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(erstellt: November 2016)

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Das deutsche Wort „Gräuel“ bezeichnet etwas Abscheuliches, z.B. eine abscheuliche Tat. In deutschen Bibelübersetzungen gibt „Gräuel“ den hebräischen Begriff תּוֹעֵבָה tōʽevah wieder, der im Alten Testament 117-mal vorkommt. Er ist ein Gegenbegriff zu רָצוֹן rāṣôn „Wohlgefallen“ (→ Wohlgefallen). Mit ihm werden Personen, Handlungen, Einstellungen, Objekte und fremde Götter abqualifiziert, um eine strikte Abgrenzung von ihnen zu fordern. Dabei ist in der Wortbedeutung ein starkes emotionales Element enthalten, das sich auch in dem denominativ gebildeten Verb תעב tʽb „verabscheuen“ widerspiegelt (z.B. Dtn 7,26; Dtn 23,8; Hi 19,19; Am 5,10; Mi 3,1 etc.) sowie in der beklagten Erfahrung, den Freunden gegenüber zur „Abscheu“ gemacht worden zu sein (Ps 88,9).

„Gräuel“ kennzeichnet – auch emotional verstärkt – die Handlungen, Sachen, Personen, Einstellungen und Fremdgötter, die JHWH und / oder seinem Volk ihrem Wesen nach widersprechen. Dabei zeigt sich ein in einzelnen Textbereichen spezifischer Gebrauch: „Gräuel“ bezeichnet Handlungen, die die Familienstruktur sowie den gesellschaftlichen Zusammenhang gefährden und von denen sich die Israeliten deshalb abgrenzen sollen (Heiligkeitsgesetz). Weiterhin qualifiziert „Gräuel“ solche Praktiken, Personen und Zustände, die der Einzigkeit JHWHs bzw. dem Wesen seines „heiligen Volkes“ (→ Volk) widersprechen und von denen sich JHWH abgrenzt bzw. sein Volk sich abgrenzen soll – auch durch juristische Maßnahmen (Deuteronomium und deuteronomistische Literatur). „Gräuel“ kann geradezu die Summe aller Sünden bezeichnen, kultischer wie ethischer Art, durch die das Volk JHWHs das „Land“ verunreinigt hat (Ezechiel). Schließlich wird es als Tadel verwandt, um durch den Entzug von Anerkennung die Ausgrenzung aus der Gesellschaft anzuzeigen. Insofern wird in den verschiedenen Textbereichen mit „Gräuel“ gekennzeichnet, was zwischen JHWH, seinem Volk und in der Gesellschaft untereinander fraglos unterbleiben soll.

1. „Gräuel / Abscheu“ in der Umwelt des Alten Testaments

Der Gedanke, dass eine Person, Sache oder Handlung abgelehnt bzw. sich davon distanziert wird, findet sich auch in der Umwelt des Alten Israel, wenn auch mit anderer Terminologie. So werden im Alten Ägypten Lüge, Usurpation, aber auch bestimmtes Essen verabscheut bzw. ein „Abscheu“ genannt (vgl. Assmann, 142-146), wobei ein besonderes Augenmerk auf unsolidarischem Kommunikationsverhalten liegt, wie die Lüge oder der Aufruhr, der die politische Ordnung gefährdet (sowohl für andere Menschen wie auch für Götter, vgl. Assmann, 157-159.201-212[212!]). In Weisheitstexten, wie der → Lehre des Amenemope, werden Heuchelei und der Einsatz der Schreibkunst zum Nachteil anderer als „Gräuel / Abscheu“ (für einen Gott) benannt (vgl. Preuß, 589; Fox, 167).

In Mesopotamien kann mit äquivalenten Worten, wie bes. akkadisch ikkibu(m), die Abscheu vor anderen Menschen oder auch Göttern ausgedrückt sein, insbesondere vor Handlungen, die Menschen oder Götter nicht tun sollen. Dazu zählen das Essen bestimmter Speisen, kultische Vergehen (z.B. Betreten eines Kultortes trotz Unreinheit; Gegenwart eines Schweines) und ethisches Fehlverhalten (Lüge, Diebstahl etc.; vgl. DAC I/J 55-57 und die Auswahl der Beispiele bei Preuß, 589-590).

