Josef - Träumer oder Visionär?
Nele Spiering
- Kurzbeschreibung:
- Die Erlebnisse Josefs gehören zu den beliebtesten biblischen Überlieferungen der Gegenwart und sind weltweit bekannt. Genesis 37,2-11 markiert den Beginn der Josefgeschichte (vgl. Lux, 2001, 19) und führt somit die Berichte der Familie Jakobs fort. Der/die Lesende begegnet dem jungen, durch die väterliche Bevorzugung gezeichneten Josef. Geprägt durch diese besondere Stellung und im Zuge dessen scheinbar unfähig, sein Handeln zu reflektieren, fällt dieser in Ungnade bei seinen Brüdern – mit schicksalshaften Folgen…
- Zusätzliche Autoreninformation: Nele Spiering
- Studentin, Universität Kassel
- Kategorie:
- Bibeltheologische Komm.
- Schulform:
- Grundschule Hauptschule Realschule Gymnasium Förderschule
- Bibelstellenbezug:
- 1.Mose 37,2-11
- Zusätzliche Skripturen:
- Gen 36 Gen 37,12-36
- Weitere Schlagworte:
- Bruder; Brüder; Familie; Fehler; Fehlverhalten; Gabe; laube; Jakob; JOsef; Kanaan; Kindheit; Knflikt; Nachkommen; Neid; Offenbarung; Persönlichkeit; Rahel; Rangfolge; Schuld; Sehnsucht; Selbstbewusstsein; Traum; Ungerechtigkeit; Verrat; Wünsche; Zukunft
1. Erster Leseeindruck
Nicht selten liefert der Anfang einer Erzählung entscheidende Hinweise und Erklärungen für deren künftigen Verlauf. In Gen 37,2-11 trifft der/die Lesende erstmals auf Josef, doch ist diese Begegnung weniger durch die vorherrschende Begeisterung für den Charakter geprägt, als vielmehr durch Erstaunen. In dieser Erzählung verwischt das oftmals geradezu perfekte Bild von Josef – dem `Liebling´.
2. Synchrone Zugangsweise: Bilder von Josef
2.1 Abgrenzung und Kontext
In der Komposition des Pentateuchs stellen die Joseferzählungen das Bindeglied zwischen den Erzelternerzählungen und den Exodustraditionen dar. Der Josefgeschichte werden gemeinhin die Kapitel Gen 37-50 zugedacht, die Tamar-Juda-Erzählung in Gen 38 wird als Einschub innerhalb der Josef-Erzählung betrachtet (vgl. Johannsen, 1998, 127). Die Josefsgeschichte ist als eine Familiengeschichte mit universellem Charakter zu verstehen, die Perikope um Josef und seine Träume funktioniert dabei als Exposition der Erzählung (vgl. Seebass, 2002, 9).
Neben diesem einleitenden Charakter bildet Gen 37 aber auch den unmittelbaren Anschluss an die Jakob-Esau-Geschichte (Gen 25-36) und damit eine Fortsetzung der Geschehnisse um Jakob und seine Familie.
Die soeben dargestellte Abgrenzung der Josefgeschichte gilt es zu prüfen: „Während der Schluß […] keine Probleme aufwirft, konnte man zum Beginn noch keine Einigung erzielen“, so Seebass (Seebass, 2000, 19). Westermann erklärt: „Vers 1 ist Abschluß der Jakob-Erzählung oder Überleitung von ihr zur Joseph-Erzählung“ (Westermann, 1990, 18).
Tatsächlich geht mit beiden Aussagen eine Frage einher, für die sich wohl keine einheitliche Lösung finden lässt. Diese Arbeit tendiert allerdings dazu, V1 und 2a nicht als Abschluss, sondern als Übergang zur Josefgeschichte zu betrachten. Grund dafür ist u.a., dass hier das Land Kanaan als Ort der Handlung bestimmt wird, diese Information ist für den Kontext der Geschichte wichtig und sollte beim Rezipienten Berücksichtigung finden. Den tatsächlichen Beginn der Erzählung markiert V2b. Eine wiederum neue Handlung beginnt schließlich mit der Reaktion der Brüder auf Josefs Verhalten, diese folgt in Gen 37,12-36 („Josef wird nach Ägypten verkauft“).
