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Sühne (NT)

(erstellt: Juni 2010)

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1. Alttestamentliche und frühjüdische Voraussetzungen

1.1. Voraussetzungen im Alten Testament

Im hebräischen Alten Testament (→ Masoretischer Text) ist der Vorgang der Sühne kein Akt der Strafe, sondern ein Heilshandeln Gottes, das den schuldig gewordenen Menschen dem verdienten Tod entreißt. Während die Sühnevorstellung ursprünglich im außerkultischen Belegbereich rechtlich-soziale Bedeutung hatte, erlangte sie in kultischem Kontext theologische Aussagekraft: vor allem in der Feier des Sühnetages (יוֹם הַכִּפֻּרִים) kam das schuldig gewordene Israel wieder neu in die Gemeinschaft mit dem heiligen Gott (s. Janowski, 2000, 347-349.361).

1.2. Bedeutungsverschiebungen in der Septuaginta und der frühjüdischen Literatur

1.2.1. Sühneaussagen in der Septuaginta

Wo die Septuaginta das hebräische Äquivalent (כפר) mit „(ent)sühnen etc.“ ([ἐξ] ἱλάσκεσθαι κτλ) übersetzt, ergeben sich keine signifikanten Bedeutungsverschiebungen. Dagegen zeigt sich vor allem in den Spättexten der Septuaginta eine Umdeutung: hier begegnen die Vorstellung einer Beschwichtigung Gottes, das Motiv einer Abwehr des göttlichen Zorns, der Gedanke der Wiedergutmachung, die Aussage der Sündenvergebung, der Vorgang der Interzession und die Bewertung des Märtyrerschicksals.

1.2.2. Sühneaussagen im Frühjudentum

Auf dieser Linie liegen auch die verstreuten Sühneaussagen in der intertestamentarischen Literatur: neben kultischen Formulierungen sprechen die Texte von Beschwichtigung, aber auch von Erbarmen und Vergebung. Bei Philo von Alexandria herrscht ein allegorischer Bezug zum Sühnetag (ἡ ἡμέρα ἡ λεγομένοῦ ἱλασμοῦ) und zum Sühneort (τὸ ἱλαστήριον) vor. Josephus spricht von einer Einwirkung auf Gott bzw. die Götter mit dem Ziel der Besänftigung.

1.2.3. Sühneaussagen in den nichtbiblischen Texten der Qumran-Essener

Kultische Terminologie wird zwar (vor allem in 11QT) noch verwendet, zugleich aber transformiert. Sühnemittel sind die Langmut Gottes und seine Vergebungsfülle, seine Wundergeheimnisse und seine Gerechtigkeit. Durch Lobpreis und vollkommenen Lebenswandel erweist sich die Qumran-Gemeinde als eschatologischer Sühneort (s. Lichtenberger, 161-164) für sich selbst und für Israel. Die Substitution der Sühnemittel Opfer und Blut und die Übertragung priesterlicher Termini auf das Gemeindeleben ist durch die grundlegende Einsicht in die Notwendigkeit der Sühne motiviert.

1.3. Der Horizont der neutestamentlichen Sühnethematik

Zum begrifflichen und gedanklichen Horizont für die im Neuen Testament zu erwartende Sühnethematik gehören soteriologische Aussagen im → Opferkontext, der in einer bestimmten Konnotation befindliche Begriff des → Blutes (αἷμα), das Stellvertretungsmotiv und die Vorstellung von der Errettung verwirkten Lebens aus Todesverfallenheit (s. Janowski, 2000, 355-362). Daneben ist in der exegetischen Literatur ein nicht terminologisches, vor allem auf Jes 53 bezogenes Sühneverständnis anzutreffen (so etwa Mittmann-Richert).

