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Totenklage (AT)

(erstellt: Februar 2007)

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Bestattung; → Grab; → Klagefeier; → Leiche; → Tod; → Totenkult; → Trauer

1. Totenklage und Totenkult

Die Totenklage und ihre alttestamentlich belegten Ausdrucksformen (Leichenklage, Weheruf, Trauerriten; → Trauer / Trauerriten) unterscheiden sich nicht wesentlich von den rituellen Formen, mit denen die Nachbarvölker ihre Toten bestattet haben. Dabei lassen die Texte der Hebräischen Bibel allerdings eine große Zurückhaltung gegenüber solchen Riten bis hin zum Verbot bestimmter Trauerbräuche erkennen (Dtn 14,1; Lev 19,28; Lev 21,5). Andererseits geht nach K. Liess (2004, 297) aus archäologischen Befunden und dem religionsgeschichtlichen Vergleich hervor, dass „Trauerriten, Ahnenverehrung und → Totenkult“ auch in Israel bis in die Exilszeit „in den Kreis der privaten und familiären → Frömmigkeit (gehörten) oder … an Ortsheiligtümern und Gräbern gepflegt (wurden)“.

Die Distanz des biblischen Schrifttums zu aufwändigen Bestattungsritualen und zum Totenkult hat verschiedene Ursachen. Auf der Ebene der persönlichen Frömmigkeit liegt sie u.a. in der nüchternen Hinnahme des → Todes als geschöpfliche Bedingtheit des Menschen (vgl. Ps 104,27-29; Hhld 8,6 sowie Dtn 32,39; 1Sam 2,6) und Folge seiner Fehlbarkeit (Gen 3,19), wobei mit dem Tod auch die Beziehung zu JHWH abreißt und sein Wirken im Totenreich in Abrede gestellt wird (vgl. Ps 88,11-13; Ps 6,6; Ps 30,10; → Jenseitsvorstellungen in Israel). Ferner ist ab dem 7. Jh. v. Chr. auf der Ebene der offiziellen Religion eine scharfe Ablehnung der Nekromantie, d.h. der Totenbefragung zu beobachten (vgl. Lev 19,31; Lev 20,6.27; Dtn 18,10-11; 1Sam 28,3.7-9; 2Kön 21,6; 2Kön 23,6; Jes 8,19-20; Jes 19,3; Jes 29,4), die in Konkurrenz zur geschichtsorientierten Prophetie stand und Zukunftsorientierung im Kontext der Ahnenverehrung bzw. des Totenkults gesucht hatte (vgl. 1Sam 28,5-7).

Die Praxis der Totenklage und ihre Ausdrucksformen gehörten ganz selbstverständlich und in Übereinstimmung mit der nordwestsemitischen Umwelt zur altisraelitischen Bestattungskultur, soweit sie sich allein auf den Akt der → Bestattung bezogen und die aktuelle Trauer der Hinterbliebenen zum Ausdruck gebracht hatten. Doch spielen sie im alttestamentlichen Schrifttum nur eine marginale Rolle und werden entweder im Kontext von Todesfällen erwähnt oder – wie im prophetischen Schrifttum – im übertragenen Sinne als rhetorisches Mittel der Gegenwartserhellung eingesetzt. Davon zu unterscheiden sind Praktiken des Totenkultes, die sich um die Toten selbst und ihr Nachleben in der Scheol, d.h. im Totenreich kümmern, weil und solange sie als Ahnen für die Lebenden von Bedeutung sind (→ Jenseitsvorstellungen in Israel). Solche Praktiken sind zwar in Form von Grabbeigaben durchaus auch archäologisch bezeugt, werden jedoch angesichts der scharfen Ablehnung der Nekromantie in der Hebräischen Bibel nicht oder nur missbilligend erwähnt (s.o.; → Divination in Israel; → Grab; → Leiche).

2. Die Totenklage im Kontext der Totenbestattung und die Stadt- und Untergangsklagen

In der Hebräischen Bibel sind im Wesentlichen zwei verbale Formen der Totentrauer zu unterscheiden, die neben einer Anzahl von gestischen Trauerbräuchen im Kontext der Totenbestattung erwähnt werden: das Leichenlied und der Weheruf. Hinzu kommen die Stadt- und Untergangsklagen, die in Analogie zum Leichenlied stehen (→ Stadtklage).

2.1. Totenklage und Leichenlied in 2Sam 1,11-27 und 3,31-34

Nachdem → Saul und sein Sohn → Jonathan, den eine besondere Freundschaft mit → David verband, in der Schlacht mit den → Philistern im → Gilboa-Gebirge umgekommen waren (1Sam 31,1-6), erfuhr David durch einen Boten von der Katastrophe (2Sam 1,2-10). Sie löste gemäß der verdichteten Erzählweise spontane Trauer um die Toten aus. Neben nonverbalen Begleithandlungen der → Trauer (Zerreißen des Obergewandes, → Weinen und → Fasten, 2Sam 1,11-12) wird als Reaktion Davids und seiner Leute der Vollzug der Totenklage (ספד spd „die Totenklage anstimmen“) erwähnt, wobei David im Zuge dieser eintägigen Trauerfeier ein Leichenlied anstimmt (קין qjn „das Leichenlied singen“; 2Sam 1,17), das in 2Sam 1,19-27 aus dem „Buch des Aufrechten“ (2Sam 1,18) zitiert wird. Dabei gehört die קִינָה (qînāh „Leichenlied“) zu den spezifischen Gattungsbezeichnungen, die im biblischen Hebräisch selten sind, und wird terminologisch von den rituellen Aspekten der Totenklage (מִסְפֵּד misped) klar unterschieden.

Ein ähnliches Bild ergibt sich aus der Erzählepisode vom Begräbnis von Sauls Heerführer → Abner (2Sam 3,31-34), nachdem dieser von → Joab, dem Anführer der David-Miliz (2Sam 2,13; 2Sam 3,22), ermordet worden war (2Sam 3,27). Darin werden die rituellen Aspekte der Totenklage (סָפַד sāfad) im Kontext der Bestattung breiter ausgeführt (2Sam 3,31-32), während das von David gesungene (קין qjn) Leichenlied in seinem Wortlaut nur kurz ausfällt (2Sam 3,33-34). Bei 2Sam 1 und 3 handelt es sich um die beiden einzigen ausführlichen Darstellungen der Trauer um Tote im Alten Testament, die literaturgeschichtlich in das 8./7. Jh. v. Chr. einzuordnen sind und deshalb in erster Linie kulturelle Praktiken der spätvorexilischen Zeit spiegeln. An ihnen lassen sich die wesentlichen Gattungsmerkmale des Leichenliedes und der Handlungsrahmen der Totenklage im Kontext der Trauer um Verstorbene und ihrer Bestattung aufzeigen.

