Clevere Verhandlung – Die Verbindung von Lösung und Leviratsehe durch Boas

Katharina Ellinghaus

Kurzbeschreibung:
Der vorliegende Beitrag untersucht die Textstelle Rut 4,1–12. Die Perikope beschreibt die Situation um die Moabiterin Rut und ihre Schwiegermutter Noomi, die in Bethlehem, der Heimatstadt von Noomis Familie, aufgrund des Todes ihrer männlichen Verwandten sowohl wirtschaftlich als auch sozial auf sich allein gestellt sind. Dennoch schaffen sie es mit Hilfe des männlichen Protagonisten Boas, sich einen Platz in der Gesellschaft zu sichern, indem Boas das Grundstück von Noomis verstorbenem Mann kauft und Rut mittels einer Form der Leviratsehe zur Frau nimmt.
Zusätzliche Autoreninformation: Katharina Ellinghaus
Studentin
Kategorie:
Bibeltheologische Komm.
Bibelstellenbezug:
Rut 4,1-12
Zusätzliche Skripturen:
Dtn 25,5 Lev 25,23ff. Neh 13,1–34 Neh 13,23–29 Mt 1,2.
Weitere Schlagworte:
Altes Testament; Älteste; Ältestenrat; Armut; Ausländer; Besitz; Ehe; Emanzipation; Erbe; Erlöser; Familie; Feministische Theologie; Frau; Löser; Moab; Not; Patriarch; Randgruppen; Recht; Ruth; Schwagerehe; Solidarität; Stammbaum (Jesu); Weiblichkeit.
Letzte Aktualisierung:
07.01.2022


Inhaltsverzeichnis

1. Erster Leseeindruck

2. Synchrone Zugangsweise: Boas als Zentrum der Perikope

     2.1 Abgrenzung der Perikope und Einordnung in den Kontext

     2.2 Gliederung des Textes

     2.3 Boas als Protagonist

           2.3.1 Strukturanalytische Beobachtungen zur Figur des Boas

           2.3.2 Inhaltsanalytische Beobachtungen zur Figur des Boas

     2.4 Der Schlüsselbegriff "lösen"

     2.5 Argumentationsweg der Perikope

3. Diachrone Beobachtungen: Patriarchale Erweiterungen

     3.1 Literar- und redaktionsgeschichtliche Analyse

     3.2 Überlieferungsgeschichtliche Analyse    

     3.3 Motivik und traditionsgeschichtliche Hintergründe

4. Stimmen aus der Forschung zum Rutbuch

     4.1 Weibliche Perspektiven

     4.2 Idylle als Utopie

     4.3 Das Rutbuch und aktuelle Lebensfragen

Literaturverzeichnis

1. Erster Leseeindruck

Das Buch Rut stellt für mich persönlich eine große Faszination dar. Es ist eines der wenigen Bücher, das explizit die Perspektive von Frauen einfängt. Die Weltsicht des Buches spiegelt die Lebensrealität von Frauen in einer patriarchalen, androzentrischen Welt wider - und legt den Fokus deshalb besonders auf die Solidarität und die Verbundenheit zwischen weiblichen Protagonistinnen. Kapitel 4 ist innerhalb dieses sehr weiblich zentrierten Buches eine unerfreuliche Ernüchterung, denn es verdeutlicht: Das wirtschaftliche und soziale Leben von Frauen ist trotz wohlgemeinter Bemühungen und Interpretationen in der damaligen Welt eindeutig von Männern abhängig. Und obwohl die einzige Lösung für die Absicherung der beiden Frauen ein Mann ist, bleibt das Buch Rut in seiner Konzeption und dem Fokus auf die Protagonistinnen und ihrer Weltsicht besonders.

