Hiob - Das Gedicht der Nelly Sachs und das Buch im Alten Testament. Ein intertextueller Vergleich
Elke Lahmann
- Kurzbeschreibung:
- Der fromme, leidende, anklagende Hiob aus dem AT wird im Folgenden dem Hiob der Nelly Sachs in ihrem Gedicht „Hiob“ vergleichend gegenübergestellt. Die Untersuchung erfolgt methodisch rein textimmanent von Sachs’ Gedicht ausgehend. Es werden die Verbindungen zwischen den beiden Texten aufgezeigt und gedeutet (Zu Sachs’ Lyrik s. z.B. Dischner, 1969; Lagercrantz, 1967; Keller-Stocker, 1973; Sager, 1970).
- Zusätzliche Autoreninformation: Elke Lahmann
- Studentin, Universität Kassel
- Kategorie:
- Zur Rezeptionsgeschichte
- Schulform:
- Realschule Gymnasium
- Bibelstellenbezug:
- Hiob 1,1-42,17
- Weitere Schlagworte:
- Erkenntnis; Frage nach Gott; Gottesbegegnung; Gottesbild; Gottverlassenheit; Himmel; Ijob; Hiob; Leid; Leiden; Schuld; Sternzeichen; Streit; stumm; Suche; Tun-Ergehen-Zusammenhang; Unbegreiflichkeit; Verhältnis
1. „Hiob“, das Gedicht der Nelly Sachs
1.1 Einleitende Bemerkungen
Leonie (Nelly) Sachs (1891-1970) verließ im Mai 1940 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft Berlin und emigrierte gemeinsam mit ihrer Mutter nach Schweden. Kurz nach deren Ausreise begann die systematische Ermordung der Juden in Deutschland. In ihrem schwedischen Exil Stockholm entstanden ihre literarischen Schriften – zu größten Teilen Gedichte. Die Erfahrungen der Naziherrschaft und die Vernichtungspolitik der Schoa ziehen sich motivisch durch ihre Werke. Sachs wollte mit ihrer Lyrik den Ermordeten des Dritten Reiches wie den Überlebenden ihres Volkes eine Stimme geben, schrieb sie in einem Brief an Max Tau vom 6.7.1944 (Dinesen/Müssner, 1984, 37; Lermen/Braun, 1998, 21). 1966 erhielt sie für ihr lyrisches Hauptwerk zusammen mit dem israelischen Schriftsteller Samuel Josef Agnon den Literaturnobelpreis. Das Nobelpreiskomitee begründete diese Vergabe mit der jüdischen Thematik: „für ihre hervorragenden lyrischen und dramatischen Werke, die das Schicksal Israels mit ergreifender Deutlichkeit interpretieren.“ (Website: „Nobelpreisträger für Literatur“). „Hiob“ erschien 1949 in ihrem Gedichtband „Sternenverdunkelung“ innerhalb des Zyklus „Die Muschel saust“. Es ist dort zusammen mit biblischen Erzvätern, Königen und Propheten in einen Israel-Zyklus eingebettet.
1.2. Aufbau des Gedichtes „Hiob“
Das Gedicht besteht insgesamt aus 14 Versen: zwei fünfzeiligen Strophen und einer vierzeiligen. Seine Metrik entspricht keinem herkömmlichen, äußerlich ähnlichem Versschema – weder dem der Ballade, noch dem des Sonetts. Das Gedicht ist nicht gereimt und metrisch ungebunden.
„Hiob“ beginnt wie viele andere ihrer Gedichte mit einem Ausruf (Interjektion): „O...!“ (vgl. Fioretos, 2010, 56-93). Es folgt unmittelbar eine direkte Anrede in der zweiten Person Singular: „O du…!“ Das „Du“ bleibt bis in die dritte Strophe inkonkret. Nur die Überschrift benennt es. Die gesamte erste Strophe ist eine Akklamation auf dieses Du; syntaktisch durch die Interpunktion von Ausrufezeichen, zwei Punkten und einem Semikolon – also kurzen Sätzen – unterstrichen. Inhaltlich ist es ein Klagelied über Hiobs Qualen.