2.2 Gattung
Während Dietrich, aber auch die aktuelle Literatur wie z.B. Albani u. Rösel (2007), die Josefsgeschichte und damit die Erzählung um Josef und seine Träume als eine Art antike Novelle begreift (vgl. Dietrich, 1989, 17 u. Albani/Rösel, 2007, 52), ist Westermann der Ansicht, dass eine solche Einordnung nicht zutreffen kann. Er beruft sich hier auf die für eine Novelle charakteristischen Merkmale, fiktiv und individualistisch, die seiner Ansicht nach in der Josefserzählung nicht existent sind (vgl. Westermann, 1982, 13). Dietrich dagegen findet die genannten Kennzeichen sehr wohl in der Geschichte wieder (vgl. Dietrich, 1989, 17). Ob diese nun der Forderung Westermanns folgend eine Erzählung darstellt (vgl. ebd., 1982, 13) oder entsprechend Dietrichs eine Novelle, liegt im Ermessen des jeweiligen Betrachters. Der vorliegende Kommentar wird die Bezeichnung Erzählung nutzen, schließt allerdings die Novelle als zutreffende Gattung für die Josefgeschichte keineswegs aus.
2.3 Aufbau und Überblick
Einleitender Teil
Krauss und Küchler begreifen V1 ebenso wie dieser Kommentar als Übergang. Begründet sehen sie ihre Annahme in den ersten Zeilen dieses Verses: „Und dies ist die Geschichte von Jakobs Geschlecht.“ (Gen 37,2) Dieser Satz spiegelt den hebräischen Ausdruck `toledot´ wider, der eine Geschlechterfolge meint (vgl. Krauss u. Küchler, 2005, 14). Demzufolge entspricht V2, welcher die Entzweiung der Brüder resultierend aus dem Verhältnis zwischen Jakob und Josef schildert, den eigentlichen Anfang der Erzählung.
Hauptteil
Im Einvernehmen mit Westermann geben V3 und V4 Auskunft über den Grund der sich anschließenden Vorkommnisse, den Geschwistern wird die Vorliebe Jakobs für Josef demonstriert: „Israel aber hatte Josef lieber als alle seine Söhne, weil er der Sohn seines Alters war und machte ihm einen bunten Rock“ (Gen 37,3). Wie V3 und V4 sind auch die V5-10 als ein Abschnitt innerhalb der Perikope zu betrachten. Boecker und Westermann schließen noch V11 mit ein, dieser soll hier aber gesondert stehen (vgl. Boecker, 2003, 18 u. Westermann, 1990, 23). V5 beschreibt ausgehend von den vorherigen Vorkommnissen, die sich kontinuierlich aufbauende Wut der Brüder, diesmal allerdings nicht in einem Kontext, der durch den Vater hergestellt wird, sondern durch Josef selbst: „[…]; da wurden sie ihm noch mehr Feind“ (Gen 37,5). V6 und V7 führen diese Entwicklung weiter aus. Dabei berichten die Verse von einem Traum Josefs, welcher ihn symbolisch in Form eine Garbe als König, und seine Brüder als Untertanen zeigt (ebenfalls in Gestalt von Garben). Die unmittelbare Reaktion seitens der Brüder auf das Geträumte folgt in V8. In V9 vollzieht sich Identisches, mit der Besonderheit, dass sich Josef nun auch gegenüber seinen Eltern in einer erhabeneren Position erkennt. In V10 maßregelt schließlich auch Jakob Josef für seine Träume, hält dann aber inne (vgl. Boecker, 2003, 20).
Vorübergehender Schluss
V11 markiert den Abschluss und das Resultat dieser Szene in Kanaan, dies ist der Grund seiner separaten Darstellung (siehe weiter oben V5-10).