2. „Gräuel / Abscheu“ im Alten Testament

Auch im Alten Testament begegnet der Begriff „Gräuel“ bzw. „Abscheu“ in sehr unterschiedlichen Kontexten. Eine einlinige Ableitung aller Verwendungsweisen aus ein und demselben Kontext, etwa aus dem Kult (z.B. Wildberger, 36; Meinhold 1990, 87) oder – so im Blick auf die Wendung „Gräuel für JHWH“ – aus der Weisheit (so Weinfeld, 296-297), ist angesichts der ganz verschiedenen Verwendungsweisen auch innerhalb eines Textbereiches wenig wahrscheinlich. Der folgende Überblick über Vorkommen von „Gräuel“ orientiert sich vor allem an deren gehäuftem bzw. hervorgehobenem Gebrauch in spezifischen Textbereichen. Sie werden hier in der kanonischen Reihenfolge der Hebräischen Bibel präsentiert, wenngleich der Bereich der alttestamentlichen Weisheit eine hervorgehobene Stellung hat. Denn in der → Weisheit wird nicht nur Israels Kontakt zu anderen Kulturen des Alten Vorderen Orients greifbar, sondern auch die Funktion der Qualifikation als „Gräuel“ im Rahmen der Erhaltung des gesellschaftlichen Lebens als → „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ ersichtlich.

2.1. „Gräuel“ im Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26)

Der Begriff „Gräuel“ kommt im sogenannten → „Heiligkeitsgesetz“ (Lev 17-26) im Rahmen der Definition von Familie und Gesellschaft vor sowie in den sich daran anschließenden Sanktionen zu Vergehen gegen diese Ordnung (Lev 18-20; vgl. Ruwe, 365-366). Durch die Sicherung von Familienstrukturen und Fortpflanzung soll gesellschaftliche Stabilität gewährleistet werden (vgl. Hieke, 689). Dem dienen klare Trennungen und Zuordnungen bei der Definition von Familie und Gesellschaft (vgl. Ruwe, 185). Mit solcher Trennung und Zuordnung vollzieht sich eine „Restitution der ursprünglichen Schöpfung“, für die das „Scheiden / Trennen“ und Zuweisen ebenfalls konstitutiv ist (vgl. Gen 1,1-2,3 sowie Ruwe, 185-186). In diese Hervorhebung des „Trennens“ bzw. der Abgrenzung fügt sich der Gebrauch des Begriffes „Gräuel“ in Lev 18 und Lev 20 ein, wo er vor allem bestimmte sexuelle Handlungen negativ bewertet (→ Sexualität).

So sind die Sexualbestimmungen in Lev 18,19-23 „als Trennungsvorschriften interpretierbar“ (Ruwe, 181): Das Verbot des Beischlafes eines Mannes mit einem anderen Mann (Lev 18,23) zielt auf die Unterscheidung der Geschlechterrollen. „Männliches“ und „Weibliches“ soll nicht vermischt werden, so wie der Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht vermischt werden soll (Lev 18,23b; vgl. Ruwe, 181). Die Paränese in Lev 18,24-29 läuft darauf hinaus, dass die Hörer nicht die Gräuel tun, die die vor ihnen in Kanaan lebenden Völker verübt – und damit das Land verunreinigt – haben. Wenn sie diese Abgrenzungen beachten, leben sie „heilig“ (→ heilig).