2.2. Das Leichenlied im Rahmen der Totenklage und die Spuren von Stadt- und Untergangsklagen im Alten Testament

Das Leichenlied (קִינָה qînāh) wird im rituellen Rahmen der eintägigen Totenklage (מִסְפֵּד misped) von Spezialistinnen (vgl. die Töchter und → Klagefrauen in Jer 9,16.19 sowie Ez 32,16) oder Spezialisten (wie David in 2Sam 1,17; 2Sam 3,33) angestimmt, die die Kunst der Rede und des Gesangs beherrschen (Jer 9,19) und als weise gelten (Jer 9,16; vgl. auch 2Sam 14,2 im Rahmen von 2Sam 14,1-17!). Rituelle Totenklagen mit dem Gesang von Leichenliedern stehen in mehr oder weniger direkter Verbindung mit der Bestattung von Toten (vgl. bes. 2Sam 3,31-34, ferner Gen 23,1ff; Gen 50,7-10; 1Sam 25,1; 1Sam 28,3; 1Kön 13,29-30; 1Kön 14,13; 1Kön 14,18; Jer 22,18-19; Jer 25,33). Oder sie werden an dem Tage vollzogen, an welchem eine Angehörige oder ein Angehöriger gestorben (Gen 23,2; Jer 16,4-6; Jer 34,5) bzw. die Todesnachricht eingetroffen ist (2Sam 1,11-12; 2Sam 11,26).

In Analogie zur Totenklage wurden im alten Orient und nach Ausweis der → Klagelieder (Klgl 1,1ff; Klgl 2,1ff; Klgl 4,1ff) auch in Juda die Zerstörung von Metropolen als Tod eines kollektiven Lebensraumes betrauert (vgl. unten 2.2.3), wenn eine Hauptstadt durch Erdbeben, Brand oder – wie im Falle → Jerusalems (vgl. 2Kön 25,8-17; Jer 39,8) – militärisch zerstört und ihre wesentlichen Lebensadern durchschnitten wurden (→ Zerstörung Jerusalems [587 v. Chr.]). Für die Stadt- und Untergangsklage findet sich im Alten Testament die Gattungsbezeichnung נֶהִי (næhî, vgl. z.B. Jer 9,9; Jer 9,17-19 sowie das Verb נָהָה nāhāh, „Untergangsklage halten“ in Ez 32,18; Mi 2,4).

2.2.1. Gattungsmerkmale des Leichenliedes sowie der Stadt- und Untergangsklage

Gattungstypische Stilmerkmale des Leichenliedes und der Stadt- bzw. Untergangsklage sind u.a. der Klagerhythmus von 3 + 2 Hebungen (→ Qina-Metrum) in einer Verszeile und die Eröffnung des Liedes oder einzelner Strophen mit klagenden Fragen (אֵיךְ ’êkh und אֵיכָה ’êkhāh „wie?“; מָה māh „was?“; מִי „wer?“), die die Bestürzung über den plötzlichen Tod und die Trauer über den Verlust eines oder einer hoch geehrten Verstorbenen zum Ausdruck bringen oder die Zerstörung einer Stadt beklagen (vgl. 2Sam 1,19b; 2Sam 1,25-27 bzw. die Eröffnungen der gattungsverwandten Stadt- und Untergangsklagen in Klgl 1,1; Klgl 2,1; Klgl 4,1-2 sowie die übertragenen Verwendungen der Gattung in Jes 1,21-26; Jes 14,4-21; Jer 9,18; Ez 19,2; Ez 26,17; Ez 27,32 und die Anspielungen in Jes 14,31; Jer 48,17; Jer 48,39; Jer 49,17; Jer 50,23; Jer 51,41; Ob 5-6; Zef 2,15 und dazu unten 3.1).

In thematischer Hinsicht sind der Gegensatz von Einst und Jetzt sowie das Lob und der Ruhm der Toten bzw. der zerstörten Städte bestimmend. Gerühmt wird z.B. in 2Sam 1,19-27 die Vorzüglichkeit und Heldenhaftigkeit von Saul und Jonathan, die in der Schlacht gefallen sind, sowie Jonathans innige Freundschaft zu David oder in 2Sam 3,33-34 die Unschuld des ermordeten Abner. In den Stadt- bzw. Untergangsklagen und prophetischen Leichenliedern sind es die einstige Pracht und die strahlende Größe Jerusalems (vgl. Jes 1,21-26; Klgl 1,1ff; Klgl 2,1ff; Klgl 4,1ff) bzw. von anderen Herrschaftszentren (vgl. Jer 48,17; Jer 50,23; Jer 51,41; Ez 26,17-18; Ez 27,2-36* und darin integriert Ez 27,32-36* sowie auch Am 5,2) oder von mächtigen Herrschergestalten (Jes 14,4-20; Ez 19,1-14; Ez 28,12-19; Ez 32,2; vgl. Ez 32,16), die jetzt bzw. in der prophetischen Zukunftsperspektive kläglich danieder liegen oder zunichte gemacht und zerbrochen sind.

2.2.2. Zur Funktion der Leichenlieder im Kontext der Totenklage

Im Primärzusammenhang der Totenklage und der Bestattungsriten hatte das Leichenlied neben dem verbalen Ausdruck der Wertschätzung und der Trauer um die Verstorbenen wahrscheinlich auch die Funktion, die Trauergemeinde zur rituellen → Klage, d.h. u.a. zum lauten Weinen, zum Schlagen der Brust (vgl. Jes 32,11) und zur litaneiartigen Deklamation von Klage- bzw. Weherufen (הוֹי hôj „wehe“!, vgl. unten 2.3) zu stimulieren (vgl. 2Sam 3,34b und Jer 9,17b!). Das geht insbesondere aus dem Aufruf zur Trauer in 2Sam 1,24 hervor, der sich gezielt an die → Klagefrauen richtet, was auch Jer 9,16; Jer 49,3 (vgl. Jes 32,11-12) und allgemeiner Am 5,16 belegen. Die zahlreichen Aufrufe zum Vollzug von rituellen Trauergebärden in der übertragenen Verwendung bei den Propheten (vgl. neben den eben genannten Stellen z.B. Jes 23,1; Jes 23,6; Jes 23,14; Jer 4,8; Jer 6,26; Jer 22,20; Jer 25,34; Mi 1,10; Mi 1,16; Ez 27,30-31; Zef 1,11) bestätigen das Bild, dass sich die Traueraufrufe an alle Beteiligten gerichtet haben (2Sam 3,31) und die Trauerriten im Unterschied zum Leichenlied gemeinschaftlich vollzogen wurden (vgl. z.B. 2Sam 1,11-12; Jer 16,5-6; Ez 24,23).