In Anlehnung an die Überlegungen Westermanns wird im Folgenden der Aufbau von Gen 37,1-11 überblicksartig dargestellt:
Einleitender Teil
V1-2a Hinführung/ Übergang zur Josefgeschichte
V2b Das ist Josef
Hauptteil
V3-4 Der Grund
V5-10 Die Träume
Vorübergehender Schluss
V11 Das Resultat
2.4 Auslegung
2.4.1 Josef – ein Träumer?
In diesem Teil der Arbeit gilt es, Josef den Träumer kennenzulernen. Dabei besteht hier nicht das Bestreben, eine negative Konnotation bezüglich der Bezeichnung Träumer herzustellen. Vielmehr soll durch die Verwendung des Begriffs eine Abgrenzung bzw. ein Gegenbild zu dem des Visionärs generiert werden, der im Fokus des zweiten Abschnitts dieses Kapitels stehen wird.
Mit dem Ausdruck `Träumer´ werden häufig Eigenschaften wie naiv, wenig entscheidungsfreudig, sowie ein Leben und Denken abseits der Realität in Verbindung gesetzt. Ein Träumer ist laut Duden ein „weltfremder Mensch“ (Duden, 2001, 862). Trifft diese Charakterisierung auch auf den jungen Josef zu? Zunächst einmal sollten dazu die Umstände betrachtet werden, die eine solche Vermutung begründen würden.
Josef ist der älteste Sohn Rahels, der Lieblingsfrau Jakobs. Unter allen Söhnen Jakobs ist er vor Benjamin, der Zweitjüngste. Da die Söhne der Nebenfrauen (die Mägde Bilha und Silpa) in der Familienhierarchie aber den Rang hinter denen der Hauptfrauen (Lea und Rahel) einnehmen, rangiert Josef, obwohl er jüngeren Alters ist, vor diesen. Mit dem Tod Rahels, ändert sich diese Folge schließlich. In Gen 37,2 wird Josef als Hirte und Gehilfe der Söhne Bilhas und Silpas vorgestellt. Dass ihm dieser Status missfällt, liegt vor dem Hintergrund seiner eigentlichen Bestimmung nahe (vgl. Lux, 2001, 74). Zum Ausdruck kommt diese Missbilligung u.a. darin, dass er seine Brüder auf recht unedle Weise bei Jakob in Verruf bringt. „[Josef] war ein Hirte bei den Schafen mit seinen Brüdern, […], und brachte es vor seinen Vater, wenn etwas Schlechtes über sie geredet wurde.“ (Gen 37,2). Allein dieses „Petzen“ verstößt gegen die `Gesetze von Brüderlichkeit´, ferner lässt der Bibeltext offen, ob Josef tatsächlich Gehörtes weiterträgt. Dennoch bleibt das Verhalten Josefs fragwürdig. Ruppert zieht in Betracht, dass dieser möglicherweise schuldhaft falsches Zeugnis über seine Brüder abgelegt hat, eine Begründung hierfür findet er in der Übersetzung des Ausdrucks „schlechter Ruf“, welcher im Alten Testament in verschiedener Funktion genutzt wird (vgl. Ruppert, 1965, 31). Laut Lux findet Josefs Begehren jedoch erst in seinen Träumen wahrhaftige Entfaltung (vgl. Lux, 2001, 75). So verfolgt sein Bestreben scheinbar weit höhere Ziele als der Erste unter den Brüdern zu sein, vielmehr ist es das Bild eines Königs, das ihm erscheint: „Siehe, die Sonne, der Mond und elf Sterne neigten sich vor mir“ (Gen 37,9). Interessant und doch bezeichnend ist, dass die elf Sterne wohl für seine elf Brüder stehen, Sonne und Mond für Vater und Mutter. Der Traum macht deutlich, dass Josef weniger im übertragenen Sinne als unmittelbar denkt, er sieht nur sich selbst in seinem direkten Handlungsrahmen, der seine Familie ist.