2. Die Sühnevorstellung in der paulinischen Tradition

2.1. Sühneaussagen im vorpaulinischen Traditionsgut

Unter den vor Paulus formulierten und von ihm zitierten Sühneaussagen erscheint in Röm 3,25 ein expliziter Sühnebeleg: wird Jesus Christus als „Sühnendes“ (ἱλαστήριον, hebr. כַּפֹּרֶת) bezeichnet und ist zugleich vom Sühnemittel des Blutes die Rede, so wird der Gekreuzigte in dieser kultmetaphorischen Aussage als der Sühneort verstanden, an dem sich die rettende Gegenwart Gottes vollzieht. Auch die Herrenmahlsparadosis in 1Kor 11,23b.25 (vgl. 1Kor 10,16) bringt mit der Rede von Leib (σῶμα) und Blut (αἷμα) Christi die Sühnewirkung seines Todes zur Sprache, wobei die Aussage über das Gedenken (ἀνάμνησις) u. a. auf die Erfahrung dieser Wirkung zielt. Demgegenüber heben die übrigen, mit Sündenterminus formulierten Stellvertretungsaussagen im vorpaulinischen Traditionsgut eher auf den Gedanken der Sündentilgung ab.

2.2. Die Sühnetheologie des Paulus

Paulus selbst nimmt die Sühneaussagen der Herrenmahlstradition nicht nur auf, sondern er baut sie auch weiter aus, insofern er von der Partizipation (κοινωνία) des Blutes und Leibes Christi spricht (1Kor 10,16ff) und die Würde der Herrenmahlsgaben betont (1Kor 11,27.29). Daneben wiederholt der Apostel die Rede von der sühnewirkenden Kraft des Blutes Christi (Röm 5,9; vgl. Röm 3,25) und formuliert den der alttestamentlichen Sühnetheologie verwandten Gedanken, dass durch Sünde bestimmte Menschen in der Hingabe des Leibes Christi (σῶμα τοῦ Χριστοῦ) auch selbst gestorben sind und so zu Gott kommen (Röm 7,4).

Neben weiteren Anspielungen auf die Sühne, die in der Vorstellung von der Heiligung (1Kor 1,2.30; 1Kor 6,11), der christologischen Rede vom Passa (1Kor 5,7: πάσχα) und der Aussage über die Sendung des Sohnes um der Sünde willen bzw. als Sündopfer (Röm 8,3: περὶ ἁμαρτίας) bestehen, bringen vor allem Stellvertretungsaussagen die paulinische Sühnetheologie zur Sprache. Der Kontext dieser Aussagen lässt zumeist erkennen, dass dem alttestamentlichen Sühnedenken entsprechend die Errettung der aufgrund von Schuld verwirkten Existenz des Menschen aus Todesverfallenheit im Blick ist.

Bringen die Stellvertretungsaussagen das Geschehen der Sühne zur Sprache (anders Schröter, 66-71; s. jedoch Söding, 375ff; Kittel, 130-133), eben weil das Stellvertretungsmotiv ein konstituierendes Moment des Sühnegedankens formuliert, so expliziert die Rede von der Versöhnung die Wirkung des Sühnegeschehens, insofern der schuldig gewordene Mensch wieder neu der Gemeinschaft mit Gott teilhaftig wird (vgl. 2Kor 5,14-21; Röm 5,6-11).

2.3. Sühneaussagen in den Deuteropaulinen

In der Paulusschule sind die Sühneaussagen weniger deutlich greifbar. Immerhin hebt aber die Rede vom Blut (Kol 1,20b; Eph 1,7; Eph 2,13: αἷμα) und Leib (Kol 1,22: σῶμα) Jesu Christi auf die sühnende Wirkung seines Kreuzestodes ab. Daneben expliziert das in Eph 5,2.25 vorliegende Stellvertretungsmotiv die in der Selbsthingabe Christi geschehene Sühne unter Verwendung von Opferterminologie. Dagegen sind die Selbsthingabeformeln in 1Tim 2,6a; Tit 2,14 weitgehend unkultisch formuliert, und das vermutlich vorausgesetzte Sühnemotiv ist nicht mehr deutlich erkennbar.

3. Der Sühnegedanke im Hebräerbrief

3.1. Zum Profil des Sühnegedankens

Allein Hebr 2,17b verwendet zur Formulierung einer Sühneaussage das Verb „sühnen“ (ἱλάσκεσθαι): durch den im Dienst vor Gott stehenden Hohenpriester Jesus Christus werden die Sünden des Volkes gesühnt. Durch eine Vielzahl weiterer kultischer Wörter und Wendungen bringt der Hebr kontrastierend das Sühnopfer des neuen Bundes zur Sprache (vgl. auch Hebr 8,12; Hebr 9,5).