2.2. „Gräuel“ im Deuteronomium und davon beeinflusster Literatur

Im → Deuteronomium begegnet sowohl der Begriff „Gräuel“ (Dtn 7,26; Dtn 13,15; Dtn 14,3; Dtn 17,4; Dtn 18,9.12; Dtn 20,18; Dtn 24,4; Dtn 32,16) als auch die Formel „Gräuel für JHWH“ (Dtn 12,31; Dtn 27,15) bzw. „Gräuel für JHWH, deinen Gott“ (z.B. Dtn 7,25; Dtn 17,1; Dtn 22,5; Dtn 23,19; Dtn 25,16). Jeweils geht es um Handlungen oder Personen, die der Eigenart und Einzigkeit JHWHs bzw. der Vorstellung von JHWHs Volk als einem Volk von Brüdern widersprechen (vgl. Preuß, 585). Der Hauptschwerpunkt liegt dabei auf den Gesetzesbestimmungen in Dtn 12-26. Diese betonen einerseits die scharfe Abgrenzung von den ursprünglichen Völkern Kanaans und ihren Fremdgötterkulten und Fremdgötterpraktiken (Dtn 12,31; Dtn 18,9.12; Dtn 20,18; → Monotheismus) und beschreiben gerichtliche Verfahren, mit denen die Apostasie zu diesen Fremdgöttern und Praktiken innerhalb des Gottesvolkes festgestellt werden soll (Dtn 13,15; Dtn 17,4). Zugleich klären sie mit der Qualifizierung als „Gräuel“, welches Verhalten der Beziehung zu JHWH und der Bestimmung Israels als „heiligem Volk“ (Dtn 7,6; Dtn 14,2.21; Dtn 26,19; Dtn 28,9) von Brüdern angemessen bzw. unangemessen ist. Ein „Gräuel“ ist beispielsweise das Opfern von Tieren mit Fehlern (Dtn 17,1), das Essen von unreinen Tieren (Dtn 14,3), das Vertauschen von Männer- und Frauenkleidern (Dtn 22,5), der Dienst von „Qedeschen“ (Kultprostitution?; Dtn 23,18-19; → Hurerei), die Wiederheirat (Dtn 24,4) sowie der Handel mit falschen Gewichten (Dtn 25,16).

In Dtn 12,31 steht das Molochopfer (Kinderopfer für den Gott → Moloch) pars pro toto für alle Praktiken, die mit dem Glauben an JHWH nicht vereinbar sind und von denen sich die Hörer der Moserede abgrenzen sollen.

Dtn 13,15 thematisiert ein Verfahren, mit dem die Anklage der Apostasie einer ganzen Stadt überprüft werden soll.

Die affektive Ablehnung der Bewohner des Landes, die „Gräuel“ verüben und fremde Götter anbeten, wird in Dtn 14,3 verbunden mit der Ablehnung des Genusses unreiner Tiere. Beachtet man, dass in der religiösen Symbolwelt des Alten Israel die Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Tieren die Sonderstellung des Volkes im Gegenüber zu den anderen Völkern vergegenwärtigt (dazu u.a. Wenham, 168-171), wird die ungewöhnliche Kombination der aus priesterschriftlichen Texten bekannten Speisegebote mit dem im Kontext des Deuteronomiums auf Abgrenzung von den bisherigen Landbewohnern zielenden Begriff „Gräuel“ verständlich.

Wie in Dtn 14,3 so geht es auch in Dtn 17,1.4 um das angemessene Verhalten als Volk JHWHs. Entsprechend wird in Dtn 16,18-17,7 die kultische → Reinheit am von JHWH erwählten Ort thematisiert und eingebunden in die Gerichtsordnung der Lokalgerichte (Otto 2016, 1436). Dabei begegnet in Dtn 17,4 „Gräuel“ ähnlich wie in Dtn 13,15 im Rahmen der Feststellung der Richtigkeit einer Anklage zur Apostasie, die hier in die Verantwortung der Lokalgerichte gestellt wird (vgl. die Ausführungen in Otto 2016, 14472-1473). Dtn 17,1 hält die Fehlerlosigkeit der Schlachtopfertiere fest. Dabei stellt Dtn 17,1 wohl eine Beziehung zu Dtn 15,21 her (mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen Gertz, 58; McConville, 288-289). Dieser Bezug erklärt freilich noch nicht die rhetorische Funktion des Insistierens auf unversehrten Opfertieren im Kontext. Die zentrale Position der kultischen Bestimmungen inmitten der Gerichtsordnung, hebt hervor, dass das zentrale Gebot im Deuteronomium die Loyalität zu JHWH ist (vgl. McConville, 288). Dabei steht der Ablehnung der kanaanäischen Kulte (Dtn 16,21-22) die ganzheitliche Hinwendung zu JHWH gegenüber (Dtn 17,1), wie sie für den Kultus angesichts der Sphäre des → Heiligen allein angemessen ist (vgl. McConville, 289 mit Verweis auf Wenham, 23-25).

In Dtn 18,9.12 dient die Erwähnung der „Gräuel“ dem Verweis auf die jahwefeindlichen Praktiken der Völker, die Israel vertreiben wird. Diese „Gräuel“ bilden die negative Folie, von der sich die Adressaten abgrenzen sollen. Von den gleichen Praktiken ist dann auch in Dtn 20,18 die Rede, eine Begründung für den → Bann an den Völkern Kanaans.