Vor dem Hintergrund, dass Josef auf der einen Seite Bevorzugter („Israel aber hatte Josef lieber als alle seine Söhne, […]“ (Gen 37,3)), auf der anderen aber Zurückgesetzter (siehe oben) ist, scheint er die Träume zu begrüßen. Auch kommt der Lesende nicht umhin sich zu fragen, ob es ausschließlich Freude und Stolz sind, die ihn beflügeln. Denn obwohl er sich dem Neid seiner Geschwister bewusst sein muss, fehlt ihm scheinbar das Gespür ihnen seine Träume im passenden Moment mitzuteilen. Kann sein Vorgehen infolgedessen (siehe V5 u. V9) nicht vielleicht eher als ein trotziger Triumph über die Brüder gedeutet werden? Kindliche Naivität oder schlichtweg Dummheit fragt sich daher Lux, wenn er sieht, wie Josef agiert (vgl. Lux, 2001, 81). Und auch Ruppert und Laubi diskutieren Josefs Verhalten: Ersterer führt an, dass Josefs Handlung keineswegs ein Resultat von Klugheit ist, sondern, so Laubi, wohl eher von Arroganz (vgl. Ruppert, 1965, 32 u. vgl. Laubi, 1985, 97).
Unter anderen Umständen hätten seine Brüder die Träume vielleicht belächelt. Als Ergebnis der vorhergehenden Bevorzugung des Vaters bleibt ihnen jedoch kaum eine andere Möglichkeit als die, im Verhalten von Vater und Bruder eine Verschwörung zu deuten: „Als nun seine Brüder sahen, dass ihr Vater [Josef] lieber hatte als alle seine Brüder, wurden sie ihm feind und konnten ihm keine freundliches Wort mehr sagen“ (Gen 37,4). So scheint das Vorgehen beider, Jakobs und Josefs, auschlaggebend für die wütende Eifersucht der Brüder und dessen Folgen zu sein. Dabei deutet Ruppert die Reaktion der Brüder als Bestätigung des Wahrheitsgehalts der Träume. Ansonsten, so der Autor, bestünde keinerlei Motiv für die Eifersucht (vgl. Ruppert, 1965, 34). Der vorliegende Kommentar zweifelt hier, so ist Eifersucht z.B. häufig auch dann gegeben, wenn kein realistischer Anlass für sie besteht, ferner steht Josef in der besonderen Gunst des Vaters.
Vor diesem Hintergrund stellt sich dem Rezipienten unmittelbar die Frage nach der Intention der Handlung: Was drängt Josef dazu das im Schlaf Erschienene seinen bereits an ihm zweifelnden Brüdern mitzuteilen? Dass sich seine Träume nicht unmittelbar erfüllen würden, muss ihm doch bewusst sein. Ist er tatsächlich so weltfremd, dass ihm der Hass der Brüder entgeht? Ist er ein Träumer?
2.4.2 Josef – ein Visionär?
„An zahlreichen Stellen [im Alten Testament] erscheint der Traum als Offenbarungsmittel. Gott vermittelt durch den Traum dem Menschen wichtige Botschaften oder aktuelle Anweisungen“ (Boecker, 2003, 19). Die Perikope schildert kein direktes Eingreifen Gottes, auch namentlich findet er keine Erwähnung (vgl. Albani und Rösel, 2007, 53). In Anbetracht der hier analysierten Charakterzüge Josefs (arrogant, naiv), gilt es aber dennoch abzuwägen, ob dieser seine Träume nicht trotzdem als eine Art Gottesoffenbarung begreift. Diese Einschätzung folgt u.a. dem Wissen um seine zu Beginn skizzierte, untergeordnete Rolle: „[Josef] war Gehilfe bei den Söhnen Bilhas und Silpas“ (Gen 37,2). Es ist anzunehmen, dass ihm dieser Status missfällt, er scheint sich lapidar ausgedrückt für `etwas Besseres´ zu halten? Als Resultat der Bevorzugung durch den Vater wäre es weiterhin nicht verwunderlich, wenn Josef durch Narzismus geprägt ist. „Jakob […] machte ihm einen bunten Rock,“ (Gen 37,3). Dieses Geschenk ist insofern etwas Besonderes, als das die Prinzessinnen im Alten Testament solche Gewänder tragen (2 Sam, 13,18f.) (vgl. Ruppert, 1965, 33). Im soeben Beschriebenen erkennt diese Arbeit Argumente dafür, dass Josef das Geträumte als realistisch betrachtet, vielleicht versteht er es sogar als logische Konsequenz seines für sich selbst erhofften Daseins: „Siehe wir banden Garben auf dem Felde, und meine Garbe richtete sich auf und stand, aber eure Garben stellten sich ringsumher und neigten sich vor meiner Garbe“ (Gen 37,7).