3.2. Die Opfer und ihre Darbringung

Im Rahmen des ersten Bundes (πρώτη διαθήκη) werden Opfer dargebracht, die aber nicht (mehr) Gottes Wohlgefallen finden. Demgegenüber ist das eine, von Christus ein für allemal dargebrachte Selbstopfer des neuen Bundes (καινὴ διαθήκη) das dem Wohlgefallen Gottes entsprechende und somit vollkommene Sühnopfer. In paränetischem Kontext wird der Opferbegriff metaphorisch verwendet: er bezieht sich auf die Einmaligkeit der Umkehr, das Herrenmahl, den gottesdienstlichen Lobpreis und die soziale Verantwortung.

3.3. Die Stellvertretungsaussagen

Die Stellvertretungsaussagen, die das Handeln des levitischen Hohenpriesters betreffen, beziehen sich sowohl auf Sünden als auch auf schuldig gewordene Menschen. Angesichts der durch den Hebr behaupteten Wirkungslosigkeit der alten Kultordnung kann jedoch kaum von stellvertretender Sühne gesprochen werden. Dagegen impliziert die vielfältige Rede vom stellvertretenden Handeln des Hohenpriesters Christus die Aussage eines Sühnegeschehens. Paränetisch werden vom stellvertretenden Sühnetod Jesu aus Bezüge zur Nachfolge, zum Problem des Sündigens und zur Hoffnung hergestellt.

3.4. Die Rede vom Blut und der Ritualakt der Blutsprengung

Die Blutriten im levitischen Opferkult sind auf die Opfertiere und auf den Sühnetag (יוֹם הַכִּפֻּרִים) bezogen, wobei die Wirkung dieses Blutes als begrenzt hingestellt wird. Demgegenüber bezieht sich das Sühneblut Christi auf die endgültige und ein für allemal gültige Sühnewirkung seines Opfertodes, nämlich die umfassende Reinigung und Erlösung. In paränetischem Kontext dient die Rede vom Blut dazu, den Standort der christlichen Gemeinde zu bestimmen.

3.5. Die Wirkung der Opfer

Im Bereich des ersten → Bundes (πρώτη διαθήκη) gelten die Opfer als defizitär: die Sühnewirkung wird nicht explizit formuliert, die Vollendung (τελείωσις) als fraglich hingestellt, das Heiligen (ἁγιάζειν) als nur äußerlich wirksam betrachtet, und es wird eine allenfalls oberflächliche Reinigung zugestanden. Dagegen ist in Hinsicht auf das eine, den neuen Bund (καινὴ διαθήκη) betreffende Opfer explizit von Sühne die Rede (Hebr 2,17b); dieses Opfer wirkt Reinigung (καθαρισμός), Heiligung und Vollendung (τετελειωκέναι) der Glaubenden. Paränetisch wird die Bedeutung der Heiligung und die Notwendigkeit der Reinigung betont.

4. Sühnetheologie in der johanneischen Literatur

Den expliziten Sühnebelegen und weiteren sühnetheologischen Formulierungen im 1Joh stehen im Joh einige implizite Sühneaussagen gegenüber. Für die Apk ist vor allem die Rede vom Blut des geschlachteten Lammes von sühnetheologischer Relevanz.