Das Verbot des Kleidertausches in Dtn 22,5 (z.T. „Travestieverbot“ genannt) mit der Qualifizierung „Gräuel“ steht zusammen mit weiteren Verboten unerlaubter Vermischungen (Dtn 22,9-11) und ist mit diesen und einer Serie von Geboten sozialer Verantwortung (Dtn 22,1-4.6-8) verknüpft. Diese bilden mit Dtn 23,1 zusammen einen Rahmen um kasuistische Rechtssätze (→ Recht) des Familienrechts (Dtn 22,13-21.22-27.28-29; vgl. Otto 2016, 1677). Hält man sich diesen Kontext des Schutzes des Familienlebens vor Augen und liest die Stelle im Rahmen des gesamten Pentateuchs (vgl. Gen 1-2; Lev 18,22), so dürfte mit der Qualifizierung des Kleidertausches als „Gräuel“ nicht die Ablehnung magischer Vorstellungen (so Rose 1994a, 315) oder Polemik gegen andere Religionen (so z.B. Braulik 1992, 163 mit Verweis auf die androgynen Züge der Göttin Inanna / Ischtar) verbunden sein. Vielmehr soll „die Schöpfungsordnung der Zweigeschlechtlichkeit von Mann und Frau“ gesichert werden (Otto 2016, 1699 mit Diskussion verschiedener weiterer Vorschläge, ebd., 1696-1699).

Die Ablehnung der sogenannten „Qedeschen“ in Dtn 23,18-19, von den meisten Auslegern als Kultprostituierte interpretiert (vgl. 1Kön 14,24; 1Kön 15,12; Hos 4,14; siehe aber kritisch R. Jost → Hure / Hurerei), fügt sich in die Verzahnung von sozialem Bruderethos und Reinheit von → Volk und → Land, die für die Komposition des materialen Rechts (Dtn 19,2-25,12) charakteristisch ist (vgl. Otto 1994, 186-188.201 mit einem Vorschlag diachroner Schichtung).

Dtn 24,4 ist Teil des deuteronomischen Eherechts (Dtn 22,22-29; Dtn 24,1-4; → Ehe) und behandelt zusammen mit dem „Gemeindegesetz“ (Dtn 23,2-9) und dem Gesetz zur Reinheit des Kriegslagers (Dtn 23,10-15) den Aspekt der „Reinheit Israels“ (Otto 1994, 201). Mit der Intention des Schutzes der Ehe (Rose 1994a, 176-177) zielt das Verbot der Wiederheirat wohl gegen den Mann, evtl. um den Zugang zu unrechtmäßigem Besitz abzuwehren (so Braulik 1992, 177; McConville, 359 sowie ebd., 358-360 zu weiteren Interpretationen). Mit dem Hinweis auf die Unreinheit (als öffentlicher Grund für die erste Scheidung?; so zumindest McConville, 359) soll die vorausgehende schlechte Behandlung der Frau als „Gräuel“ qualifiziert werden.

In Dtn 25,16 wird die Vorstellung auf den wirtschaftlich-ethischen Bereich angewandt. Der Gebrauch falscher Gewichte beim Handeln soll ausgeschlossen werden. Dies ist ein Verhalten, das dem Glauben an JHWH nicht entspricht. Wer sich dennoch so verhält, ist ein „Gräuel für JHWH“, wobei die (über die sonst ähnliche Formulierung in Spr 11,1; Spr 20,10.23 hinausgehende) Apposition „dein Gott“ die Beziehungsdimension hervorhebt.

Außerhalb des Gesetzeskorpus wird die Qualifizierung als „Gräuel“ in wenigen, aber für das Deuteronomium markanten Textbereichen ausschließlich auf die Fremdvölker und ihre Kultpraktiken bzw. den → Abfall zu diesen Göttern im Gottesvolk bezogen:

In Dtn 7,25-26 sind im Rahmen der Landnahmetheologie des Deuteronomiums die → Götterbilder der Bevölkerung Kanaans sowie die dafür gebrauchten Materialien ein „Gräuel“. Ihr Gebrauch ist ebenfalls ein „Gräuel“ und wird mit dem Bann geahndet. In der Reihe der Segen- und Fluchworte (→ Segen; → Fluch) im Deuteronomium wird jeder verflucht, der ein Götterbild anfertigt und (heimlich) zu Hause aufstellt (Dtn 27,15), während die „prophetische Geschichtsschau“ im Moselied (Dtn 32) den kommenden Abfall zu den Göttern als Gräuel vollzogen sieht (Dtn 32,16).