Mit wem, wenn nicht mit der eigenen Familie soll das Wissen um eine solche Wirklichkeit geteilt werden? Kann Josef vor dem Hintergrund der Ernsthaftigkeit, die er möglicherweise hinter seinen Träumen vermutet, nicht vielmehr als ein Visionär, als ein Mann verstanden werden, der für seine Wünsche und Ziele einsteht? Boecker erklärt, dass Josef durch das Erzählen seiner Träume ein Tabu bricht; er spricht mit seinen Brüdern, die eigenständig keinen Kontakt zu ihm aufnehmen (vgl. Boecker, 2003, 18): „Und sie wurden ihm noch mehr Feind um seines Traumes und seiner Worte willen“ (Gen 37,8 Hervorh. durch N.S). Wird davon Abstand genommen Josef auf Charakteristika wie naiv und eitel zu reduzieren, dann kann die Mitteilung seiner unliebsamen Träume auch als eine Handlung, zeugend von Mut und Selbstcourage verstanden werden. So impliziert das Brechen eines Tabus nicht unbedingt ein Fehlverhalten. Josef spürt vielleicht, dass in seinen Träumen weit mehr Bedeutung liegt als Außenstehende erahnen, argumentiert Lux (vgl. Lux, 2001, 82). Weiterhin führt Boecker aus, dass das Erzählmotiv in Gestalt des Doppeltraums („ Da hatte Josef einmal einen Traum […] (Gen 37,5) […], und er hatte noch einen zweiten Traum, […] (Gen 37,9)), stets zum Ausdruck kommt, wenn sich im Geschehen der Erzählung ein Wendepunkt auftut (vgl. Boecker, 2003, 18). Möglicherweise vollzieht sich hier eine solche Umkehr, ein neuer Anfang?
Interessant in diesem Zusammenhang ist Jakobs Reaktion: Er ist zwar erzürnt über Josefs scheinbaren Übermut, dennoch billigt er diesen „ Aber sein Vater behielt diese Worte“ (Gen 37,11). Jakob schenkt den Träumen Beachtung, er spürt wohlmöglich eine göttliche Fügung dahinter, so Westermann (vgl. Westermann, 1990, 25). Und vielleicht fühlt auch Josef unbewusst die Zukunft, die ihn erwartet: „Und weiter sprach der Pharao zu Josef, siehe ich habe dich über ganz Ägyptenland gesetzt“ (Gen 41,41).
2.4.3 Josef – Träumer oder Visionär?
Die folgende Ausführung verfolgt auf Basis der gewonnen Erkenntnisse das Ziel, eine Annäherung beider Tendenzen zu erreichen. Dabei agiert der Träumer hier im Sinne eines unbedacht Handelnden, der Visionär nimmt die Rolle des überzeugten Kämpfers ein.
In Gen 37,2-11 begegnet der Rezipient dem jungen, selbstbewussten Josef; dieser fällt im Zuge der Bevorzugung durch den Vater in die Ungnade seiner Brüder (vgl. Lux, 2001, 9). Doch es ist nicht alleine die Vorliebe Jakobs, die Josef zum Verhängnis wird. „Die Sonne und der Mond und elf Sterne neigten sich vor mir“ (Gen 37,9). Auch sein eigenes Handeln löst Kontroversen aus (vgl. Ruppert, 1965, 33). Beide Tendenzen, die im Vorfeld besprochen sind, treten in Gen 37,9 unmittelbar nebeneinander auf: Visionär und Träumer. Der Visionär glaubt an seine Vorstellung, er steht für sie ein: „Und er hatte einen zweiten Traum den erzählte er seinen Brüdern […]“ (Gen 37,9). Josef berichtet zwar furchtlos von seinen Träumen, gleichzeitig verliert er sich jedoch in ihnen und handelt unbewusst, ohne Rücksicht auf die Folgen seines Vorgehens. „Und seine Brüder wurden neidisch auf ihn“ (Gen 37,11).