4.1. Das Sühneverständnis des ersten Johannesbriefs

Zur Verwendung des Terminus „Sühne“ (ἱλασμός) in 1Joh 2,2; 1Joh 4,10 treten weitere Sühneaussagen in 1Joh 1,7.9; 1Joh 3,16; 1Joh 5,6-8 hinzu. Vor allem der Passus in 1Joh 1,5-2,2 bringt den Sühnegedanken zur Sprache: die Aussage über die Reinigung durch das Blut Jesu (1Joh 1,7) bezieht sich unter Aufnahme kultischer Terminologie auf die Vergebung der Sünden (Joh 1,9), und in der Rede von der „Sühne … für unsere Sünden“ (1Joh 2,2: ἱλασμός ἐστιν περὶ τῶν ἁμαρτιῶν ἡμῶν; vgl. 1Joh 4,10) dürfte der Tod Jesu Christi mit der Vorstellung vom eschatologischen und universal gültigen Sühnetag verbunden sein. Der Grund für die stellvertretende Lebensentäußerung Jesu (1Joh 3,16) und für sein auf die Sünden bezogenes Sühnopfer (1Joh 4,10) liegt in Gottes Liebe, die Konsequenz dagegen in der Verpflichtung der so Geliebten, einander zu lieben bis hin zum Einsatz des eigenen Lebens. Mit der auf Jesu Tod bezogenen Rede von Wasser (ὕδωρ) und Blut (αἷμα) in 1Joh 5,6-8 wird schließlich betont, dass neben der Reinigung unaufgebbar die Sühne zu den Heilsgaben des Kreuzes gehört.

4.2. Die Sühneaussagen des Johannesevangeliums

Durch die Aussagen in Joh 19,14a.29.33-36, die eine Parallelität zwischen dem Vorgang der Kreuzigung Jesu und der in neutestamentlicher Zeit im Tempel vorgenommenen und somit dem Sühnekult angegliederten Schlachtung der Passalämmer erkennen lassen, wird das Verständnis Jesu als des wahren Passalammes zum Ausdruck gebracht. Vor allem das nach Joh 19,34b aus Jesu Seitenwunde austretende Blut und Wasser (αἷμα καὶ ὕδωρ) weist auf die im Tod Jesu vollzogene Sühne und Reinigung hin. Des Weiteren spricht die Rede vom Lamm Gottes (ἀμνὸς τοῦ θεοῦ) in Joh 1,29.36 von der sich im Sühnopfertod des wahren Passalammes ereignenden und durch eine Beseitigung der Verfallenheit an die Sünde auszeichnenden, heilsamen Konfrontation von Gott und Welt (κόσμος). Konvergenzen zum Sühnemotiv finden sich auch in den soteriologischen Aussagen in Joh 3,16; Joh 6,51. Ein Zusammenhang der joh Stellvertretungsaussagen mit dem Sühnemotiv ist freilich erst auf den zweiten Blick erkennbar (s. Frey, 2002, 214).

4.3. Das Blut des Lammes nach der Johannes-Apokalypse

In der Apk wird der gekreuzigte und erhöhte Christus unter Hervorhebung der Sühnewirkung seines Blutes mit einem geschlachteten Lamm identifiziert. Schon die Formulierung des christologischen und soteriologischen Themas (Apk 1,5f) der Apk beinhaltet einen Hinweis auf das entsühnende Blut. Vor allem aber bringt die auf die Schlachtung vermutlich eines Passalammes bezogene Prädikation Jesu Christi als Lamm (ἀρνίον) seinen Sühnopfertod zum Ausdruck: als das eschatologische Passalamm bewirkt Jesus durch seinen Opfertod die Entsühnung der Gemeinde. Das Loskaufmotiv (Apk 5,6-14), die Reinigung von Sünde (Apk 7,14), der Sturz des widergöttlichen Drachen aus dem Himmel (Apk 12,11) und das mit der Eintragung in das Lebensbuch verknüpfte Heil (Apk 13,8) stehen in grundlegendem Zusammenhang mit dem Sühnopfertod Christi (s. Knöppler, 2005, 477ff).

5. Sühneaussagen im übrigen Neuen Testament

In den übrigen neutestamentlichen Schriften finden sich implizite Sühneaussagen nur noch in den → Synoptikern, in Apg und im 1Petr. In Phil, Phlm, 2Thess, 2Tim, Jak, Jud, 2Petr, 2Joh und 3Joh fehlen Sühnebelege.

5.1. Sühneaussagen in den Synoptikern

5.1.1. Die Einsetzungsworte der synoptischen Herrenmahlsüberlieferung

In den Einsetzungsworten (verba testamenti) ist sowohl die Rede von Leib (σῶμα) und Blut (αἷμα) Jesu als auch das Motiv der Stellvertretung als Sühneaussage zu werten (s. auch Kittel, 127-130). Da diese Überlieferung zu den ältesten Traditionstexten im Neuen Testament gehört, ist hier der Ursprung des urchristlichen Sühnegedankens zu vermuten.