Diese Qualifikation des Abfalls zu fremden Göttern bzw. der Kultpraktiken fremder Völker als „Gräuel“ findet sich dann auch in vom Deuteronomium abhängigen bzw. beeinflussten Textbereichen des Alten Testaments: Die „Gräuel“ der Völker waren der Grund für deren Vertreibung aus dem Land Kanaan (1Kön 14,24; 2Kön 21,11; 2Chr 28,3; 2Chr 33,2 etc.); für seine „Gräuel“ hat → Jojakim seine Strafe erhalten (2Chr 36,8); „Gräuel“ kann generell den Abfall von JHWH meinen (2Kön 21,2.11; Jer 44,3), den Dienst an anderen Göttern (2Kön 23,13; 2Chr 34,33; Jer 16,18; Jer 32,35) oder die Vermischung mit anderen Völkern (Esr 9,14) und deren allgemein als „Gräuel“ bezeichneten Taten (Esr 9,1.11). Im → Jeremiabuch begegnet darüber hinaus „Gräuel“ gelegentlich als eine Art Sammelbegriff für alle Vergehen (Jer 6,15; Jer 7,9), für ethisches Verhalten, das JHWH nur missbilligen kann und für Apostasie (Jer 7,9-10) sowie für die daraus resultierende Abscheu JHWHs für das ganze Land (Jer 2,7; Jer 16,18).

2.3. „Gräuel“ im Buch Ezechiel

Das → Ezechielbuch zielt auf eine Klärung der Identität der Adressaten als einer „Gemeinde im Exil“, die eine Erneuerung des Denkens und Glaubens beinhaltet und zu der auch ein Anerkennen der vergangenen Sünden und des Gerichtes durch JHWH zählt (z.B. Ez 36,31; vgl. Renz, 55.57-58). Wie in keinem anderen Buch spielt dabei der Begriff des „Gräuel“, bzw. häufiger im Plural „der Gräuel / Gräueltaten“, eine zentrale Rolle (vgl. Preuß, 587-588). Er steht einerseits als regelrechter „Sammelbegriff“ für alle Sünden (vgl. Zimmerli, 154) und damit für das verkehrte Verhältnis des Volkes Gottes zu JHWH (vgl. z.B. Ez 5,9; Ez 6,9.11; Ez 7,3.4; Ez 16,2 [!]; Ez 33,29; Ez 43,8). Mit dem Ziel der Erkenntnis und Anerkennung der eigenen Schuld gerade auch gegen eine falsche Rezeption der „Zionstheologie“ bietet er sich dabei als Zielpunkt des Schuldaufweises der Hörer an (vgl. Krüger, 83-86 zu Ez 5,9). Andererseits werden mit dieser Qualifikation die konkreten Sünden als Verunreinigung und damit Verwirken der → Gegenwart Gottes angesprochen. Zu den konkreten Sünden gehören das Verunreinigen des Tempels (Ez 5,11; Ez 44,6-7), das meistens konkret mit der Kritik an den Götzenbildern bzw. dem Anbeten fremder Götter verknüpft ist (Ez 5,11; Ez 7,20; Ez 8,9-10; Ez 16,36; Ez 18,12 u.a.), weiter kultische Gräuel (Verunreinigung; Abfall: z.B. Ez 16,22.58; Ez 23,36-37), Gewalttaten und soziale Ungerechtigkeit (Ez 8,17; Ez 18,12-13) sowie sexuelle Vergehen (Ez 22,11). Insofern die Erkenntnis und Anerkennung der früheren Sünden zentrales Ziel der rhetorischen Strategie des Ezechielbuches sind und gleichzeitig der Begriff der „Gräuel“ zusammenfassend für alle Sünden steht, verwundert es nicht, dass in der Aufforderung zur Erkenntnis der eigenen Sünden der Begriff ebenso auftaucht (zentral: Ez 6,9; Ez 36,31 und als Auftrag: Ez 20,4). Dabei dürfte auch der im Begriff der „Gräuel“ enthaltene emotionale Aspekt („affektgeladene Qualifizierung“, Gerstenberger, 1052) ein wichtiger Anknüpfungspunkt für das rhetorische Ziel der Anerkennung der eigenen Sünden gewesen sein. So fügt sich seine häufige Verwendung in Ez 16 (Ez 16,2.22.36.43.47.50-51.58) zum „emotiven Sprachgebrauch“ besonders dieses zentralen Kapitels (vgl. Renz 144-147 zu dieser Funktion von Ez 16). Die Erneuerung der Adressaten geschieht schließlich dort, wo sie den Ruf zur → Umkehr als Abkehr von ihren „Gräueln“ vollziehen (Ez 14,6).