Betrachtet man das Geschehen jedoch aus einer anderen Perspektive als dieser, eröffnet sich folgende Frage: Wäre Josef durch ein weniger naives und hochtrabendes Verhalten das gleiche Schicksal widerfahren, hätte er die nötigen Erfahrungen gesammelt, die ihn später veränderten? Des Weiteren verleihen diese Züge dem Charakter Josef etwas sehr Menschliches und damit für den Rezipienten Authentisches.
Auch wenn Kapitel 2.4.2 vorschlägt Josef als Visionär zu betrachten, liefert Gen 37,2-11 doch nicht die schlagenden Argumente dafür. Es überwiegt stets die Frage um das Warum seiner Handlung. Nach intensiver Auseinandersetzung mit der Perikope kommt die Arbeit zu folgendem Ergebnis: Aufgrund der Ambivalenz seines Status als Lieblingssohn - „Josef ist etwas Besonderes“ (Boecker, 2007, 18) - sowie als Untergeordneter (Gehilfe der Brüder), ist zu vermuten, dass Josef das Geträumte nicht unrealistisch erscheint. Er erkennt darin vielleicht tatsächlich eine Botschaft von höherer Bedeutung (vgl. Lux, 2001, 82). Trotzdem scheint Josef in Gen 37,2-11 in erster Linie `sich selbst der Nächste´ zu sein, er bringt seine Brüder in Verruf und provoziert sie mit seinen Träumen, schließlich zeigt selbst Jakob sich ihm gegenüber erbost: „Und als er das seinem Vater und seinen Brüdern erzählte, schalt ihn sein Vater [...]“ (Gen 37,11). In Folge der genannten Gründe kann vermutet werden, dass die Träume in V7 und V9 das Spiegelbild Josefs eigentlich gewünschten Daseins darstellen. Diese Ausführung kommt daraufhin zu der Einschätzung, dass Josef in Gen 37,2-11 ein Träumer ist; ein junger Mann, der sich selbst in einer anderen Rolle sieht, als der des einfachen Hirtens. Doch zeigen sich in dieser Geschichte auch potentielle Qualitäten eines Visionärs, so die beschriebene Selbstcourage und der Mut Josefs, die jedoch erst im weiteren Verlauf seines Lebens positiv zum Tragen kommen.
3. Diachrone Beobachtungen: Umfeld der ägyptischen Diaspora?
„Man ist sich heute ziemlich einig, dass sich die Josef-Erzählung auf kein historisch greifbares Geschehen zurückführen lässt“ (Krauss u. Küchler, 2005, 8).
Schauplatz von Gen 37,1-11 ist das Land Kanaan, (im Altertum südl. Teil Syriens, Palästina, der heutige Staat Israel und die von ihm beanspruchten Gebiete im Westjordanland), welches in früheren Zeiten insbesondere für Ackerbau und Viehzucht bekannt ist (vgl. Krauss u. Küchler, 2005, 9).
Die Josefsgeschichte wird als eine zusammenhängende Komposition betrachtet (davon ausgenommen Kap. 38, 48 u. 49). Da einige Texte von Gen 37-50 Unregelmäßigkeiten sprachlicher und inhaltlicher Gestalt aufweisen, werden sie größtenteils dem früheren Jerusalemer Geschichtswerk (JG; vgl. Zenger, 2006, 119f.; von Rad rechnet sie noch den Quellen J und E zu, vgl. von Rad, 1976, 284) zugedacht, sowie einige spätere priesterschriftliche Teile angenommen, bzw. eine Redaktion, die im Sinne dieser agiert Lux (vgl. Lux, 2001, 219). Dabei wird P. als eine Größe verstanden, die sich im Zuge ihres Daseins stetig weiter entwickelt hat. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen einer priesterlichen Grundschrift (PG.) und sekundären Zusätzen (PS.), die sich auf diese beziehen (vgl. Zenger, 2006, 159 ff.). Laut Krauss und Küchler fokussiert die moderne Bibelwissenschaft eine Datierung der Niederschrift während des babylonischen Exils (587-539 v. Chr.) (vgl. Krauss u. Küchler, 2005, 8 u. vgl. Albani und Rösel, 2007, 42).