5.1.2. Weitere implizite Hinweise auf die Sühne

Die beiden expliziten Belege für den die Sühne bezeichnenden griechischen Wortstamm (Mt 16,22; Lk 18,13) sind wenig ergiebig. Die Aussage über die stellvertretende Lebenshingabe zugunsten der Vielen (Mk 10,45 par.: πολλοί) lässt sich, wenn auch mit traditionsgeschichtlichen Vorbehalten, sühnetheologisch deuten. Klarer noch weist die Erzählung vom Zerreißen des Vorhangs im Tempel (Mk 15,38 par.) darauf hin, dass sich in Jesu Tod Gottes Gegenwart ereignet und darum wahre Sühne allein in dem Gekreuzigten zu finden ist.

5.2. Die Wirkung des Sühnebluts nach der Apostelgeschichte

Unter den Aussagen über das Blut (αἷμα) wird in Apg 20,28 vom Erwerb der Kirche Gottes (ἐκκλησία τοῦ θεοῦ) durch das Blut Christi gesprochen. Im Hintergrund stehen vermutlich die alttestamentlichen Vorstellungen von der Auslösung verwirkten Lebens und der sühnenden Kraft des Blutes.

5.3. Die Sühnevorstellung des ersten Petrusbriefs

5.3.1. Die Aussage über die Blutbesprengung

Schon im Präskript des 1Petr findet sich eine Aussage über die durch den Geist vollzogene „Besprengung mit dem Blut Jesu Christi“ (1Petr 1,2: ῥαντισμὸς αἵματος Ἰησοῦ Χριστοῦ): unter Aufnahme von kultischer Terminologie ist hier auf den Akt der Zueignung des Sühnetodes Jesu Christi abgehoben. Kultische Terminologie wird ebenfalls verwendet, wenn in 1Petr 1,18f vom „kostbaren Blut“ (τίμιον αἷμα) des Lammes die Rede ist und damit das Selbstopfer des sündlosen Christus sowie die Sühnewirkung seines Todes zur Sprache gebracht werden (vgl. weiter 1Petr 2,24).

5.3.2. Die Rede von Christi stellvertretendem Leiden

Auch die Rede von Christi stellvertretendem Leiden (1Petr 2,21: παθεῖν) dürfte ähnlich wie die paulinische Sterbeformel die Sühnewirkung des Todes Jesu zur Sprache bringen. Die beiden Stellvertretungsaussagen in 1Petr 3,18 sprechen im ersten Fall von einer Sündentilgung und im zweiten Fall (in Konvergenz zur kultischen Sühnetheologie im Alten Testament) von der Hinführung schuldig gewordener Menschen zu Gott (vgl. weiter 1Petr 4,1).

6. Einzelfragen

6.1. Zum literarischen Genus der Sühnetradition

Insgesamt zeigt sich, dass die materiale Aussagenbasis über das Thema der Sühne in den neutestamentlichen Briefen breiter ist als in den Evangelien. Die Thematik der Sühne lässt sich in den Briefen, allen voran Hebr und 1Joh, die ihrem Wesen nach christliche Lehraussagen entfalten, angemessener verhandeln. Demgegenüber ist das literarische Genus des Evangeliums als Bericht über Verkündigung, Leben und Tod Jesu nicht der primäre Ort für eine Entfaltung theologischer Themen.

6.2. Zur theologiegeschichtlichen Entwicklung

„Im Neuen Testament wird der Tod Jesu in bemerkenswerter Breite und von ganz unterschiedlichen Überlieferungsschichten im Sinne stellvertretender Sühne gedeutet“ (Merklein, 1987, 181). Ist der Ursprung des urchristlichen Sühnegedankens in der Herrenmahlsüberlieferung zu suchen und verweist auch die Röm 3,25f zugrundeliegende (Tauf-)Tradition auf ein frühes Stadium der Sühnetheologie, so ist es vor allem das Verdienst des Apostels Paulus, dass der Sühnegedanke innerhalb der urchristlichen Soteriologie einen breiten Raum einnehmen konnte: Paulus griff beide Traditionen auf und stellte ihnen als Ausdruck seiner eigenen Sühnetheologie vor allem das Motiv der sich in Jesu Tod ereignenden und die Sühnung sündigen Seins bewirkenden Stellvertretung an die Seite. Die weitere theologiegeschichtliche Entwicklung verläuft disparat.