2. Synchrone Zugangsweise: Boas als Zentrum der Perikope

2.1 Abgrenzung der Perikope und Einordnung in den Kontext

Die Textstelle Rut 4,1-12 ist nach vorne hin deutlich abgegrenzt. So endet das Kapitel 3 in den Versen 16-18 mit einem Dialog Noomis und Ruts, nachdem Rut den Schauplatz - die Tenne - nach der mit Boas verbrachten Nacht verlassen hat. Kapitel 4 beginnt mit einer neuen Ortsbeschreibung, nämlich dem Stadttor Bethlehems, und einem Wechsel der Protagonist*innen, da Boas direkt im ersten Satz des Kapitels als Hauptfigur auftritt. Nach hinten ist die Textstelle Rut 4,1-12 ebenso abgegrenzt. Vers 11 und 12 enden mit den Segens- und Glückwünschen der Ältesten, also den Zeugen des soeben rechtskräftig geschlossenen Vertrages. Vers 13 stellt sowohl einen inhaltlichen als auch einen zeitlichen Sprung in der Handlung dar, indem er die Schwangerschaft Ruts durch Boas belegt und im selben Vers Obed, den Sohn Ruts und Boas, auftreten lässt. Rut 4,1-12 ist also inhaltlich sowohl von vorne als auch nach hinten abgegrenzt und lässt sich als sinnvolle Einheit lesen.

2.2 Gliederung des Textes

Eine Strukturanalyse von Rut 4,1-12 ergibt folgende mögliche Gliederung in strukturelle Abschnitte: 4,1-2 Narrative Exposition: Beschreibung der Szenerie; 4,3-6 Dialog I; 4,7-8 Narrativer Part: Beschreibung der rechtlichen Vorgehensweise; 4,9-10 Dialog II; 4,11-12 Abschlussworte: prophetische Segenswünsche. Die Perikope beginnt mit einer narrativen Exposition, die die Szenerie der folgenden Erzählung veranschaulicht und die Leser*innen in den Ort der Erzählung, das Stadttor, einführt. Die beiden Dialoge werden durch eine Rechtsbelehrung unterbrochen. Den Abschluss bilden die Segenswünsche, die bereits einen prophetischen Charakter aufweisen.

2.3 Boas als Protagonist

Beim Lesen der Perikope Rut 4,1-12 ist besonders die Präsenz der Figur des Boas auffallend. Im Folgenden sollen sowohl strukturanalytische als auch inhaltsanalytische Beobachtungen zu diesem Protagonisten erläutert werden.

2.3.1 Strukturanalytische Beobachtungen zur Figur des Boas

Boas ist der zentrale Charakter der Textstelle. Um ihn herum ist die gesamte Handlung konstruiert und nur von ihm gehen Handlungen und Dialoge aus. Rut und Noomi, deren Zukunft das inhaltliche Zentrum der Episode bildet, kommen in den Dialogen nicht zu Wort - sie sind nicht einmal anwesend. Von Boas geht die Handlung aus: er ist aktiv und er wirkt auf die Gesprächspartner aktivierend. Auch ein Großteil der deiktischen Momente der Handlung belaufen sich auf die Person des Boas. So finden sich beispielsweise folgende Sätze: "Da sagte er [Boas]: Komm herüber, setze dich hierher, du Soundso! Und er kam herüber und setzte sich." (Rut 4,1). Ebenso gestaltet sich die Redesituation: Boas spricht und fordert Antworten ein. Er ist das Zentrum der Kommunikation. Zwischen den von ihm initiierten Dialogen stehen narrative Episoden. Die Redeart ist nicht einheitlich. So finden sich in dieser Textstelle sowohl gegenwartsbezogene ("Da habe ich nun gedacht, ich will es deinem Ohr eröffnen und vorschlagen", Rut 4,4), als auch retrospektive ("Das Feldstück, das unserem Bruder Elimelech gehörte", Rut 4,3) und prospektive ("An dem Tag, da du das Feld aus der Hand Noomis erwirbst [...]", Rut 4,5) Anteile. Dennoch verläuft die Zeit chronologisch und es gibt keine Sprünge. Auch die "Rückblenden [dienen] der zeitlich linearen Fortentwicklung des Geschehens" (Fischer, 2001, 26) und der Sprecherstandpunkt ist die Gegenwart des Boas. Der Ort ist während der gesamten Handlung derselbe, nämlich das Stadttor und damit die "politische Öffentlichkeit Bethlehems" (Zenger, 1986, 78). Durch den einheitlichen Ort und die chronologische Zeitabfolge wirkt die Struktur des Textes stringent und kommt ohne strukturelle Unterbrechungen aus.