2.2.3. Besonderheiten der Stadt- und Untergangsklage – die Klagelieder (Klgl 1, 2 und 4)

Die Stadt- und Untergangsklagen (→ Stadtklage) unterscheiden sich von den Leichenliedern und den rituellen Aspekten der Totenklage im Wesentlichen nur im Gegenstand der Trauer. Statt einer konkreten Person, die gestorben ist, wird die zerstörte Stadt betrauert. Dabei werden in den altorientalischen Parallelen (vgl. Hardmeier, 1978, 125-130) das Trauerlied und die Klagerufe entweder der Stadt- bzw. der Tempelgottheit (zumeist einer → Göttin) in den Mund gelegt oder von den Stadtbewohnern selbst artikuliert.

Vergleichbar damit führt Klgl 1,1 in den → Klageliedern die zerstörte Stadt Jerusalem selbst als trauernde Witwe ein (→ Tochter Zion), wobei einerseits die Straßen und Tore zusammen mit den betroffenen Bevölkerungsgruppen trauern, als wären sie Körperorgane dieser Witwe (vgl. den charakteristischen Suffigal-Stil in Klgl 1,4 [„ihre Tore … ihre Priester … ihre Jungfrauen“] und Klgl 1,11a [„ihr Volk“] sowie Jes 14,31, ferner allgemeiner zu diesem Beschreibungsstil mit Pronominalsuffixen Klgl 1,4-11; Klgl 1,18-19; Klgl 2,9; Klgl 4,13). Andererseits ergreift sie als personifizierte Zionsstadt (→ Tochter Zion) wie etwa die Stadtgöttin Ningal in der Klage um die Zerstörung der sumerischen Stadt Ur selbst das Wort (vgl. Klgl 1,9b; Klgl 1,11b; Klgl 1,12-16; Klgl 1,18-22) und wendet sich an JHWH um Hilfe gegen die triumphierenden Feinde (vgl. bes. Klgl 1,21-22; ferner Klgl 1,5; Klgl 1,7; auch Klgl 2,20-22). Dabei verschweigt die geschundene Witwe nicht, dass JHWH diese Feinde zu Recht über die Stadt brachte (Klgl 1,5; Klgl 1,12-15), weil sie sich an ihm schwer verfehlt hatte (vgl. Klgl 1,5; Klgl 1,17-18; auch Klgl 1,8-9).

In thematischer Hinsicht stehen in diesen Klageliedern einerseits die Kriegsereignisse bzw. Kriegsfolgen (vgl. Klgl 1,3-7; Klgl 1,10; Klgl 2,2-8; Klgl 4,18-20 sowie in der 2. Ur-Klage [W.H.Ph. Römer, TUAT II/5, 700-707; The Electronic Text Corpus of Sumerian Literature] die Zeilen 19.28-29.31-35.58-75), und die eigenen politischen Fehlorientierungen (vgl. Klgl 1,8-9; Klgl 1,19; Klgl 2,14; Klgl 4,12-13; Klgl 4,17) im Vordergrund, die im Falle von Jerusalem um 587 v. Chr. zur Zerstörung der Stadt führten. Andererseits spielen der Hohn und Triumph der Feinde (vgl. Klgl 1,5; Klgl 1,7-8; Klgl 1,21; Klgl 2,15-17) sowie die bittere Not der Stadt und ihrer Einwohnerschaft, vor allem der Frauen, der Mütter und Kinder sowie der Alten und Gebrechlichen eine große Rolle (vgl. Klgl 1,5; Klgl 1,11; Klgl 1,16; Klgl 1,18-20; Klgl 2,10-12; Klgl 2,19-21; Klgl 4,2-5; Klgl 4,7-10 sowie in der 2. Ur-Klage Z. 5-16). Dabei wird das Zerstörungswerk nicht nur den Feinden (vgl. Klgl 1,10), sondern zugleich und vor allem dem → Zorn JHWHs (vgl. bes. Klgl 2,1-8; Klgl 2,17; Klgl 2,20-22; Klgl 4,11 und ferner Klgl 1,5; Klgl 1,13-15; Klgl 1,17; Klgl 1,21) bzw. dem Fluchwirken der Götter zugeschrieben (vgl. in der 2. Ur-Klage Z. 23-55 und Z. 58-64).

Diese breite Thematisierung der Katastrophenereignisse und der entstandenen Not dient im performativen Nachvollzug des Klageliedes zum einen der Bewältigung des tiefen Traumas von 587 v. Chr. Zum andern öffnet das Bekenntnis, dass JHWH zu Recht die Katastrophe bewirkt hat (vgl. Klgl 1,5; Klgl 1,18), den selbstreflexiven Raum, sowohl eigene Schuld zu erkennen und illusionäre Fehlorientierungen einzugestehen (vgl. Klgl 1,5; Klgl 1,8-9; Klgl 1,19; Klgl 2,14; Klgl 4,6; Klgl 4,12-13; Klgl 4,17) als auch zugleich den tiefen Wunsch nach Rache und Vergeltung gegen die Feinde in JHWHs Hand zu legen (vgl. Klgl 1,22, auch Klgl 4,21-22), um sich davor zu bewahren, die Rache unter Anheizung der Gewaltspirale und zum eigenen Schaden selbst in die Hand zu nehmen.