6.3. Zur Kultmetaphorik

Schon verschiedene Sühneaussagen in der Septuaginta und in der frühjüdischen Literatur, vor allem aber Sühneaussagen in den Texten der → Qumran-Essener tragen einen weitgehend kultmetaphorischen Charakter. Auch im Neuen Testament vollziehen sich die unterschiedlichen Entfaltungen der Sühnetheologie auf dem Hintergrund kultischen Denkens, wobei eine nicht immer eindeutige Vielfalt von Begriffen und Vorstellungen verwendet wird (s. dazu Zimmermann, 72ff). Der eigentlich kultische Charakter dieser Begriffe und Vorstellungen verliert sich freilich mit ihrem Bezug auf den Tod Jesu. Die Behauptung, das Neue Testament spreche in Hinsicht auf Jesu Tod von einem Menschenopfer (so Jörns, 286ff), entbehrt der exegetischen Grundlage (vgl. Knöppler, 2010, 135ff). Das Verständnis des Todes Jesu als Opfer verdankt sich dem Vorgang der Deutung (s. Zimmermann, 360-373).

„Eine noch so ‚neue‘, alttestamentliche Gegebenheiten überbietende Kulthandlung ist mit dem Ereignis von Tod und Auferstehung Jesu Christi gerade nicht intendiert“ (Janowski, 2000, 352; im Original z. T. kursiv). Denn die kultischen Sühnopfer sind, sofern ihnen eine sühnende Wirkung überhaupt zugestanden wird, mit dem Sühnetod Jesu außer Kraft gesetzt worden. Insoweit ist auch von einer Annullierung des Kultischen zu sprechen: „Das eschatologische Verständnis der im Tode Jesu gewährten Sühne … macht den Tempelkult christlich überflüssig“ (Merklein, 1987, 190; im Original z. T. kursiv).

6.4. Zur Relation von Kult und Eschatologie

Auf die Frage nach der Relation von Kult und Eschatologie gibt es keine für das ganze Neue Testament gleichermaßen gültige Antwort. In den Sühneaussagen, die kultische Terminologie verwenden oder in denen die Vorstellung von Jesu Tod als einem Sühnopfer präsent ist, lässt sich eine Verknüpfung von Kultischem und Eschatologischem erkennen: in Jesu Kreuzestod hat sich der eschatologische Sühnetag ereignet.

7. Zur Bedeutung der neutestamentlichen Sühnethematik

Es ist kaum zu bestreiten, dass „die Sühneaussagen eine enorme Verbreitung und in fast allen neutestamentlichen Schriften ihren Niederschlag gefunden haben“ (Hahn, 2006, 315). Dieses Urteil ist freilich nicht mit der Ansicht zu verwechseln, der Sühnegedanke impliziere die anderen neutestamentlichen Deutungen des Todes Jesu oder mache sie theologisch erst plausibel (so Hofius, 2001, 346). Die eigenständige Relevanz anderer christologisch-soteriologischer Aussagen bleibt unbestritten; „die Sühneaussagen besitzen aber in der Regel eine vorrangige Stellung“ (Hahn, 2006, 316).

Trotz der seltenen Verwendung des für explizite Sühneaussagen charakteristischen Wortes „sühnen etc.“ (ἱλάσκεσθαι κτλ) ist unter Heranziehung weiterer, Begriff und Sache der Sühne in den Blick nehmender Wörter und Wendungen eine gewichtige Rolle der Sühnethematik im Rahmen der neutestamentlichen Soteriologie festzustellen. Insofern das Geschehen des Kreuzestodes Jesu in der Regel als Ausgangspunkt der neutestamentlichen Soteriologie und durchweg als Bezugspunkt der neutestamentlichen Rede von der Sühne fungiert, ist die Sühnethematik im Zentrum der Christologie und Soteriologie verankert.

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