2.3.2 Inhaltsanalytische Beobachtungen zur Figur des Boas

Boas tritt als erster Protagonist in die Handlung ein. Durch zwei in der Exposition auftretende Imperative ist sein Sprechakt bereits in der Exposition festgelegt. Damit geht die Degradierung des ersten Lösers einher. Boas nennt ihn, nachdem die von ihm ausgehenden Imperative direkt-positiv waren, "Soundso" anstatt ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen. In den Versen 1 und 2 wird den Leser*innen bereits verdeutlicht, wer den dominanten und aktiven Part in der folgenden Erzählung einnimmt. Boas Sprechakte sind direkt. Es sind keine indirekten Sprechakte vorhanden. Da der inhaltliche Aspekt der Episode eine Verhandlung ist, stammen die verwendeten Wörter größtenteils aus der Gerichtssprache. Dadurch kommt die wörtliche Reden ohne indirekte Appelle aus, da sie eindeutig und ohne Spielraum für Interpretationen stattfindet. Gefühle werden zu keiner Zeit kundgetan. In der wörtlichen Rede des Boas treten in den zwölf Versen sechs Imperative auf, die von ihm ausgehen, wohingegen der Löser lediglich einen Imperativ verwendet, als er sein zunächst zugesagtes Lösungsversprechen zurückzieht. Die Dominanz des Boas innerhalb dieser Textstelle wird auch durch die Gewichtung seiner wörtlichen Rede deutlich. Die wörtliche Rede des Boas beinhaltet zwölf Sätze, wohingegen der Löser lediglich drei Sätze spricht. Boas erwartet eine Reaktion seiner Zuhörenden und hat dadurch gleichzeitig eine aktivierende Funktion inne. Durch sein Sprechen und Handeln kommt die Szene inhaltlich zum Laufen. Boas verhält sich in Vers 10, nachdem er selbst der Löser wurde, deklarativ, indem er vor den Ältesten erklärt: "Ihr seid heute Zeugen!". Dieser Satz nimmt "Bezug auf einen sozialen oder religiösen institutionellen Rahmen" (Hieke/Schöning, 2017, 99), da die Lösung und die Leviratsehe unter Zeugen stattfinden. Der sich an dieses Zitat anschließende Abschlussdialog der Ältesten hat eine konnektive Funktion. Er stellt die Verbindung zwischen der abgeschlossenen Lösung und der daraus resultierenden Zukunft dar, die die Ältesten prophetieähnlich voraussagen, indem sie der Ehe von Boas und Rut "Nachkommen" (V. 12) zuschreiben. Der Verlauf der Sprechhandlung ist bis zur ersten Zustimmung zur Entscheidung des Lösers steigend. Sie stagniert, als der Löser seine Zustimmung zurückzieht, und erreicht im folgenden Verlauf ihren Höhepunkt in der Annahme der Lösungspflicht durch Boas. Der Text wird durch die inhaltliche und sprachliche Dominanz des Boas gelenkt, wodurch der Fokus der Leser*innen immer wieder auf die Person und die Handlungen des Boas gerichtet wird. Der Erzähler hat die Funktion, in die Handlung einzuleiten und die wörtliche Rede zu verbinden; auch die Erklärung bezüglich des Vollzugs der Lösung wird durch ihn vorgenommen. Der restliche Text wird inhaltlich durch Boas strukturiert. Somit fungiert er als Hauptperson, die zwischen den Figuren vermittelt und den Blick der Leser*innen beeinflusst. Der Text ist durch seine inhaltliche Ausrichtung darauf ausgelegt, den Leser*innen Boas als idealen Löser vorzustellen, sodass der von den beiden Frauen Rut und Noomi im vorherigen Kapitel (Rut 3,1-6 ) entwickelte Plan zustande kommen kann. Dieser Plan wird durch die spannungsreiche Sequenz ins Wanken gebracht, indem Boas den ersten Löser fragt und dieser zunächst der Lösung zustimmt. Erst nach der Zusatzbedingung des Boas, also der Heirat mit Rut, lehnt der Löser sowohl die Lösung als auch die Leviratsehe ab.