Neben dem babylonischen Exil kennt die Forschung ebenfalls eine ägyptische Diaspora (spätestens ab dem 6. Jh. v. Chr.). Dabei haben nicht nur die Furcht vor einer möglichen Vergeltung der Babylonier die Menschen ins ägyptische Exil getrieben, sondern auch die Angst vor einer Hungersnot (vgl. Lux, 2001, 233). Vor dem Hintergrund dieser Annahmen geht Lux davon aus, dass der Verfasser der Josefsgeschichte und damit von Gen 37,1-11 im direkten Umfeld der ägyptischen Diaspora zu suchen ist. Dies, so begründet er, „würde die vom Erzähler vorausgesetzte Existenz aller Söhne Jakobs in der Fremde gut erklären“ (Lux, 2001, 223) und auch dessen Offenheit gegenüber Ägypten lässt diesen Schluss zu.
Im Rahmen einer redaktionsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit der Josefserzählung führt Westermann aus, dass sich die Verse Gen 37,12-17 problemlos an die Verse 3 und 4 anschließen könnten, der Kontext der Geschichte sei weiterhin lückenlos verständlich. (Westermann, 1982, 30). Wie dieser verweist jedoch auch Kebekus auf Unstimmigkeiten in der redaktionellen Bearbeitung der vorliegenden Perikope, so nennt er z.B. als Indiz für eine isolierte Betrachtung von V2 die unterschiedlichen Bezeichnungen der Patriarchen (vgl. Kebekus, 1990, 13). Rudolph erhebt zwar Einspruch gegen den Namenswechsel (Jakob und Israel) als literarkritisches Kriterium, findet aber auch keine zufriedenstellenden Beweise, die diesen hinreichend unterstützen (vgl. Schmitt, 1980, 24 zit. n. Volz u. Rudolph, 1933, 149). Im weiteren Erzählverlauf treten Unstimmigkeiten ähnlicher Art kontinuierlich auf.
4. Stimmen aus der Forschung
Hier sollen dreierlei Meinungen bezüglich der Vorgehensweise Josefs im Zusammenhang der Mitteilung seiner Träume dargestellt werden:
4.1 Josef, der Rücksichtslose:
„Unbefangen-dreist erzählt er seine aufreizenden Träume“ (Dietrich, 1989, 57).
4.2 Josef, der Eitle:
„Die Brüder deuten die Träume als Wunschträume eines Eitlen. Tiefenpsychologisch haben sie recht. Aber aus theologischer Sicht sind ihnen die Augen für Gottes Wirklichkeit verschlossen“ (Laubi, 1985, 91). Dementsprechend ist es zwar einerseits Eitelkeit, die Josef zum Erzählen drängt, andererseits ist es das Wissen um Gottes Wirklichkeit, das ihm zum Mitteilen seines Traumes animiert.
4.3 Josef, der Naive:
Vor dem Hintergrund kindlicher Naivität berichtet Josef von seinen Träumen (vgl. Lux, 2001, 81).
Literaturverzeichnis
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Kebekus, Norbert, 1990, Die Josefserzählung. Literarkritische und redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Genesis 37-50 (Internationale Hochschulschriften), Münster/New York
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Worterklärungen:
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„1. Gebiet, in dem die Anhänger einer Konfession oder Ethnie gegenüber einer anderen in der Minderheit leben; 2. die konfessionelle oder ethnische Minderheit selbst.“ (www.wissen.de/wde/generator/wissen/ressorts/bildung/index,page=1083442.html, 30.09.2009).
Pentateuch: Pentateuch bezeichnet die Einheit der fünf Bücher Moses, das Wort stammt aus dem griechischen. „Von seinem Umfang her war der Pentateuch für eine einzige Buchrolle zu lang. Seine Aufteilung in fünf Rollen geschah allerdings nicht nach buchtechnischen, sondern nach inhaltlichen Gesichtspunkten.“ (Zenger, 2006, 62)
Toledot: Begriff stammt aus dem Hebräischen und bezeichnet eine Geschlechterfolge, die z.B. eine genealogische Abstammungsliste oder den Eingang in eine neue Handlung einleitet. Jakobs Toledot berichtet demnach von seinen Söhnen (vgl. Krauss u. Küchler, 2005, 14).