2.3. Der Weheruf הוֹי im rituellen Kontext der Totenklage

2.3.1. Der Weheruf im Rahmen von rituellen Ausdrucksformen der Totentrauer

Unter den rituellen Ausdrucksformen der Totentrauer nehmen die vom Kollektiv geäußerten Weherufe eine Sonderstellung ein. Zwar stehen sie im Äußerungskontext verschiedener nonverbaler Gesten und Gebärden der Totentrauer wie z.B. das Umgürten des Sackgewandes (2Sam 3,31; Jes 3,24; Jes 15,3; Jes 22,12; Jer 4,8; Jer 6,26; Jer 48,37; Jer 49,3; Ez 27,31; Klgl 2,10), das Scheren des Haupthaares (Jes 3,24; Jes 15,2; Jes 22,12; Jer 7,29; Jer 16,6; Jer 48,37; Ez 27,31; Mi 1,16; vgl. Jer 41,5) sowie die Sitte, sich Einschnitte zu machen (Jer 16,6; Jer 41,5; Jer 48,37; was in Dtn 14,1 und Lev 21,5 verboten wird) und sich im Staub zu wälzen (Jer 6,26; Ez 27,30), die auch im Falle von Untergangs- und Zerstörungskatastrophen vollzogen wurden. Allgemeinere Gesten der Bestürzung und der Buße (→ Umkehr) wie z.B. das Zerreißen des Obergewandes (2Sam 1,12; 2Sam 3,31) oder das Fasten (2Sam 1,12) kommen hinzu, die auch als Reaktionen auf Schreckensnachrichten, auf Schulderkenntnis und Unheilserfahrungen belegt sind (vgl. u.a. Gen 37,29; Ri 11,35; 2Sam 1,2; 1Kön 21,27; 2Kön 5,7-8; 2Kön 11,14; 2Kön 18,37; 2Kön 19,1; 2Kön 22,11; 2Kön 22,19 sowie 1Sam 7,6; 2Sam 12,16-23; Neh 9,1). Insgesamt sind diese Gesten und Gebärden als Selbstminderungsriten zu bezeichnen (Kutsch, 1965), während Weinen und Schreien darüber hinaus ganz allgemeine Ausdrucksformen von Schmerz, Trauer und Not sind und deshalb auch die Totentrauer begleiten.

Das Besondere der Weherufe (הוֹי hôj oder הוֹ ) liegt jedoch darin, dass es sich um sprachliche Äußerungen im rituellen Rahmen von nonverbalen Trauergebärden anlässlich der Totenbestattung handelt, wie aus 1Kön 13,30; 1Kön 14,13 (LXX); Jer 22,18 und Jer 34,5 (vgl. Am 5,16) hervorgeht. In diesen Fällen wird (außer in Am 5,16) stets auch die Person des Toten nach Alter- bzw. Verwandtschaftsgrad („Bruder“, „Schwester“, „Verwandter“, vgl. 1Kön 13,30; Jer 22,18) oder gesellschaftlicher Stellung („Herr“ in 1Kön 14,13; Jer 22,18; Jer 34,5) genannt, ohne jedoch angesprochen zu werden. Daran konnte sich nach außeralttestamentlichen Belegen die Nennung von lobenswerten Eigenschaften des bzw. der Verstorbenen in Form von Adjektiven oder Partizipien anschließen. Nach der grundlegenden Studie von H. Jahnow (1923) liegt es insbesondere von 2Sam 1,24 her nahe, dass die Trauernden mit diesen kurzen Weherufen auf die Traueraufrufe im Leichenlied geantwortet bzw. mit diesen Klagerufen den Leichenzug litaneiartig hinter der Bahre des Toten her begleitet haben (vgl. 2Sam 3,31; Am 5,16), wofür auch ethnologische Parallelen sprechen (Jahnow, 1923, 73-77; Hardmeier, 1978, 213-219).

2.3.2. Die syntaktisch-semantischen Besonderheiten des Weherufs הוֹי gegenüber dem Angst- und Schmerzensruf אוֹי

Ein Sonderproblem ist die semantische und funktionale Unterscheidung des Weherufs הוֹי (hôj) gegenüber dem Angst- und Schmerzensruf אוֹי. (’ôj)

In linguistischer Hinsicht sind der Weheruf (הוֹי hôj oder הוֹ ) und die nachfolgende Nennung der Betrauerten als emotional-affektiver Gefühlsausdruck der Totentrauer zu verstehen, der als expressive Sprechhandlung (vgl. Wagner, 1997, 300-302) weder eine Aussage (Prädikation) macht, noch in syntaktischer Hinsicht vom Vor- oder Folgetext abhängig ist. Auch stehen die Interjektion הוֹי hôj und die nachfolgende Personennennung unverbunden, d.h. aphrastisch nebeneinander. Ferner unterscheidet sich der Weheruf auch in lexikalischer Hinsicht von anderen expressiven Ausdrucksformen des Erschreckens (אֲהַהּ ’ǎhah / הָהּ hāh „ach!“; vgl. z.B. Ri 11,35; Ez 30,2), der Angst und des Schmerzes (אוֹי ’ôj oder אוֹיָה ’ôjāh / אִי ’î „wehe!“ / „au!“; vgl. z.B. Num 24,23; Jes 6,5; Jer 4,31; Ps 120,5; Spr 23,29; Pred 10,16), der Klage und der Bitte (אָנָּא ’ånnā’ und אָנָּה ’ånnāh „ach … doch!“; vgl. z.B. Gen 50,17; Ex 32,31; 2Kön 20,3; Ps 116,4) sowie der Freude, Schadenfreude und des Hohns (הֶאָח hæ’āch / אָח ’āch „ei!“ / „haha!“; vgl. z.B. Jes 44,16; Ps 35,25). Dabei werden mit Ausnahme von אוֹי ’ôj „wehe!“ diese expressiven Interjektionen wie auch der Weheruf הוֹי hôj im Wesentlichen aphrastisch verwendet.

Nur der Angst- und Schmerzensruf אוֹי ’ôj weist außer in Num 24,23; Ez 24,6 und Ez 24,9 stets einen mit der Präposition לְ („bezüglich“) angezeigten Bezug zur Person auf, die Angst oder Schmerzen empfindet, was von der Trauer um Verstorbene nicht gesagt werden kann. Damit unterscheidet sich der personenbezogene Angst- und Schmerzensruf אוֹי ’ôj nicht nur in semantischer, sondern auch in syntaktischer Hinsicht ganz klar vom Weheruf הוֹי hôj. Als expressiver Ausdruck der Totentrauer begegnet dieser weder in rituellen Primärzusammenhängen noch in den vorexilischen Prophetentexten mit einem syntaktischen Bezug zur betrauerten Person. Deshalb ist er auch in der Schriftprophetie als Übertragung der Totentrauer auf jene lebenden Personenkreise zu verstehen, die in den prophetischen Weheworten mit ihren korrupten Verhaltensweisen gekennzeichnet werden, und darf nicht als Drohruf („Wehe denen, die …“) missverstanden werden, wie es die Übersetzungen seit der → Septuaginta nahe legen (anders Wagner, 1997, 303-307, vgl. ferner unten 3.2.5.2).