2.4 Der Schlüsselbegriff "lösen"

Die Bibelstelle Rut 4,1-12 kreist immer wieder um dasselbe Wort in mehreren grammatikalischen Ausführungen, nämlich um "Löser/lösen". Im Kontext des Alten Testaments bedeutet "das Begriffsfeld 'Lösung/Erlösung' [...] den Vorgang des Loskaufs aus einer wirtschaftlich-sozialen Notlage" (Köhlmoos, 2015, Art. Löser/Loskauf). Besonders in Rechtstexten sind das Auslösen oder der Loskauf von Bedeutung. Im Rutbuch geht es um die Verhandlung des Schicksals der Witwe Noomi und ihrer ebenfalls verwitweten, ausländischen Schwiegertochter Rut. Das Grundstück des verstorbenen Mannes von Noomi soll an einen Löser verkauft werden. Wer dieser Löser letztendlich sein wird, ist zu Beginn der Bibelstelle noch nicht eindeutig. Dennoch liefert der erste Vers von Kapitel 4 bereits einen Hinweis: Boas spricht den ersten Löser nicht bei seinem Namen an und vermittelt den Leser*innen so von Anfang an das Gefühl, dass er keine bedeutende Position einnehmen wird. Auch dass sich eine Leviratsehe mit dem Löser an die Lösung anschließen wird, ist von Noomi zu Beginn des Buches nicht initiiert. Zunächst ist geplant, dass der Löser nur der Lösung zustimmt. Erst durch die geschickte Gesprächsführung des Boas soll es zu einer Leviratsehe kommen, durch die der Löser Noomis Schwiegertochter Rut heiraten soll, um die wirtschaftliche und soziale Existenz beider Frauen zu sichern. "Lösung und Levirat sind eigentlich voneinander unabhängig. Sie werden hier jedoch anscheinend zusammengebracht, um die Frage nach der Versorgung der älteren Noomi und der Ausländerin Rut gleichzeitig zu ermöglichen" (Köhlmoos, 2015, Art. Löser/Loskauf). Die Rechtsregelung bezüglich einer Leviratsehe besagt, dass "ein Mann die Witwe seines verstorbenen Bruders heiratet" (Kessler, 2017, 185). Ist kein Bruder vorhanden, steht das Recht auf eine oder die Pflicht zu einer Leviratsehe einem nahestehenden männlichen Verwandten zu. In den Versen 4,1-12 im Rutbuch wird das Wortfeld "Lösen" elf Mal verwendet und lenkt den Fokus bereits beim ersten Lesen auf den Lösevorgang. Es fungiert in diesem Kapitel als Leitwort, da es sich immer in unterschiedlichen grammatikalischen Formen wiederholt und so den gesamten Text prägt (vgl. Buber, 1954, 159). Die im Text vorkommenden Konzepte von der Lösungspflicht und der Leviratsehe entspringen der gleichen Vorstellungswelt und zeichnen ein androzentrisches Weltbild, das dem des antiken Israels entspricht. Diese patriarchalen Konstrukte der Lösung und der Leviratsehe, die der Absicherung der Frauen dienen, stehen in Kapitel 4 des Rutbuches im Kontrast zu den vorherigen Kapiteln. So sind in den vorangegangenen Episoden des Rutbuches die Frauen diejenigen, die die Pläne für die Lösung und einer damit einhergehenden Absicherung der beiden in die Wege leiten. Die Ausführung und die damit verbundene tatsächliche Absicherung kann allerdings nur mit Hilfe und unter der Obhut eines Mannes, also Boas, stattfinden. Die auffallende Präsenz des Wortes "Löser/lösen" entspricht der Dominanz des auftretenden Boas.

2.5 Argumentationsweg der Perikope

Der Gedankengang des Textes verläuft linear. Die Leser*innen werden von Boas durch die chronologisch ablaufende Handlung geführt. Ein Spannungsbogen prägt das Kapitel. Es erzählt eine Geschichte, deren Ausgang zunächst einen bestimmten Werdegang des Textes voraussetzt, nämlich dass Boas der Löser wird. Da die Verhandlung rechtskräftig sein muss, ist Boas in der Pflicht, zunächst den näherstehenden Verwandten, den er als "Soundso" (V. 1) bezeichnet und ihm dadurch bereits eine untergeordnete Rolle zuordnet, zu fragen, ob er seiner Pflicht nachkommen wird. Der Spannungsbogen erreicht seinen Höhepunkt in Vers 6, als die Entscheidung des Lösers positiv ausfällt und der von Rut und Noomi entwickelte Plan, Boas als Löser einzusetzen, ins Wanken gerät. In der folgenden Handlung flacht der Spannungsbogen wieder ab, da der Löser seine Entscheidung revidiert und Boas auffordert, seine "Lösungspflicht" (V. 6) als nächster im Rang zu übernehmen. Da Boas zustimmt, wird die Spannung durch seine Entscheidung aufgelöst und der Plan kann verwirklicht werden.