Die zweite Strophe beschreibt Augen und Stimme des Du mithilfe von Sprachbildern in jeweils einem längeren und erklärenden Satz. Hier stellt Sachs ihren Hiob vor.
Vers elf schließt inhaltlich noch an Strophe zwei an und endet mit einem Punkt. Die nächsten und letzten drei Zeilen gehören syntaktisch zusammen und heben sich inhaltlich von Strophe zwei ab. Die zweite Strophe umfasst somit eigentlich sechs Verse. Damit rückt diese Strophe nachträglich an Verszahlen in eine Majorität und die dritte Strophe umfasst genau genommen nur drei Verse. Vers zwölf benennt erstmals das Du namentlich mit Hiob und greift auf diese Weise zwar zurück auf die Qualen Hiobs aus Vers 1, um anschließend jedoch diesen eine endliche Perspektive zu geben: „aber einmal wird“.
Die dritte und kürzeste Strophe entspricht inhaltlich nach der Klage in Strophe eins und einer Vorstellung des Sachschen Hiob in Strophe zwei einem Ausblick und erscheint insofern als eine narratologische Weiterführung der ersten beiden Strophen. Die Kürze der letzten Strophe unterstreicht dies (vgl. Kap. 3).
1.3 Der zentrale Inhalt des Gedichtes „Hiob“
Sachs’ Gedicht hat zwei Inhaltsebenen: zum einen eine unmittelbare im Gedicht und zum anderen eine mittelbare außerhalb des Gedichts. Unmittelbar stellt die Dichterin ihren Hiob als Inbegriff des stummen Leidens dar. Hiob ist bei ihr die Figur des körperlich wie seelisch Gequälten, des vom Schmerz Gelähmten, des Einsamen und des Gottverlassenen, eine Figur in einer Zeit- und Raumlosigkeit, in der alle denkbaren Schmerzen aus allen Richtungen zusammenlaufen und der gänzlich handlungsunfähig geworden ist: Hiob, der personifizierte Schmerz. Nicht Hiobs Schicksal erhält bei ihr ein versöhnliches Ende, sondern dessen Schmerz eine Aussicht auf Rechtfertigung.
2. Die Beziehung zum alttestamentlichen Buch Hiob
2.1 Vorstellung des Buches Hiob
Das Buch Hiob lässt sich grob in Prolog, poetischem Hauptteil und Epilog gliedern. Der Hauptteil ist in drei weitere Abschnitte zu teilen (Gertz, 2009, 433; Mende, 2009, 414):
(1-2) Prolog.
(3) und (4-31) Hiobs Dialog mit seinen drei Freunden Eliphas, Bildad und Zophar, denen ein Monolog Hiobs sowie eine Gesprächsaufforderung vorausgeht. Ein besonders langer Monolog schließt das Gespräch ab.
(32-37) Die vier Reden des vierten Freundes Elihu.
(38-42,6) Die Gottesreden mit zwei knappen, kleinlauten Antworten Hiobs.
(42,7-17) Epilog
Hiob wird zu Beginn als sehr frommer, gutmütiger, glücklicher und erfolgreicher Mann vorgestellt. Er wird von Gott und Satan auf die Probe gestellt, indem er seinen gesamten Besitz, seine Kinder und seine Gesundheit verliert. Seine drei Freunde trösten ihn schweigend. Hiob versucht in seinen folgenden Reden einen Tun-Ergehen-Zusammenhang zu ergründen (s.a. Fabry, 42002, 237).