3. Die metaphorische Verwendung der Toten- und Untergangsklage in der Schriftprophetie

Im prophetischen Schrifttum finden sich vielfältige Übertragungen der Leichen- und Untergangsklage sowie des Weherufs auf lebende Personengruppen der politischen Führung bzw. auf existierende Herrschergestalten und Herrschaftszentren. Die trauermetaphorische Rhetorik bezieht sich in der vorexilischen Schriftprophetie außer bei Amos überwiegend auf die judäischen Führungseliten und die Hauptstadt Jerusalem (vgl. unten 3.2.1 bis 3.2.4). Demgegenüber beschränken sich die exilisch-nachexilischen Schriften (vgl. unten 3.2.5) auf Übertragungen von Leichen- und Untergangsklagen auf die Nachbarvölker, wobei die Weherufe als etablierte Formen prophetischer Rede darin lediglich einen Nachhall finden.

3.1. Die rhetorische Grundfunktion der Trauermetaphorik in der Schriftprophetie

Die übertragenen Verwendungen des Leichenliedes, der Untergangsklage und der Weherufe in den prophetischen Reden lassen sich in ihrer Funktion nur unzureichend erfassen, wenn man sie lediglich isoliert und auf Einzeltexte bezogen in Betracht zieht. Denn die übergreifende Funktion dieser Trauermetaphorik liegt insbesondere in der vorexilischen Schriftprophetie darin, die politischen Krisen, Zusammenbrüche und Katastrophen, die die Propheten als → Tag JHWHs auf Jerusalem und das Volk zukommen sahen, ihren Zeitgenossen und Adressaten in verschiedenen Formen der vorwegnehmenden Toten- und Untergangstrauer drastisch und hautnah vor Augen zu führen. Statt den drohenden Untergang Jerusalems und den Tod ihrer politischen Verantwortungsträger erst dann in den jedermann vertrauten Formen der Toten- und Untergangsklage zu betrauern, wenn die erwartete Katastrophe eingetreten ist, nehmen die Propheten diese rituelle Trauer fiktiv vorweg.

Die Rhetorik der Toten- und Untergangstrauer verfolgt das Ziel, diejenigen zur Besinnung zu rufen und auf ihre Verantwortung aufmerksam zu machen, die in den Augen der Propheten die Krisenentwicklungen durch ihr korruptes, opportunistisches und gemeinschaftswidriges Herrschaftsgebaren (vgl. bes. die Weheworte in Am 6,1-7; Jes 5,8-12; Jes 5,18-23; Jes 10,1-3) verhängnisvoll verschärfen. Denn durch ihr verantwortungsloses Fehlverhalten, das vor allem JHWHs Mitwirksamkeit in allem historisch-politischen Geschehen leugnet oder außer Acht lässt, beschleunigten sie auf dem Erfahrungshintergrund des → Tun-Ergehen-Zusammenhangs blindlings die drohenden politischen Krisen und absehbaren militärischen Katastrophen (vgl. bes. Am 6,3; Jes 5,18; ferner Jes 28,14-22; Zef 1,12).

3.2. Die Trauermetaphorik in den einzelnen Prophetenbüchern

Diese Grundfunktion der prophetischen Trauermetaphorik ist zunächst exemplarisch an einschlägigen Jesajatexten zu beleuchten (3.2.1) und in Exkursen an ihren unterschiedlichen Ausprägungen in der vorexilischen Schriftprophetie weiter zu bestätigen (3.2.2), um einen abschließenden Blick auf ihre Abwandlungen in exilisch-nachexilischer Zeit zu werfen (3.2.3).

3.2.1. Trauermetaphorik, Tag-JHWH-Erwartung und gerichtsmetaphorische Sprache bei Jesaja – ein paradigmatischer Zusammenhang

Am umfassendsten ausgeprägt ist die übertragene Verwendung der Toten- und Untergangsklage in protojesajanischen Texten (→ Jesaja) an der Schwelle vom 8. zum 7. Jh. v. Chr. Am → Tag-JHWH-Diskurs, der als Primärkomposition Jes 1-11 zugrunde liegt (vgl. Hardmeier, 2007) und in Jes 22,1-14 einen Widerhall findet, lässt sich im folgenden Exkurs exemplarisch der paradigmatische Zusammenhang der prophetischen Trauermetaphorik mit den Tag-JHWH-Erwartungen und der gerichtsmetaphorischen Sprache aufzeigen, der die alttestamentliche Schriftprophetie nachhaltig geprägt hat.

Jes 1,21-26. Mit der transfigurierten Stadtklage über Jerusalem in Jes 1,21-26 eröffnet Jesaja einen Diskurszusammenhang, der auf Jes 11,1-5 hinausläuft. Das Untergangslied betrauert die zur → Hure verkommene Zionsstadt (Jes 1,21) und kündigt JHWHs Einschreiten gegen seine Feinde an (Jes 1,24). Als Feinde nimmt die Klage die verdorbenen Herrschaftseliten ins Visier, die Jerusalem durch Korruption und Unrechtsverhalten zugrunde gerichtet haben (Jes 1,23), jedoch in einem Läuterungsprozess (Jes 1,25; vgl. Jes 1,22) durch eine neue Administration ersetzt werden sollen (Jes 1,26a), damit die Stadt in ihrer einstigen Würde als Hort der Treue, des Rechts und der → Gerechtigkeit wiederhergestellt wird (Jes 1,26b, vgl. 21).

Jes 2,12-16. JHWHs Einschreiten wird anschließend in Jes 2,12-16 als bevorstehender Tag JHWHs ins Bild gesetzt, an welchem JHWH alles Hochragende an repräsentativen (Jes 2,13), militärischen (Jes 2,15) und ökonomischen (Jes 2,16) Machtsymbolen alsbald niederwalzen und damit nach Jes 3,1-3 zugleich die korrupten Machteliten Jerusalems und Judas beseitigen wird, die in v2f. nach ihren Herrschaftsfunktionen differenziert werden.

Jes 3,13-15. Im folgenden Abschnitt Jes 3,13-15 des primären Diskurszusammenhangs eröffnet JHWH ein fiktives Gerichtsverfahren gegen die politisch verantwortliche Führungsschicht (Jes 3,14a), die in sachlicher Korrespondenz zu Jes 1,23 angeklagt wird, den Weinberg ausgeplündert und die arme Bevölkerung beraubt bzw. geschunden zu haben (Jes 3,14b.15).