2.4. „Gräuel“ im Buch der Sprüche

Im → Sprüchebuch ist die Rede vom „Gräuel“ bzw. die Formel „Gräuel für JHWH“ Teil von dessen moralbegründender Rhetorik. Neben dem Aufweis des → Tun-Ergehen-Zusammenhangs (siehe dazu v.a. Janowski 1999) soll die Qualifikation tadelswerter Personen, Handlungen und Einstellungen als „Gräuel“ zu ethischem und sozialem Verhalten anleiten (Clements, 213). Dabei sind besonders die Einstellungen und Handlungen angesprochen, die gerichtlich nicht sanktioniert werden können (Clements, 213).

Gräuel 1

Einstellungen, die als „Gräuel“ bzw. „Gräuel für JHWH“ qualifiziert werden, beinhalten z.B. die „verschlagenen Herzen“ (Spr 11,20) oder den Hochmut (Spr 16,5; → Stolz). Eine Reihe von Personen oder Handlungen werden entsprechend getadelt und antithetisch ausgegrenzt (z.B. Gegenüberstellung von Übeltäter und Gerechter, Spr 29,17; der „Spötter“, Spr 24,9; „Anschläge des Bösen“, Spr 15,26; „der vom Weg abkommt“, Spr 3,32). Ihre gemeinschaftszerstörenden Handlungen lassen auf eine entsprechende Haltung schließen. Letzteres verdichtet sich besonders in kommunikativem Fehlverhalten, zu dem auch das falsche Richten zu zählen ist (Lügen, Spr 8,7, ähnlich Spr 12,22; „Spötter“, Spr 24,9; wer unrecht richtet, Spr 17,15). Ein besonders markantes und mehrfach getadeltes Verhalten besteht im Gebrauch falscher Gewichte beim → Handel (Spr 11,1; Spr 20,10.23).

Im Sprüchebuch taucht neben der allgemeinen Qualifikation als „Gräuel“ auch die Formel „Gräuel für JHWH“ auf (vgl. Spr 11,1.20; Spr 12,22; Spr 15,8.9.26; Spr 16,5; Spr 17,15; Spr 20,10.23). Der Unterschied ist hier weniger grundsätzlicher, als qualitativer Art: Durch die Ergänzung „für JHWH“ soll dem Tadel eine besonders starke Form der Verurteilung beigelegt werden (vgl. Clements, 223-224, Fox, 167). In dieser Weise verurteilt werden besonders asoziale Einstellungen, die nicht mit Mitteln des Rechtssystems geahndet werden können und doch die Gesellschaft als Ganze bedrohen. Gleiches gilt für kriminelle Handlungen, die kaum oder gar nicht nachweisbar sind (so Clements, 224; vgl. auch Fox, 167). Dieser gänzlich andere Zusammenhang des Gebrauchs der Formel „Gräuel für JHWH“ im Gegensatz zu dessen weiterem Vorkommen im Deuteronomium spricht gegen ihre einlinige Herleitung (vgl. Preuß, 583 und Clements, 224).