In seinem ersten Monolog (3) klagt er über sein Leid in einer umfassenden Lebensklage. Er fragt nach dem Grund seines Leids und bestreitet die Schöpfermacht Gottes (Hi 3,4). Daraufhin folgen drei Redegänge mit seinen Freunden, in denen diese in einem monologartigen Gespräch versuchen, Hiobs Leid auf unterschiedliche Weise zu erklären. Ein Hiob zufrieden stellendes und tröstendes Ergebnis finden sie nicht. Hiob wehrt alle Erklärungsversuche seiner Freunde ab. Er erkennt weiterhin keine eigene Schuld für sein Leid, stellt Gottes Gerechtigkeit zunehmend in Frage und fordert diesen zunehmend zur Antwort heraus. Schließlich wendet er sich von seinen Freunden ab und fordert Gott in direkter Ansprache zur Antwort heraus („Der Allmächtige antworte mir!“; Hi 31,35), was dieser etwas später (Hi 38ff.) auch tut (Ebach 2009, 118-160 und Schwienhorst-Schönberger 2007, 221-266).
Sein vierter, erst jetzt auftretender Freund Elihu versucht ihm zuvor noch Gottes Gerechtigkeit und Hiobs Selbstgerechtigkeit klar zu machen: „harre nur seiner“ (Hi 35,14), „den Elenden wird er durch sein Elend erretten und ihm das Ohr öffnen durch Trübsal“ (Hi 36,15), „Wenn du aber richtest wie ein Gottloser, so halten dich Gericht und Recht fest. Sieh zu, dass nicht dein Zorn dich verlockt“ (Hi 36,17-18), „Gott ist groß und unbegreiflich“ (Hi 36,26), „Hiob, steh still und merke auf die Wunder Gottes!“ (Hi 37,14). Auf diese Mahnung Elihus an Hiob reagiert Gott unmittelbar mit zwei großen Reden an Hiob, an deren Ende Hiob sich mit wenigen Worten schuldig spricht und sich Gottes Allmacht förmlich stumm und reuevoll, aber auch getröstet unterwirft. Hiobs Gottesverhältnis ist wieder hergestellt. Es folgt sein gesegnetes Ende.
Sachs’ Gedicht bezieht sich vornehmlich auf den poetischen Hauptteil (s.u.). Sie reflektiert innerhalb des Gedichts nur die Tatsache des Leidens. Weder die tröstenden Freunde, noch Gott oder das Vorspiel mit dem Satan spielen irgendeine Rolle. Sachs stellt Hiobs singulären und einsamen Schmerz in den Mittelpunkt ihres Gedichts.
2.2 Formale Beschreibung der intertextuellen Bezüge
Mit der Überschrift weist Sachs auf ihre Vorlage: Hiob. Dieser Name fällt bis zur letzten Strophe kein einziges Mal mehr. Zwischen diesen beiden Nennungen wird eine Person in der 2. Person Singular mit „Du“ bzw. mit dem Possessivpronomen „dein-e“ angeredet, das zwar durch die Überschrift verständlich wird, aber bis zur Nennung im Text ein bloßer motivlicher Bezugsrahmen bleibt. Die direkte Ansprache in Vers 12 „Hiob, du hast“ hebt alle vorherigen vermuteten motivlichen Bezüge definitiv auf den Referenztext des AT und lässt Wortverbindungen zu Anspielungen und sogar Zitaten werden: „Windrose der Qualen“, „Urzeitstürme“, „Nabel der Schmerzen“, „zu viel Warum gefragt“ sind konzentrierte Anspielungen auf das Leiden des atl. Hiob. Die sehr allgemeinen Wörter „Augen“, „Nacht durchweint“, „Würmer“ werden zu reduzierten Ein-Wort-Zitaten aus dem Buch Hiob („Sprachspuren“ bei Langenhorst, 2005, 88).
Formal unterscheiden sich die beiden Vergleichtexte durch die unterschiedliche Gattung: Prosa gegen Lyrik, was rein äußerlich in Umfang und Erzählstil stark unterschiedliche Entfaltungsmöglichkeiten signalisiert. Die langen Monologe im AT können in Lyrik kaum wiedergegeben werden. Sachs hat das auch nicht einmal ansatzweise versucht. Ihr Gedicht sticht durch eine vehemente Verknappung hervor, der es aber nicht an inhaltlicher Fülle aus der biblischen Vorlage mangelt. Sie setzt die Kenntnis des Buches Hiob voraus und legt dieser Geschichte eine neue Folie über, durch die der biblische Hiob deutlich hervorschimmert (s. Kap. 3).