Jes 5,1-6. In Jes 5,1-6 lässt Jesaja dann JHWH als Liebhaber dieses Weinbergs auftreten (Jes 5,1), der allerdings trotz der mühevollen Pflege durch den Weinbergbesitzer (Jes 5,2a) nur verdorbene Früchte hervorgebracht hat (Jes 5,2b), was in Analogie zur Stadt Jerusalem zu sehen ist, die nach Jes 1,21-23 ob der Korruption der politischen Führung zur Hure verkommen ist. Dementsprechend kehrt auch im Bild der faulen Früchte erneut diese korrupte Führungsschicht wieder, die auf der Linie der Untergangsklage (vgl. Jes 1,23) und gemäß der richterlichen Anklage in Jes 3,14 den Weinberg ausgeplündert hatte. Demgegenüber beteuert nun JHWH in Fortführung des fiktiven Gerichtsverfahrens von Jes 3,13-15 vor dem geladenen Gerichtsforum (vgl. Jes 3,13; Jes 5,3), dass er keine Schuld trägt an der Verderbnis des Weinbergs (Jes 5,4) und spricht ihm in Jes 5,6 das Urteil. Als Strafe kündigt JHWH an, seinem Weinberg den göttlichen Schutz zu entziehen und damit die verdorbene Stadt in voller Entsprechung zu Jes 3,1 schutzlos der Wildnis preiszugeben.

Auf diesem gerichtsmetaphorischen Hintergrund der Fortsetzung des Tag-JHWH-Diskurses in Jes 3,13-15 und Jes 5,1-6 gewinnt nun aber ein zweiter Aspekt der fiktiven Untergangsklage von Jes 1,21-26 schärfere Kontur. Nicht nur angesichts der inneren Zerstörung der Zionsstadt (Jes 1,21.23) stimmt Jesaja sein Untergangslied an, sondern vorwegnehmend vor allem auch deshalb, weil JHWH in seinem strafenden Eingreifen gegen die korrupten Führungseliten (Jes 1,24-25; Jes 3,14) entschlossen ist, seinen Weinberg und damit Jerusalem selbst schutzlos preiszugeben (Jes 5,6). Dabei leitet schon Jes 1,24 dieses entschlossene Eingreifen mit dem Weheruf הוֹי hôj ein, der nun im Anschluss an die Urteilsverkündigung in Jes 5,6 konsequent aufgegriffen und in der Wehe-Reihe von Jes 5,8ff entfaltet wird.

Sieben Weherufe in Jes 5,8-12.18-23; 10,1-4a. Denn in den sieben Weherufen von Jes 5,8-12 (1. und 2. Klageruf), Jes 5,18-23 (3. bis 6. Klageruf) und Jes 10,1-4a (7. Klageruf), die im protojesajanischen Diskurszusammenhang unmittelbar aufeinander folgten, nimmt Jesaja das korrupte Herrschaftsgebaren der Jerusalemer Führungseliten in all seinen Facetten scharf aufs Korn. Auf das korrupte Fehlverhalten, das in den Augen des Propheten zur voraus geahnten Zerstörung Jerusalems und ihrer Ahndung durch JHWH führt, wird in Jes 1,23 sowie Jes 3,14-15 zunächst nur knapp angespielt. In den Weheworten ab Jes 5,8ff kommt dann aber die Korruption in all ihren Erscheinungsformen breit zur Sprache, allerdings unter einer gezielten Parodierung der rituellen Klagerufe. Denn in den rituellen Responsorien der Totentrauer nehmen die Weherufe das Lobpreis der Toten aus dem Leichenlied auf und bringen es durch attributive Adjektive oder Partizipien zum Ausdruck (vgl. oben 2.3.1). Demgegenüber beziehen sich die prophetischen Weherufe auf die noch lebende Herrschaftsschicht in Form von anonymen pluralischen Partizipien, die zudem nicht etwa das Lob dieser administrativen Funktionsträger, sondern den Tadel und die beißende Kritik an ihrem Unrechtsverhalten facettenreich zum Ausdruck bringen.

Damit nehmen die prophetischen Weherufe nicht nur allgemein die Situation der Untergangstrauer vorweg. Zugleich wird damit auch die persönliche Totenklage im Voraus über diejenigen erhoben, die in der zeitnah erwarteten Untergangskatastrophe selbst umkommen werden. Das geht konzis aus dem 7. Wehewort in der Reihe, Jes 10,1-4a, hervor, das diesen Zusammenhang in Form einer rhetorischen Frage in Jes 10,3.4a genau auf den Punkt bringt: „Was wollt ihr tun am Tage der Ahndung und bezüglich des (Kriegs-)Sturms, der von ferne heraufzieht? Zu wem wollt ihr fliehen um Hilfe und wo euren Reichtum hinterlassen? Gar nichts (davon)! Gebeugt wird man sein unter Gefangenen, und fallen werden sie unter Hingerichtete.“

Zudem bildet dieses 7. Wehewort die Klimax des ganzen Tag-JHWH-Diskurses von Jes 1,21 bis Jes 11,5, in welcher sich die prophetische Trauermetaphorik, die Tag-JHWH-Erwartung und die gerichtsmetaphorische Redeweise kunstvoll verschränken. Denn Jes 10,1-4a schließt 1. die Reihe der Konkretionen des Weherufs von Jes 1,24 krönend ab, indem das Grundübel der Korruption im unmittelbaren Anschluss an den 6. Weheruf (Jes 5,23) auf seine tiefste und bitterste Wurzel, nämlich die Perversion von Recht und Gerechtigkeit, zurückgeführt wird (vgl. Jes 1,21; Jes 1,25-26). 2. verknüpft das Wort JHWHs bevorstehendes Eingreifen (Jes 1,24) mit dem Katastrophentag, dessen zeitnahes Kommen Jesajas Gegner nicht wahrhaben wollen (vgl. Jes 5,18-19) und an welchem JHWH alles Hohe und Erhabene, d.h. die ganze Machtarroganz erniedrigen (Jes 2,12-16) und die korrupte Jerusalemer Führung beseitigen wird (vgl. Jes 3,1-3; Jes 10,4a). Und 3. wird dieser Tag JHWHs in Jes 10,3a zugleich gerichtsmetaphorisch als „Tag der Ahndung“ bezeichnet, an welchem JHWH im Rahmen des fiktiven Gerichtsverfahrens (vgl. Jes 3,13-15; Jes 5,1-6) sein Urteil von Jes 5,6 vollstrecken wird.

