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Zungenrede / Glossolalie

(erstellt: September 2011)

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1. Definition

Glossolalie ist eine Form der lautlichen Äußerung, die in ekstatischen Zuständen (→ Ekstase) auftreten kann. Das Sprechen wird dabei nicht kognitiv gesteuert und ist auch nicht an Syntax und Vokabular einer bestimmten – eigenen oder fremden – Sprache gebunden. Dieses Phänomen ist mitnichten auf bestimmte Formen des Christentums beschränkt, es kann auch in anderen Religionen und Kulturen bei Schamanen oder Sehern auftreten.

2. Glossolalie im Neuen Testament

2.1 Bei Paulus

Innerhalb des NT äußert sich → Paulus am ausführlichsten zur Glossolalie, er kann das Phänomen des Redens „in Zunge(n)“ ([ἐν] γλωσσῇ / -αῖς; en glōssē / -ais) schon als bekannt voraussetzen. In 1Kor 12,10 nennt er sowohl die „Arten“ der Glossolalie (γένη γλωσσῶν; genē glōssōn) als auch ihre Deutung / Übersetzung in seiner Liste der Geistesgaben (→ Charisma) (1Kor 12,8-11.28). In 1Kor 14 zeigt sich jedoch, dass gerade die Gabe der Glossolalie in Korinth (zumindest von einigen) höher geschätzt wurde, als es Paulus lieb war – obwohl er selbst diese Gabe hatte (1Kor 14,18). Das ganze Kapitel will im Grunde den Stellenwert dieses unverständlichen Redens zugunsten der verständlichen, in diskursiver Sprache vorgetragenen → Prophetie relativieren. Paulus lehnt sie nicht rundweg ab, aber er will sie in die gemeindliche Ordnung einbinden. Sie soll dem Aufbau der → Gemeinde dienen (1Kor 14,12-17), und daher müssen alle davon profitieren können; sie bedarf also der „Übersetzung“. Um ihren Nutzen für alle zu gewährleisten, beschränkt Paulus also die Zahl der Sprecher und lässt sie überhaupt nur zu, wenn auch ein „Übersetzer“ anwesend ist (1Kor 14,27-28). Damit ist das Beten und Reden mit Verstand deutlich höher bewertet (1Kor 14,14-19), und das ekstatische Phänomen der Glossolalie wird durch die Übersetzung „entzaubert“ (Lindemann). Das Charisma der Glossolalie als solches wird damit in die je persönliche Beziehung des Sprechers mit Gott verwiesen.

2.2 In der Apostelgeschichte

In der Apg manifestiert sich durch das Reden in Zungen die Gabe des Heiligen → Geistes, entweder vor (Apg 10,44-48) oder nach der → Taufe (Apg 19,5-6). An diesen Stellen kommentiert Lukas dieses Phänomen nicht weiter; als jeweils einmalige Manifestation des Geistes wird es aber positiv bewertet. Die Probleme, die Paulus in 1Kor 14 beschäftigt haben, kommen hier nicht in den Blick.

Dennoch hat Lukas nicht einfach unkritisch ein traditionelles Motiv übernommen: In der Pfingsterzählung (Apg 2,1-13) erfährt die Glossolalie eine bemerkenswerte Umformung. Die Reaktion einiger Hörer (Apg 2,13) und die schwache Verteidigung des → Petrus (Apg 2,14-16) lassen noch daran denken, dass Lukas eine Erzählung über ekstatisches, inspiriertes Reden aufgreift. In der → Apostelgeschichte wird daraus jedoch ein Sprachenwunder, aus den unverständlichen „Zungen“ wird ein Reden in „anderen Sprachen“ (λαλεῖν ἑτέραις γλώσσαις; lalein etepais glōssais, Apg 2,4). Die Pointe der Erzählung ist gerade, dass Hörer von unterschiedlichster Herkunft eine verständliche Botschaft in ihren jeweiligen Sprachen hören – das genaue Gegenteil der aus → Korinth bekannten Glossolalie. Angesichts von Apg 10,46; Apg 19,6 kann man jedoch nicht behaupten, dass Lukas dieses Phänomen nicht (mehr) gekannt habe. In Apg 2 geht es aber nicht darum, den Status der → Apostel als Geistträger zu begründen (dann wäre die Glossolalie eine mögliche Manifestation); der wird nicht in Frage gestellt. Vielmehr beginnt jetzt ihr → Zeugnis „bis an die Enden der Erde“ (Apg 1,8) – und das schließt auch „andere Sprachen“ ein.

2.3 Im Markusevangelium

Auch im sekundären Markusschluss (Mk 16,9-20) spielt das Phänomen der Glossolalie eine Rolle, sie ist Teil eines Katalogs von → Wundern, welche die Gläubigen ausweisen (Mk 16,7-8): Darin steht sie in einer Reihe mit Exorzismen und dem Schutz vor Schlangen und Gift sowie Heilungsgaben. Ähnlich wie in Apg 2,4, ist hier aber nicht von unartikuliertem Sprechen in Ekstase die Rede, sondern vom Sprechen in „neuen Sprachen“ (γλώσσαις λαλήσουσιν καιναῖς; glōssais lalēsousin kainais). Der Nutzen für die Hörer (allgemeine Verständlichkeit oder Ausweitung der → Mission zu fremden Völkern) wird aber, anders als in Apg 2,5-11, nicht thematisiert. Diese Beschränkung mag dem Charakter und der Zielsetzung des Katalogs geschuldet sein, der am Ende die Natur- und Heilungswunder ausführlicher entfaltet. Zu fragen ist, ob das „Reden in neuen Sprachen“ in Mk 16,7 von Apg 2,4-11 abhängig ist. Alternativ müsste man annehmen, dass Lukas und der Verfasser von Mk 16,9-20 das charismatische Phänomen der Zungenrede unabhängig voneinander in ähnlicher Weise „domestiziert“ hätten. Der Wechsel von „anderen“ (Apg 2,4) zu „neuen“ Sprachen (Mk 16,7) ist möglicherweise dadurch bedingt, dass der Aspekt des Wunderbaren stärker betont werden soll.

Glossolalie ist eine Form der lautlichen Äußerung, die in ekstatischen Zuständen (→ Ekstase) auftreten kann. Das Sprechen wird dabei nicht kognitiv gesteuert und ist auch nicht an Syntax und Vokabular einer bestimmten – eigenen oder fremden – Sprache gebunden. Dieses Phänomen ist mitnichten auf bestimmte Formen des Christentums beschränkt, es kann auch in anderen Religionen und Kulturen bei Schamanen oder Sehern auftreten.

Literaturverzeichnis

  • Holm, N.G. / Pratscher, W. / Thiede, W.: „Glossolalie (Zungenrede).“ in: RGG4 3, 1013-1015
  • Horn, F.W., 1992, Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie (FRLANT 154). Göttingen, 201-218
  • J.A. Kelhoffer, 2000, Miracle and Mission. The Authentication of Missionaries and Their Message in the Longer Ending of Mark (WUNT II 112). Tübingen Rez.: http://www.bookreviews.org/bookdetail.asp?TitleId=1625&CodePage=1625,5034).
  • Lindemann, 2000, Der Erste Korintherbrief (HNT 9/1). Tübingen, 297-299
  • R.I. Pervo, 2009, Acts. A Commentary, hg. von H.W. Attridge (Hermeneia). Minneapolis, MN, 63-65

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