Steht im Sprüchebuch die Verwendung von „Gräuel“ für Abgrenzung und Tadel von asozialen Einstellungen und Handlungen, so ist dieser Gebrauch im Zusammenhang mit der Erziehungsrhetorik nicht gegen den Verweis auf Vergeltung und den Zusammenhang von Tun und Ergehen auszuspielen (gg. Clements, 224-225). Vielmehr ist der Tadel gemeinsam mit dem „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ Ausdruck der „Verfugung“ aller Vollzüge (Assmann, 58-69 u.ö.; vgl. auch Janowski 2013, 138), die in ihrem Zusammenspiel die „Weltordnung als Gerechtigkeit“ (Assmann, 34) erhalten und ermöglichen: Der „Zusammenhang von Tun und Ergehen“ verknüpft Handlungen, wobei jedes Handeln ein „füreinander Handeln“ ist und dem, der Gutes tut, auch Gutes widerfahren soll (vgl. Assmann; Janowski 1999; als kurzer Überblick: Janowski 2013, 138). Mit der Rede vom „Gräuel“ bzw. „Gräuel für JHWH“ wird im Sprüchebuch die Verknüpfung von „Haltungen“ angesprochen: auf eine unsoziale Einstellung, wie dem Hochmut (Spr 16,5) oder dem „verschlagenen Herz“ (Spr 11,20), ist in der Gemeinschaft mit Abgrenzung und Tadel zu reagieren als einem Entzug von „Anerkennung“ (vgl. zum Zusammenhang von „Achtung“ und „Gerechtigkeit“, Janowski 2013, 196-203). Dies lässt sich auch am Gegenbegriff zu „Gräuel“ ablesen, dem „Wohlgefallen“ (רָצוֹן rāṣôn, vgl. z.B. Spr 11,1.20.27; Spr 12,22; Spr 14,9), ebenso eine anerkennende Haltung als Folge einer für das Sozialleben dienlichen Einstellung.

Insofern thematisiert bzw. problematisiert die Rede vom „Gräuel / Gräuel für JHWH“ im Sprüchebuch die Handlungen und Haltungen bzw. Intentionen, die nicht gerichtlich sanktionierbar waren, die aber als Entzug von Anerkennung in der Erziehungsrhetorik des Sprüchebuches zur Erhaltung der „Weltordnung als Gerechtigkeit“ beitragen sollen.

2.5. Weitere Vorkommen von „Gräuel“ in Erzähltexten und Prophetenbüchern

Wenn man sich die starken Komponenten von „Abgrenzung“ und emotionaler Abscheu im Begriff des „Gräuel“ bewusst macht, verwundert es nicht, dass der Begriff auch in Erzähltexten eine Rolle spielt, die von Identität und Konfrontation handeln: Neben den Viehhirten (Gen 46,34) sind den Ägyptern die Hebräer ein „Gräuel“ (Gen 43,32) und ihr Wunsch, in Ägypten ihrem Gott JHWH zu opfern (Ex 8,22).

Weiter ist von „Gräuel“ bei den Propheten angewandt auf andere Götter die Rede, so im Rahmen der Gerichtsszene in Jes 41,24 und bei der Polemik gegen Götzenbilder in Jes 44,19.

Eine überraschende und sehr effektive Verwendung von „Gräuel“ begegnet in Jes 1,15. Hat man in früheren Zeiten erwogen, ob → Jesaja hier eine „im Kult verwendete deklaratorische Formel“ aufnimmt, die dort zur Ablehnung nicht einwandfreier Opfer verwandt wurde (Wildberger, 36 mit weiterer Literatur), ist wohl eher davon auszugehen, dass hier die weisheitliche Ablehnung sozialen und ethischen Fehlverhaltens auf eine kultische Handlung bezogen wurde: Was in der Erziehungsliteratur im Sprüchebuch als grundlegende Haltung propagiert wird (vgl. Spr 15,18; Spr 21,27; Spr 28,9 und besonders Spr 21,3), findet sich im Jesajabuch als rhetorisch effektive Ablehnung aktuellen Verhaltens (vgl. Williamson, 92-93). Nach Jes 1,13 grenzt sich JHWH vom aktuellen Gottesdienst ab.

Ist mit dem Deuteronomium und davon beeinflussten Texten vorausgesetzt, dass andere Völker „Gräuel“ begehen (siehe oben), so stellt nach Mal 2,11 das Eingehen einer Ehe mit Töchtern dieser Völker („eines fremden Gottes Tochter“) ein Gräuel dar (vgl. Meinhold 2006, 205). Ein solches Verhalten ist unvereinbar mit der Gegenwart Gottes und entheiligt, was Gott heilig ist (vgl. Kessler, 194).

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

  • Gewichtssteine aus der Eisenzeit für die sogenannte Tellerwaage; sie waren oft mit ihrem Maß beschriftet. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

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