3. Diachrone Beobachtungen: Patriarchale Erweiterungen

3.1 Literar- und redaktionsgeschichtliche Analyse

Die Textstelle Rut 4,1-12 ist, wie bereits aufgezeigt, nach vorne und hinten deutlich abgegrenzt und lässt sich als sinnvolle Einheit lesen. Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass der Text an einigen Stellen fortgeschrieben worden ist und redaktionellen Bearbeitungen unterlag. Im Folgenden soll der Fokus besonders auf literarische Brüche und Uneinheitlichkeiten gelegt werden. Die literarische Einheitlichkeit der Textstelle wird durch Vers 7 in Frage stellt. In Vers 7 liegt eine redaktionelle Fortschreibung vor, denn es handelt sich um eine erklärende Glosse, die die Handlung in Vers 8 rechtfertigt und laut Köhlmoos "den Erzählzusammenhang" (Köhlmoos, 2010, 79) unterbricht. Zum einen unterbricht der Vers die dialogische Struktur der Handlung, indem er eine Erklärung für den Schuhritus liefert, derer es in diesem Kontext nicht bedarf. Zum anderen ändert Rut 4,7 den Schuhritus so ab, dass der Löser einer Beschämung durch die Witwe Noomi entgehen kann. Köhlmoos ist der Ansicht, dass so "de[r] scheinbare Widerspruch zwischen Dtn 25,9-10 und Rut 4,8 [ausgeglichen]" (Köhlmoos, 2010, 79) werden soll. Der Vers wirkt somit wie eine patriarchale Aneignung des Schuhritus, wodurch er sich als Fortschreibung zu erkennen gibt. Vers 12 weist im Kontrast zur restlichen Textstelle Differenzen in Redeweise und Stil auf. So "entspricht [er] sprachlich nicht dem Duktus des Grundentwurfs, obwohl er dessen Begrifflichkeit annimmt" (Köhlmoos, 2010, 79). Besonders auffallend ist, dass der Vers, obwohl er inhaltlich zu den prophetischen Segenswünschen der Ältesten zählt, nicht erneut mit "Der HERR mache [...]" (V. 11) beginnt. Inhaltlich fällt auch auf, dass dieser Vers die einzige Stelle in Rut 4,1-12 ist, die heilsgeschichtlich ausgerichtet ist. Die Gestaltung des Verses unterscheidet sich somit deutlich von dem vorangegangenen Text, wodurch der Vers laut Köhlmoos eine "eigenständige Fortschreibung" (Köhlmoos, 2010, 79) darstellt. Widmet man sich der Datierung des Rutbuches, stellt man fest, dass eine präzise Datierung des Buches und damit auch der Textstelle 4,1-12 nur schwer möglich ist, "[weil] das Rutbuch selbst keine eindeutigen Hinweise auf eine Datierung bietet. Es nennt z.B. keinen König oder ein weltgeschichtliches Ereignis (Krieg, Machtwechsel, Erdbeben o.ä.), das die Datierung sicherer machen würde" (Frevel, 1992, 33). Um eine Datierung für den Grundbestand des Rutbuches anzunehmen, verweisen einige Forschungsmeinungen auf den Beginn des Buches, der die Handlung vermeintlich in die Richterzeit datiert: "Zu der Zeit, als die Richter richteten [...]" (Rut 1,1). Frevel merkt zu Recht an, dass es im gesamten Buch keine Verweise auf richterliches Handeln gibt. Er betont, dass insbesondere Kapitel 4 des Rutbuches einer Datierung des Grundbestandes in die Richterzeit widerspricht, da die Ältesten richten und als Zeugen die von Boas angestrebten Rechtsverhältnisse verifizieren (vgl. Frevel, 1992, 33). Eine Datierung des Grundbestandes des Rutbuches in die Richterzeit ist dementsprechend auszuschließen. Datierungsversuche hängen eng mit der Deutung der Textstelle zusammen. Dieser Beitrag schließt sich den Forschungsmeinungen an, die für die Textstelle Rut 4,1-12 eine Entstehung und Bearbeitung in der Perserzeit annehmen. Für die redaktionellen Fortschreibungen wie beispielsweise Vers 7 und Vers 12 sind also noch perserzeitliche oder bereits hellenistische Bearbeitungen anzunehmen (vgl. Fischer, 2006, Art. Rut/Rutbuch).