3. Interpretation des Wechselspiels zwischen dem Buch Hiob und dem Gedicht „Hiob“ der Nelly Sachs
Die Strophe 1 der Nelly Sachs – Vorgeschichte des atl. Hiob
Der alttestamentliche Hiob ist eine unhistorische Figur aus einem fiktiven Land (Spieckermann, 42000, 1777). Dieser Hiob ist fromm, geduldig und hilfsbereit, ist glücklich und hat Familie. Seine Kinder, sein Besitz und seine Gesundheit werden ihm ohne Erklärung und ohne Verstehensmöglichkeit genommen, womit sein heftiges Leid beginnt. Das ist die Vorgeschichte, auf die Sachs in Strophe eins aufbaut: „O Du Windrose der Qualen!“ ruft Sachs aus und verweist damit auf Hi 23,8: die vier Himmelsrichtungen, in die Hiob schaut, ohne eine Antwort auf sein Leid von Gott zu erhalten. Das Wort „Windrose“ impliziert die vier Himmelsrichtungen und als solche sowohl Dynamik als auch eine Unstetigkeit in der Bewegung. Das bestätigen die folgenden zwei Verse („Urzeitstürmen/ … immer andere Richtungen“). Die „Urzeitstürme[n]“ (V2) weisen darüber hinaus auf eine unnennbare Zeitdauer sowie eine fiktive Zeit: vor langer, langer Zeit; ein Märchenton, ohne die Milde des Märchens auch nur ansatzweise widerzuspiegeln: „in immer andere Richtungen gerissen“ weist zurück auf die Windrose aus Vers 1 und gleichzeitig voraus auf die Einsamkeit in Vers 4.
Die Strophe eins betont den schon lange leidenden und gequälten Hiob. Von glücklicher Zeit oder von Geduld auf bessere Zeiten ist nichts angedeutet. Im Gegenteil, Sachs verschärft den Schmerz, als würde sie Hiob auf den Nerv fühlen: „Wo du stehst, ist der Nabel der Schmerzen“ (V5). Die „Urzeitstürme“ reißen ihren Hiob in alle Richtungen, schier richtungslos steht er dem Leser vor Augen, orientierungslos, passiv, weder streitend noch hadernd wie der biblische Hiob, weder redend mit Freunden noch Gott anklagend. Der Sachs’sche Hiob steht in nackter Einsamkeit, der biblische sucht über viele Kapitel in der Auseinandersetzung die Wahrheit, der redet und glaubt.
Hier ließe sich eventuell auf Sachs’ Glauben rückschließen: „der Jude ist (…) bereit, mit seinem Gott zu streiten“ (Goldberg, 1991, 91), im Streit sucht er die Gegenwart Gottes; Sachs’ Hiob tut dies gerade nicht. Ihr Hiob ist wie ein Spielball des Windes, gelähmt von seinen Schmerzen, wehrlos, schweigsam und einsam. Mit ihrem Hiob redet niemand, um ihn kümmert sich niemand, sein Leiden ist in Strophe eins weder schuldvoll noch schuldlos beschrieben, ein Gegenüber von Gut und Böse als ausgleichende Mächte oder einen Satan als Versucher gibt es nicht. Sachs klammert einen Glauben hier förmlich aus. Der Gedanke der Gottesferne drängt sich somit am Ende von Strophe 1 gerade wegen der immanenten biblischen Bezüge auf. Aber Str. 1 ist nur das Vorwort ihrer Hiobsgeschichte.