Jes 10,28-34; 11,1-5. Aus den Schlussstücken in Jes 10,28-34 und Jes 11,1-5 geht die historisch-politische Dimension dieses Diskurszusammenhangs hervor. Der bevorstehende Tag der Ahndung und des kriegerischen Ansturms (Jes 10,3a) hat in Jes 10,28-34 die konkrete Gestalt einer schnellen Eingreiftruppe, die sich von → Samaria her – unter Umgehung der judäischen Verteidigungslinie von → Mizpa – drohend bis vor die Zionsstadt durchgeschlagen hat (vgl. Jes 10,32!) und nach dem Willen JHWHs alsbald die Machtarroganz der korrupten Führungseliten zu Fall bringen wird (Jes 10,33-34; vgl. die Übereinstimmung in der Bildsprache mit Jes 2,12-13!).

In historischer Hinsicht dürfte es sich bei diesem Truppenvorstoß um leichte assyrische Kampfeinheiten gehandelt haben, die Jerusalem um 701 v. Chr. von Norden her angriffen, um den aufständischen König → Hiskia und die Jerusalemer Administration zur Rechenschaft zu ziehen und zu disziplinieren, während das Hauptheer bereits dabei war, die Schefela und die Festungsstadt → Lachisch zu erobern (vgl. 2Kön 18,13). In diesem Truppenvorstoß gegen Jerusalem sah Jesaja den historisch-politischen Hebel, mit welchem JHWH die korrupte Jerusalemer Führung beseitigen würde, die ja durch ihre illusionäre antiassyrische Bündnispolitik (vgl. bes. die Weheworte in Jes 30,1-5; Jes 31,1-3; ferner Jes 28,14-22) den assyrischen Gegenschlag provoziert hatte.

Dabei rechnete der Prophet in Jes 11,1-5 mit einem grundlegenden Herrschaftswechsel, bei dem Hiskia und die Jerusalemer Administration – wie es von den Assyrern vielfach praktiziert wurde – bestraft und abgesetzt sowie durch eine neue Regierung „aus der Wurzel Isaïs“ (Jes 11,1, d.h. aus dem Davididengeschlecht) ersetzt würde. Und in Verbindung damit erhoffte er sich die Rückkehr zu einer klugen und besonnenen Politik im Respekt gegenüber JHWH (Jes 11,2-3a) und die Wiederherstellung von gerechten Verhältnissen in Jerusalem (vgl. Jes 11,5 mit Jes 1,26!), die der Ausbeutung und Rechtlosigkeit der Armen ein Ende setzen (Jes 11,3b-4).

Jes 22,1-14. Eine Bestätigung dieser Interpretation liefert die zeitnahe Rückschau Jesajas auf die Belagerung Jerusalems um 701 in Jes 22,1-14 (während es sich bei den Schilderungen in 2Kön 18,17-19,37 = Jes 36,2-37,37 um eine spätere historische Fiktion handelt). Da sich Hiskia den assyrischen Drohungen rechtzeitig beugte und sich in Lachisch ergab sowie dem assyrischen Großkönig → Sanherib schweren Tribut leistete (vgl. den Annalenauszug in 2Kön 18,13-16), blieben um 701 sowohl schwerwiegende Zerstörungen der Stadt als auch der von Jesaja erwartete Herrschaftswechsel aus. Deshalb freute sich die Bewohnerschaft Jerusalems ausgelassen (Jes 22,1b-2a.13) und nahm die zum Teil nicht ganz unerheblichen Kriegsfolgen (Jes 22,2b-3) und Beschädigungen der Stadt (Jes 22,8b-11a), die von den vor Jerusalem kämpfenden Truppen (Jes 22,5-8a, vgl. Jes 10,32) verursacht wurden, auf die leichte Schulter. Demgegenüber sah Jesaja in diesem Kampfgeschehen durchaus das Eintreffen von JHWHs Tag (Jes 22,5), den er in Jes 2,12-16 und Jes 10,3 heraufkommen sah, obschon nicht alle erwarteten Effekte – weder erhebliche Zerstörungen der Stadt, noch die Absetzung und der Austausch der Jerusalemer Führung (vgl. jedoch Jes 22,2b-3 mit Jes 10,3b-4a!) – eingetreten waren. Deshalb beteiligte sich der Prophet demonstrativ nicht am Freudentaumel, sondern verfiel in tiefe (Untergangs-)Trauer ob dem situativ entstandenen, vor allem aber dem nicht beseitigten inneren Schaden, den die Zionsstadt und Juda genommen hatten (Jes 22,4). Ferner sah er in diesen Kriegsereignissen den Tag gekommen, an welchem JHWH statt der Freudenfeiern (Jes 22,13) zu jener Toten- und Untergangstrauer aufrief (Jes 22,12), die Jesaja im Tag-JHWH-Diskurs von Jes 1-11* demonstrativ vorweggenommen hatte. Dabei hätten diese Vorwegnahmen Jesajas Zeitgenossen bereits im Vorfeld des Hiskia-Aufstandes zur Einsicht in ihre verfehlte und selbstzerstörerische Politik bringen solle, die sie, ohne sich vor JHWH zu verantworten, betrieben hatten. Jedoch waren sie offenbar selbst nach den Katastrophen-Ereignissen von 701 zu diesen Einsichten nicht in der Lage (Jes 22,11b), so dass ihre Schuld ohne Sühnung blieb (Jes 22,14) und die alten Verhältnisse der Korruption über 701 hinaus fortbestanden. – Auch die weiteren Spuren trauermetaphorischer Rede in den vorexilischen Jesajaschriften gehören in diesen paradigmatischen Zusammenhang von Katastrophenahnung und Gerichtssprache und finden sich in den Weheworten von Jes 1,4ff, Jes 10,5ff, Jes 17,12ff, Jes 18,1ff, Jes 28,1ff, Jes 29,1ff, Jes 29,15ff, Jes 30,1ff und Jes 31,1ff.

Dieses bildsprachliche Ineinander von Trauer- und Gerichtsmetaphorik im Kontext der Naherwartung eines von JHWH gewirkten Unheilstags (→ Prophetische Redeformen), der als militärische Katastrophe über die Stadt Jerusalem alsbald hereinbrechen wird bzw. in den Augen Jesajas um 701 hereingebrochen war, verbietet es, die prophetischen Weheworte (wie Wagner, 1997, 304f.) als Scheltworte oder Strafandrohungen zu verstehen und sie – ganz abgesehen von der grammatischen Unzulässigkeit – als solche zu übersetzen („Wehe denen, die …“, vgl. oben 2.3.2 und unten 3.2.5.2). Zudem zeigt sich in der vorexilischen Prophetie auch generell, dass die Tag-JHWH-Erwartungen jeweils recht klar und konkret auf zeitnah erwartete Katastrophenereignisse bezogen waren, vor allem aber, dass sie häufig in den Formen der Toten- und Untergangstrauer und insbesondere der Weheworte vorwegnehmend artikuliert wurden.

