"
Zur Lösung des Konflikts haben sich ca. 48/49 Barnabas und Paulus, die führenden Leute der Heidenmission, mit dem unbeschnittenen Heidenchristen Titus nach Jerusalem begeben. Diese Zusammenkunft mit den Köpfen der Urgemeinde wird meist als "Apostelkonzil" bezeichnet. Über den Verlauf und die Ergebnisse liegen uns die Berichte in Apg 15 und Gal 2 vor, die sich in wesentlichen Punkten widersprechen und beide von einem parteilichen Standpunkt aus geschrieben worden sind. Die weiteren Ereignisse der Geschichte des Urchristentums sprechen dafür, dem Bericht des Paulus in wesentlichen Punkten zu folgen. Danach wurde per Handschlag festgelegt, dass die Jerusalemer Autoritäten, namentlich Petrus, ihre Aufgabe unter den Juden sahen, während die Antiochener, namentlich Paulus, zur Heidenmission berufen seien. Den Heidenchristen wurden keine Auflagen erteilt außer der, "der Armen zu gedenken" (Gal 2,10), d.h., eine Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde zu sammeln.
Offensichtlich war der Konflikt durch diese Vereinbarung nicht entschärft worden. Einige interpretierten sie als Festlegung, dass für Judenchristen die Tora mit ihren Reinheitsgeboten sehr wohl verbindlich sei. Der sogenannte "antiochenische Zwischenfall" (Gal 2,11-21) demonstriert den dadurch aufbrechenden Konflikt – das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen wurde unmöglich.
Wahrscheinlich überliefert Lukas in Apg 15,23-29 als angebliches Ergebnis des Apostelkonzils den später erzielten Kompromiß (das "Aposteldekret"). Den Heidenchristen werden die aus Lev 17f. übernommenen Minimalforderungen abverlangt, die Judenchristen die Tischgemeinschaft mit ihnen ermöglichen. Für Paulus war damit allerdings das Wesen seines gesetzesfreien Evangeliums in Frage gestellt. Da er sich in Antiochia nicht durchsetzen konnte, bricht er jetzt zur selbständigen Mission auf.
Die paulinische Mission
Der Weg der paulinischen Mission lässt sich nur durch eine Kombination aus den Erzählungen der Apostelgeschichte und gelegentlichen Bemerkungen des Apostels in seinen Briefen rekonstruieren. Dabei stellt sich heraus, dass die lukanische Einteilung in zwei Missionsreisen literarische Fiktion ist, die der Abwertung der Missionstätigkeit des Apollos dient (Apg 19,1-7; vgl. 18,24f.).
Paulus konzentriert sich bei seiner Mission auf die Großstädte und Provinzzentren. Dort wirkt er solange, bis die entstandene Gemeinde selbständig existieren kann. Zeitweise hält er sich länger an einem Ort auf, benutzt ihn gleichsam als Stützpunkt (Korinth, Ephesus). Auf diese Weise entsteht schnell ein Netzwerk von Gemeinden, die nun ihrerseits in die Umgebung wirken können. Den Kontakt zu den Gemeinden hält Paulus durch Briefe und seine Mitarbeiter. Auch die Gemeinden selbst schicken Boten zu Paulus, die dann teilweise länger bei ihm bleiben und ihn unterstützen.
Innerhalb der Gemeinden bildet sich eine "Ämter"struktur – Apostel, Propheten, Lehrer (1Kor 12,28) bzw. Bischöfe und Diakone (Phil 1,1) -, die charismatisch bestimmt ist. Der Geist befähigt einzelne Gemeindeglieder dazu, diese Aufgaben zu übernehmen. Bei der konkreten Gestaltung der "Ämter" spielen auch Vorbilder aus der städtischen Umwelt der Gemeinden eine Rolle.
Die Entwicklung nach dem Tod des Paulus
Über die Entwicklung nach der Hinrichtung des Paulus in Rom (ca. 60) wissen wir wenig. In Jerusalem steigt der Druck national und zelotisch gesinnter Kreise auf die Urgemeinde. Im Jahr 62 wird Jakobus, der Herrenbruder, gesteinigt. Euseb berichtet in seiner Kirchengeschichte, dass die Gemeinde bei Ausbruch des Jüdischen Krieges nach Pella in das Ostjordanland geflohen sei. Die Zuverlässigkeit dieser Nachricht wird aber von vielen Forschern bezweifelt.
Die christlichen Quellen aus der Zeit zwischen ca. 70 und 130 zeigen das Bild eines theologisch bunten Christentums, das sich vor allem in Kleinasien, Syrien und Griechenland weiter ausbreitet. Mittelitalien und Ägypten werden zu neuen Zentren.
Einige Schriften des NT lassen das Entstehen von theologischen "Schulen" erkennen. So hatte die Paulusschule ihren Sitz wohl in Ephesus. Die johanneischen Gemeinden bilden eine eigene Entwicklungslinie, die geographisch wohl ebenfalls in der Provinz Asia zu suchen ist. Mk und Mt weisen nach Syrien, das sich zum Zentrum eines von judenchristlichen Traditionen geprägten Christentums entwickelt.
De facto ist die Kirche in dieser Zeit bereits heidenchristlich bestimmt. Der Streit um die Verbindlichkeit der Tora spielt keine akute Rolle mehr. Gleichzeitig fällt auf, dass in den Schriften dieser Zeit auf breiter Front (insbesondere paränetische) Traditionen des hellenistischen Judentums übernommen werden. Das reicht bis in die Verfassungen der Gemeinden, wo sich jetzt auch in den paulinischen Gemeinden die Leitung durch ein Presbyterium (die "Ältesten") durchsetzt. Frauen werden zunehmend in den Hintergrund gedrängt.
Die Gemeinden sehen sich vor allem durch die Aufgabe herausgefordert, nach innen und außen ihre Identität zu bestimmen. Diese Herausforderung war umso größer als immer deutlicher wurde, dass sich die Christen auf eine längere Existenz in der Welt einrichten mussten. Die Schriften der dritten urchristlichen Generation sind bemüht, das als verbindlich angesehene Erbe der Väter zu bewahren und in dieser neuen Situation authentisch zur Sprache zu bringen. Dabei machte man die Erfahrung, dass die Interpretation dieses Erbes durchaus umstritten war. Erstmals brach die Frage nach Rechtgläubigkeit und Häresie auf, wobei die Kriterien durchaus nicht feststanden und erst im Prozess der Auseinandersetzung erarbeitet werden mussten. Dabei gab es Auseinandersetzungen sowohl innerhalb einzelner Gemeindeverbände und Schulen (Deuteropaulinen, 1Joh) als auch zwischen denselben (Jak).