Die Strophe 2 der Nelly Sachs – Hiobs Leiden
Die gesamte Strophe zwei charakterisiert diesen leidenden Hiob. Der biblische Bezug geht dadurch scheinbar verloren. Der Leser wird gezwungen, eine aktuellere oder zumindest subjektive Deutung zu erkennen. Vers 6 („Deine Augen sind tief in deinen Schädel gesunken“) erinnert den heutigen Leser mehr an die Bilder der zum Tode ausgemergelten Menschen im Konzentrationslager, als an das in Hi 17,7 genannte Auge, das „dunkel geworden [ist] vor Trauer“. Das darauf folgende Stummsein von Sachs’ Hiob (V9) wirkt so mehr als eindringliche Klage, als an eine unmittelbare Reminiszenz an das Buch Hiob zu denken: in Hi 10,1-22 fragt der biblische Hiob die von Sachs in Vers 10 erwähnten „zuviel[en] Warum[s]“. Diese „Warums“ sprechen deutlich von vielen gestellten Fragen auch ihres Hiob – vor dem Gedicht. Nun schweigt ihr Hiob, nun ist er verstummt, denn ihr Hiob hat keine Antwort erhalten wie der biblische, ihm ist kein Gott angesichtig geworden, der Hiobs Fragen eine ganze Kosmologie entgegensetzt und ihn sukzessive zur Erkenntnis führt (Hi, 38-42,6). Ihr Hiob ist stumm und förmlich blind geworden („wie Höhlentauben in der Nacht“), ihr Hiob kann Gott aus eigener Kraft nicht mehr sehen und unterscheidet sich trotzdem gar nicht so sehr von dem biblischen, der in seiner dritten Antwort an Eliphas von seiner Gottesfurcht spricht (Hi 23,15-17) und seinem Nichtverstehen von Gottes Wegen (Hi 24,2-12: „Die Gottlosen verrücken die Grenzen …. Doch Gott achtet nicht darauf!“) sowie seiner Unfähigkeit Gott zu erkennen (Hi 23,8-9: Aber gehe ich nun vorwärts, so ist er nicht da; gehe ich zurück, so spüre ich ihn nicht./Ist er zur Linken, so schaue ich ihn nicht; verbirgt er sich zur Rechten, so sehe ich ihn nicht.“). Und deshalb muss auch der biblische Hiob schweigen (23,17 „denn … muss ich schweigen“) wie Sachs’ Hiob – ihr Hiob hätte ihn allenfalls hören können. Denn taub ist er in ihrem Gedicht nicht explizit geworden, was die Bibelstelle aber gleichfalls anspricht (23,5: „erfahren die Reden, die er mir antworten und vernehmen, was er mir sagen würde“). Ex negativo ließe sich an dieser Stelle ihres augenscheinlich düsteren Hiob-Bildes ein fast unscheinbarer Wink heraus aus den dargestellten Schmerzen lesen. Was der biblische Hiob im Konjunktiv und als Forderung an Gott formuliert, bleibt bei Sachs nur angedeutet oder eben ungesagt (vgl. Hi 36,15: „das Ohr öffnen durch Trübsal“).
Die Strophe 3 der Nelly Sachs – der andere Hiob
Verse 11-12: Vergänglichkeit und Auferstehung
Strophe drei nimmt das Motiv des Stimmverlustes noch mal auf: Die „Würmer“, zu denen Sachs’ Hiob in V11 geht, reflektiert auf Hi 24,20 und 25,4-6, wo der Mensch in seiner Vergänglichkeit präsentiert („die Würmer laben sich an ihm. An ihn denkt man nicht mehr“) bzw. sogar mit dem Wurm identifiziert wird („Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott? … auch der Mond scheint nicht hell, und die Sterne sind nicht rein vor seinen Augen – wie viel weniger der Mensch, eine Made, und das Menschenkind, ein Wurm!“). Mit diesen bloßen Wort-Anspielungen greift Sachs zum einen viel mehr auf die biblische Vorlage zurück, als auf den ersten Blick angenommen wird (Kuschel, 2005, 6; Sager, 1970, 138f.) und zum anderen formuliert sie einen Vergänglichkeitsgedanken, der den christlich-jüdischen Auferstehungsgedanken in sich trägt. Sachs spricht von Würmern und Fischen, also von Lebewesen, die zwar stumm sind, aber nicht tot; Würmer fressen Leichen (Körper), aber keine Seelen. Zum zweiten Mal blinkt in ihrem Gedicht ein Funke auf, der nun wie ein Hoffen verstehbar werden kann. Ab V12 wird dieses dann sichtbar. Erstmals nennt sie den Namen Hiob und redet ihn wie in V1 mit „du“ an. Zunächst beklagt Sachs noch in dem Ton des schon vorherigen demütigenden Schmerzes Hiobs durchweinte Nachtwachen (V12). Auch diese finden sich beim biblischen Hiob wieder. Im Kapitel 30 werden sie ausführlich beschrieben, speziell in 30,16-17.25. Und danach folgen bei Sachs die in der Forschung immer wieder unterschiedlich gedeuteten Schlussverse, die mit der biblischen Vorlage überhaupt nicht übereinstimmen und weil sie etwas ganz Neues schaffen bzw. das Problem verschärfen (vgl. Kuschel, 2005, 6f.; Langenhorst, 1994, 188; Lermen/Braun, 1998, 190f.).