3.2 Überlieferungsgeschichtliche Analyse

Die frühere alttestamentliche Wissenschaft "rechnete [...] mit einer relativ stabilen mündlichen Überlieferung der Erzählungen bzw. Stoffe von den ersten Anfängen bis hin zur vorliegenden Textgestalt" (Becker, 2015, 70f.). Heutzutage nimmt die Forschung tendenziell eher Abstand von mündlichen Überlieferungen und geht zunehmend von schriftlich-literarischen Überlieferungen aus (vgl. Becker, 2015, 104f.). Auch in der Erzählung um Rut und Noomi muss von einer schriftlichen Überlieferung ausgegangen werden. Es finden sich keine Hinweise darauf, dass der vorliegende Text mündlich überliefert worden ist. Auch thematisch ist die Erzählung der Textstelle tendenziell kein Stoff für mündliche Überlieferungen. Rut 4,1-12 wirkt konstruiert und durchkomponiert. Die juristischen Regeln und der Vollzug rechtlicher Gegebenheiten setzen immenses Vorwissen und gute Kenntnisse der Tora voraus, wodurch eine mündliche Überlieferung unwahrscheinlich ist. Die behandelte Textstelle ist dementsprechend als schriftgelehrte Arbeit anzusehen.

3.3 Motivik und traditionsgeschichtliche Hintergründe

Die Textstelle Rut 4,1-12 weist einige traditionsgeschichtlich relevante Motive auf, deren Erörterung im Folgenden Aufschluss über die geistige Welt des Textes geben sollen. Insbesondere stehen die Lösung und die Leviratsehe im Fokus der Erzählung, weshalb diese beiden Motive ausführlich behandelt werden sollen. Die Verse sind in einer patriarchalen und androzentrischen Lebenswelt entstanden. So ist es nicht verwunderlich, dass die beiden Frauen Rut und Noomi sich nach dem Tod ihrer Männer sozial und wirtschaftlich nur über einen anderen Mann absichern lassen können und dabei den maximalen Handlungsspielraum zur Lenkung der Geschehnisse einsetzen, der ihnen zur Verfügung steht. Zunächst nimmt das Rechtsverfahren der Lösung innerhalb der Perikope Raum ein, um Noomi abzusichern. "Durch das Löserecht werden die Lebensrechte und -möglichkeiten der Sippe geschützt" (Bagorski, 1995, 655). So soll ein nahestehender Verwandter das Grundstück von Noomis verstorbenem Mann erhalten, welcher der Lösung auch vorerst zustimmt. Durch geschickte Gesprächsführung verbindet Boas nun die Lösung mit einer Form der Leviratsehe, um auch Rut absichern zu können. "Die Verbindung von Löse- und Leviratsrecht ist nur bei Rut 4,4-9 nachzuweisen" (Bagorski, 1995, 655). "Die sich mit dem Begriff nach von lat. levir 'Schwager' ableitende Institution hat als grundlegende Struktur, daß die Frau eines ohne Sohn verstorbenen Mannes von einem seiner nächsten Verwandten zur Frau genommen werden soll. Ziel ist es, dem Toten Nachkommen und somit Erben zu verschaffen, damit sein Name erhalten bleibt" (Staszak, 1995, 626). Dieser Bedingung, also der Heirat mit Rut, stimmt der Löser nun aber nicht zu, um sein eigenes Erbteil nicht zugrunde zu richten - inwiefern er seinem Erbteil schaden würde, wird nicht näher erläutert. Da eine Leviratsehe nicht erzwingbar ist, ist der Löser nicht in der Pflicht, diese einzugehen. Der gō'ēl, also der