Verse 13-14: Hiobs Ende. Die unterschiedlichen Gottesbilder
Sachs’ Hiob mahnt am Ende mit seinem Blut. Der biblische Hiob schaut Gott und erhält neuen Besitz, eine neue Familie und lebt weiter wie im (Volks-)Märchen bis ans Ende seiner Tage.
Zentral im alttestamentlichen Buch Hiob ist die Abwendung vom Dogma, gemäß dessen Gott den Frommen segnet und den Frevler straft und Leid folglich ein Zeichen einer persönlichen Schuld ist. In den Gottesreden wird eine neue universal-eschatologische Antwort gegeben: Gottes Allmacht soll zum Heil der gesamten Welt verstanden werden und dieses wird ggf. im Kampf gegen Chaosmächte über Umwege von Leid erreicht (vgl. Gen 9,12-17).
Nelly Sachs wendet sich allerdings auch gegen dieses Gottesbild. Ihr schuldlos Leidender wird auch nicht über Umwege in ein Heil geführt, ihr schuldlos Leidender erhält keine Erklärungen Gottes, die ihn zur Erkenntnis bringen (Schwienhorst-Schönberger, 2007, 221-266). Das gibt es bei Sachs alles nicht. Aber es gibt einen Ausblick auf eine Zukunft. Auch ihr schuldlos Leidender bleibt nicht im Schmerz verhaftet. Sachs weist sprachlich und metaphorisch auf eine zukünftige Zeit. Der Zeitpunkt bleibt undefiniert: „aber einmal“ sagt sie (V13), werde Hiobs „Sternbild des Blutes/alle aufgehenden Sonnen erbleichen lassen“. Was genau in Aussicht steht, nennt Sachs nicht. Die Interpretationen reichen von „Projektionen des Transzendenten“ (Sager, 1970, 120), „eschatologische Zukunftsvision“ (Langenhorst, 1994, 188), „ersehnte Erlösung“ (Lermen/Braun, 1998, 191) bis Negierung irgendeines Trostes (Kuschel, 2005, 7). Rein sprachlich weist Sachs in eine unbestimmte Zukunft. Die Metapher „Sternbild des Blutes“ weist auf Schuld und Schmerz, diese hat Sachs in ihren ersten beiden Strophen genannt und eine Parallele zur bibischen Hiobsgeschichte namentlich gezogen. „Sternbild“ bedeutet etwas am Himmel, etwas, das für alle sichtbar ist, das von Astrologen und Astronomen ausgelegt wird und so prangt es nicht nur mahnend über den Köpfen aller, sondern es mahnt, weil es blutig ist. Eine zweite Form der Mahnung ist das unmittelbar folgende Sprachbild, dass „alle aufgehenden Sonnen“ es „erbleichen lässt“. Die „aufgehenden Sonnen“ sind textimmanent als zukünftige Zeiten zu verstehen und diese Zeiten „erbleichen“ in Sachs’ Gedicht durch die ewige Mahnung des Sternbildes von Hiobs Blut. Nicht eine Erlösungstheorie, auch kein Hoffen darauf wird also erkennbar, sondern viel mehr ein Hoffen auf eine Rechtfertigung von Hiobs Leid. Damit wendet sich Sachs gegen das alttestamentliche Gottesbild der schnellen Rechtfertigung und des schnellen Richtens (Jaspers, 1962, 347 ff.). Ihr Hiob wird zu anderen Zeiten gerechtfertigt, zu einer Zeit außerhalb des Gedichts und außerhalb der unmittelbaren Reichweite. Es zeigt sich hier der angedeutete Auferstehungsgedanke aus Vers 11 und damit schließt Sachs denn doch an das Ende des Buches Hiob an. In einer fernen Zeit zwar, aber auch bei ihr greift Gott ein, damit das schuldlose Leiden nicht sinnlos war und damit wird ihr Hiob zum Schluss in Gottes waltende Hände übergeben; auch ihr Hiob vertraut somit schließlich auf Gottes Gerechtigkeit.