Löser, der nun im Rang als Nächster kommt, ist Boas. "Rut 4 behandelt [also] keine eigentliche L[eviratsehe], sondern Lösung durch einen Verwandten, die jedoch mit der Übernahme der verwitweten Rut verbunden ist" (Staszak, 1995, 627). Rut 4 bezieht sich entfernt auf Dtn 25,5-10; eine alttestamentliche Textstelle, in der die Leviratsehe ebenso erwähnt wird. Nach deuteronomischem Recht ist es die Pflicht des nächststehenden Verwandten, die Witwe zur Frau zu nehmen, sodass er nur unter Entehrung die Möglichkeit hat, der Leviratsehe zu entsagen (vgl. Scharbert, 1982, 312). Da das "Verbum [des Lösens] auf zwei Gebieten zur Verwendung [kommt], einerseits im Rechts- und Gesellschaftsleben, andererseits mit Bezug auf Gottes erlösendes Handeln" (Ringgren, 2020, 886) und der gō'ēl oftmals als Gott identifiziert wird (vgl. Ringgren, 2020, 890), kommt Boas besondere Bedeutung zu. Er fungiert hier nicht nur als Löser, sondern auch als Erlöser der beiden Frauen. Im Zuge dieser Rechtsverfahren ist wie weiter oben beschrieben zu betonen, dass Entehrung eng mit der Absage der Leviratsehe zusammenhing. "Bei Verweigerung der Schwagerehe zog die Witwe dem Bruder des Verstorbenen die S[andale] als Zeichen der Beschimpfung aus (Dtn 25,9; vgl. Kruger). Beim Tauschgeschäft und beim Verzicht auf die Schwagerehe war das Ausziehen und das Überreichen der S. Zeichen des Verzichts und der Übereignung von Besitz" (Metzger, 2001, 443). Rut 4,1-12 verhält sich aber auch in Bezug auf die Beschämung des Lösers abweichend vom deuteronomischen Recht. In der Textstelle im Rutbuch ist es nicht die Witwe, sondern der Löser selbst, der sich die Sandale auszieht. Durch sein aktives Handeln bleibt ihm die Entehrung durch eine Frau erspart. Dennoch wird sein "Versagen" (Köhlmoos, 2010, 75) betont. Es ist möglich, dass der angepasste Ritus einer patriarchalen Aneignung entspringt. Gleichzeitig ist es textdramaturgisch nicht möglich, die Personenkonstellation in dieser Situation anzupassen, da die beiden Frauen in Kapitel 4 des Rutbuches nicht anwesend sind und der Beschämungsritus dementsprechend nicht von einer Frau hätte ausgeführt werden können. Das Tor ist der Ort, an dem lediglich die Männer zu den Verhandlungen zusammenkommen. Hier passt Boas den namenlosen Löser ab, um in ein Gespräch mit ihm zu treten. Das Tor fungiert demnach als Ort der Kommunikation und die Ältesten treten als Zeugen der beschlossenen Verträge und Rechtsangelegenheiten auf. Die traditionsgeschichtlichen Motive lassen Denkmuster erkennen, die zur Erhaltung patrilinearer Gesellschaften dienen. Sowohl Lösung als auch Leviratsehe haben eine Weiterführung des Stammbaums im Blick. Gleichzeitig schwebt die Grundüberzeugung, dass die Menschen JHWH zwar vertrauen dürfen, aber auf seinen Segen angewiesen sind, über den Geschehnissen des Kapitels. Die implizite Präsenz JHWHs lässt somit den handelnden Figuren den Vortritt. "Insofern durchzieht das Rutbuch gerade durch das zurückhaltend gezeichnete Eingreifen Gottes eine Atmosphäre des Gottvertrauens[.]" (Fischer, 2001, 41).