Während das AT positive Schlussbilder zeichnet, alterniert Sachs sprachspielerisch zwischen positiven Ausdrücken wie „Sonnenaufgang“ und negativen wie „erbleichen“, also Wärme und Kühle, Leben und Tod. Ihr Gedicht erhält dadurch eine zusätzliche Dynamik, die im Buch Hiob über die Dialoge insbesondere mit Gott erreicht wird. Entsprechend setzt sie dem aktiven Sterben des biblischen Hiob („er starb alt und lebenssatt“, 42,17) ein passives „wird … erbleichen lassen“ gegenüber und bestätigt damit sprachlich einmal mehr eine Ohmacht im Jetzt, der ein glaubendes Hoffen (Beißer, 42000, 1827) Trost in der Distanz zu geben vermag. Der biblische erhält den Trost innerhalb des Textes, Sachs’ Hiob außerhalb. Die formale Zusammenführung vom leidendem Hiob mit einem Zukunftsblick in ein und derselben Strophe (V11ff.) – getrennt bloß durch einen Punkt – entpuppt sich nun als formale Unterstützung der Inhaltsebene: der Sach’sche Hiob entspricht zu großen Teilen dem biblischen, indem neben der inhaltlichen Verschränkung Sachs auch mit einer formalen und einer sprachlichen hantiert.
Da Sachs das Buch Hiob sehr genau kannte, wie an der subtilen Bearbeitung ihres Hiob in ihren ersten beiden Strophen und insbesondere in der zweiten Strophe sichtbar wurde, darf man vermuten, dass sie auch mit bewussten Auslassungen gearbeitet hat. Trotzdem ist bei ihr ein leicht veränderter Hiob entstanden, ein stummer und nicht erkennender, der dem biblischen sich streitenden, sogar Gott herausfordernden und bei allen schuldlosen Qualen glaubend Sehenden konträr entgegensteht. Dieser veränderte Hiob wird besonders in der letzten Strophe sichtbar. Sie verändert den biblischen Hiob und bleibt doch ganz nah an der Vorlage, so dass vom Schluss her betrachtet von einer nicht unbeträchtlichen inhaltlichen Spannung zwischen den beiden Texten gesprochen werden kann. Diese Interpretation steht der von Kuschel (2005) vom radikal reduzierten biblischen Hiob stark entgegen und weicht auch signifikant von Langenhorsts (1994; 2005), Lermen/Brauns (1998) oder Oberhänsli-Widmers (2003) Interpretationen ab, die Sachs’ Gesamtwerk vornehmlich biographisch deuten und dem Gedicht dadurch weniger künstlerische Selbständigkeit einräumen.
Bei einem abschließenden Resümee unter diesem Blickwinkel der Selbständigkeit ist darauf hinzuweisen, dass sich Hiobs Problem im Alten Testament in universal menschlicher Dimension stellt, das nicht nur von Sachs bearbeitet worden ist. Ihr Gedicht betont das existentielle Gefühl von Leid und Schmerz und nutzt Hiob als Ausdrucksmöglichkeit. Dadurch erhält Hiob neue Aktualität und beweist gleichzeitig eine Universalität. Hiob ist zeitlos, der Rezeptionstext Sachs kann es nur in seiner Verbindung sein, auch wenn er etwas Neues geschaffen hat.
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