4. Stimmen aus der Forschung zum Rutbuch

Im abschließenden Abschnitt dieses Beitrages sollen Stimmen aus der Forschung zu Wort kommen, die bleibenden Eindruck bei der Bearbeitung dieser Exegese hinterlassen und deren Aussagen meine Sicht auf das Rutbuch maßgeblich geprägt haben. Das Ergebnis dieser Exegese hat deutlich gezeigt, dass Boas als Protagonist auftritt, ohne den weder Lösung noch Levirat - und somit auch das weitere Leben der Frauen - nicht weiter stattfinden können. Und dennoch ist es mir besonders wichtig, die in diesem Beitrag untersuchte Perikope nicht ohne ihre inhaltlichen Verbindungen zum Rest des Buches stehen zu lassen, sondern ebenso die weibliche Perspektive, die im gesamten Buch Rut ausdrücklich vertreten ist, anklingen zu lassen. Die folgenden Zitate stellen unterschiedliche Aspekte heraus, die mir in Bezug auf das Buch Rut wichtig geworden sind.

4.1 Weibliche Perspektiven

Frauen nehmen im Buch Rut eine zentrale Position ein. Sie sind Protagonistinnen - ihr Schicksal wird verhandelt. Und obwohl die Frauen bei der Verhandlung, die ihr weiteres Leben bestimmen wird, nicht aktiv sein können, stellt das Buch Rut die Perspektive von Frauen explizit dar und gibt ihren Stimmen und Ideen Raum. "Ruth ist auf weite Strecken ein Frauenbuch. Die Zentrierung der Geschichte auf die ungewöhnliche Paarung Naomi/Ruth ist einzigartig für das Alte Testament und gibt dem Ruthbuch gerade in neuerer und neuester Zeit Anlass für eine frauenspezifische Wahrnehmung. Dabei gehört zu dieser frauenspezifischen Perspektive des Ruthbuches vor allem eine ganz ungewöhnliche Dekonstruktion, zumindest aber Infragestellung traditioneller Geschlechterrollen. Darin ist das Rutbuch unerwartet "modern" und bis heute ein Ansatzpunkt für die Applikation biblischer Texte auf alltagsweltliche Fragen." (Köhlmoos, 2010, XVII)

4.2 Idylle als Utopie

Im Rutbuch geht es um Menschen und um Begegnungen, die sowohl zufällig als auch durch Gottes schicksalshafte Führung zustande kommen. "So konstruiert das Rutbuch eine Gemeinschaft, in der die Menschen sich aufgehoben fühlen, weil sie geachtet werden. Gegenseitiges Zutrauen bestimmt die Atmosphäre zwischen den Menschen, denen durch die Lebensangst, vor allem aber die Angst vor Fremden, genommen wird und die dadurch weiter ermutigt werden, der Güte ihres Gottes gleich zu handeln und das kodifizierte Gottesrecht lebensförderlich auszulegen und anzuwenden. Von einer idealen, heilen Welt, die nur in Utopia existiert, ist dieses Buch, das von der Überwindung von Hunger, Tod und Emigration handelt, weit entfernt." (Fischer, 2001, 46)

4.3 Das Rutbuch und aktuelle Lebensfragen

Das Buch Rut ist ein Buch, das Stellung bezieht - nicht nur in Bezug auf seinen Sitz im (antiken) Leben, sondern ebenso in Bezug auf aktuelle Lebensfragen unserer Zeit. "Heute ist dieses Buch interessant, weil es nicht nur in der Frage der (Wirtschafts-)Flüchtlinge klar Partei ergreift und solidarisches Handeln nationaler Herkunft vorzieht. Es ist aber auch ein Plädoyer für die Offenheit, andere Lebensformen als nur die klassische Ehe zuzulassen." (Fischer, 2018, 111)

Literaturverzeichnis

Becker, Uwe, 42015, Exegese des Alten Testaments (UTB 2664), Tübingen

Hieke, Thomas/Schöning, Benedict (Hgg.), 2017, Methoden alttestamentlicher Exegese,     Darmstadt

Bagorski, B., 1995, Art. Löserecht, in: NBL II, Zürich, 655–656

Buber, Martin, 1954, Zu einer Verdeutschung der Schrift. Beilage zum ersten Band (Die fünf         Bücher der Weisung), Köln

Fischer, Irmtraud, 2001, Rut, HThKAT, Freiburg im Breisgau

Fischer, Irmtraud, 2006, Art. Rut/Rutbuch, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (wibilex), (Zugriffsdatum 27.03.21), www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/rut-rutbuch/ch/1aed6c26070b1f08749f8accf451b05b/

Fischer, Irmtraud, 2018, Das Buch Rut. Von fähigen Frauen, Wirtschaftsflüchtlingen und   gelungener Integration, in: 73 Ouvertüren. Die Buchanfänge der Bibel und ihre Botschaft, 107–112

Frevel, Christian, 1992, Das Buch Rut, NSK.AT 6, Stuttgart

Kessler, Rainer, 2017, Familie, Sippe, Stamm, in: Dietrich, W. (Hg.), Die Welt der Hebräischen       Bibel, Stuttgart, 183–196

Metzger, Martin, 2001, Art. Sandale, in: NBL III, Düsseldorf/Zürich, 442–443

Ringgren, Helmer, 2020, Art. גְּאֻלָּה ,גֹּאֵל גָּאַל, in: ThWAT, Darmstadt, 884–890

Scharbert, Josef, 1982, Art. Ehe/Eherecht/Ehescheidung II.3, in: TRE IX, Berlin, 312–313

Staszak, Martin, 1995, Art. Leviratsehe, in: NBL II, Zürich, 626–627

Witzenrath, Hagia Hildegard, 1975, Das Buch Rut. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung,   München

Zenger, Erich, 1986, Das Buch Ruth, ZBK 8, Zürich

Köhlmoos, Melanie, 2015, Art. Löser/Loskauf, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (wibilex), (Zugriffsdatum 12.03.21), www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/loeser-loskauf/ch/ee9051757228e8e0f99fe1484e0eb940/

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