3.2.2. Die Trauermetaphorik bei Micha und Amos

1. Micha. Wie bei Jesaja steht auch bei → Micha die Trauermetaphorik ganz im Dienste der Unheilsansage und der Kritik an den judäischen Führungseliten, die durch ihr korruptes Verhalten für die Kriegskatastrophe von 701 verantwortlich gemacht werden.

Auch wenn im ältesten Teil des Michabuches (Mi 1-3) nicht explizit von einem zeitnah erwarteten Tag JHWHs die Rede ist, so wird dennoch auch die alte Michaschrift – vergleichbar mit Jes 1,21-26 im Tag-JHWH-Diskurs Jesajas – mit einer Untergangsklage aus dem Munde des Propheten eingeleitet (Mi 1,8), der auch in Mi 3,1 und Mi 3,8 in der Ich-Rede zu Worte kommt. Anlass für die Untergangstrauer ist in Mi 1,9-16 der verheerende Vormarsch der assyrischen Truppen um 701 insbesondere gegen → Lachisch (vgl. Mi 1,13) und die westjudäische Schefela, der zwar nur in den direkt bedrohten Orten (vgl. Mi 1,10-15; 2Kön 18,13) Schrecken und Totentrauer (vgl. bes. Mi 1,10f.) auslöst, aber in politischer Hinsicht die Hauptstadt Jerusalem trifft.

Dabei steht die Darstellung dieses Truppenvorstoßes der impressionistischen Schilderung in Jes 10,28-32 ganz nahe. Zudem schreibt auch Micha dieses Kriegsgeschehen dem Unheilswirken JHWHs zu, allerdings ohne es explizit als Tag JHWHs zu bezeichnen (vgl. oben 3.2.1). Jedoch ist wie bei Jesaja auch bei Micha sowohl in der trauermetaphorischen Zeichenhandlung in Mi 1,8 (vgl. Mi 1,9) als auch im Traueraufruf in Mi 1,16 die Bedrohung Jerusalems der primäre Anlass für die Untergangstrauer (anders Kessler, 2000, 92.109-110). Denn Micha sieht im assyrischen Truppenvorstoß gegen die judäische Schefela (vgl. Mi 1,9aβ!) und die Hauptfestung Lachisch (Mi 1,13) in politischer Hinsicht völlig zu Recht den vernichtenden Hauptschlag, der von JHWH eigentlich gegen die judäische Metropole selbst geführt wird (vgl. Mi 1,12 mit Mi 1,9 und das Schlusswort in Mi 3,9-12). Deshalb wird in Mi 1,16 die „Tochter Zions“ (Mi 1,13) ebenso zur Toten- und Untergangstrauer veranlasst (vgl. die Formen der 2. pers. feminin!), wie sie der Prophet vorwegnehmend in Mi 1,8 über Jerusalem demonstriert, auch wenn die Stadt dann in militärischer Hinsicht von Samaria her mit leichten Truppen angegriffen (vgl. Jes 10,28-32) und belagert wurde (vgl. Jes 22,5-8 und oben 3.2.1).

Wie der Tag-JHWH-Diskurs Jesajas schließt auch Micha im Wehewort von Mi 2,1-3 die führende Oberschicht mit beißender Ironie in die Untergangstrauer ein, da der Unheilsschlag JHWHs gegen Jerusalem auch sie treffen wird (vgl. Mi 2,3 mit Mi 1,12b! und die Nachinterpretation in Mi 2,4f.), zumal es ihre erpresserischen Machenschaften sind (vgl. Mi 2,1f. mit Jes 5,8-10; Jes 10,2; Jes 3,14), die dieses Unheil herbeiführen (vgl. Mi 2,3; Mi 3,9-12). Somit stimmt Micha im Gebrauch der Trauermetaphorik als rhetorisches Mittel, um die zeitnah bevorstehende Kriegskatastrophe in ihren leidvollen Konsequenzen vorwegnehmend zu vergegenwärtigen und die korrupten Führungseliten zur Verantwortung zu ziehen, völlig mit Jesaja überein, allerdings ohne diese Verantwortung auch in gerichtlichen Kategorien zu thematisieren.

2. Amos. Im → Amosbuch lässt sich dieser Gebrauch der Trauermetaphorik nur auf der kompositionellen Ebene vor allem in Am 5-6 erkennen, ohne dass darin so konkrete Bezüge auf bestimmte historisch-politische Katastrophen wie bei Jesaja und Micha auszumachen sind.

Der Text Am 5,1-3 fasst in der Form eines metaphorischen Leichenliedes (קִינָה qînāh) den Tod der „Jungfrau Israel“ ins Auge, die den Nordreichsstaat verkörpert und aufgrund von verlustreichen Kriegsereignissen (Am 5,3) auf dem Boden liegen wird (Am 5,2). Damit korrespondiert in Am 5,16-17 die Situationsschilderung einer landesweiten Toten- und Untergangsklage als Reaktion auf JHWHs verheerendes Einschreiten (Am 5,17b). Im darauf folgenden Weheruf Am 5,18-20, wird dieses Einschreiten als unheilsträchtiger Tag JHWHs ins Bild gesetzt, der im Gegensatz zu den illusionären Heilserwartungen der Angesprochenen statt eine lichte Zukunft lauter Finsternis und Dunkel bringen wird (Am 5,20, vgl. Am 5,19) gemäß den konkreten Ankündigungen in Am 5,3 und Am 5,11. Denn JHWH verabscheut die fehlgeleiteten Kultfeiern (Am 5,21-24) und ihre üppige Ausstattung (Am 5,22f), die Heil und Segen für das Land kultisch absichern und die eigene Siegesgewissheit (vgl. Am 6,13) religiös überhöhen sollten, während Recht und → Gerechtigkeit mit Füßen getreten werden (Am 5,24; vgl. Am 5,7; Am 5,10; Am 6,12) und JHWH zum Einschreiten provozieren (vgl. Am 6,14 mit Am 5,17, ferner Am 8,10, auch Am 8,3). Wie in Mi 2,1-3 und in den Wehe-Reihen von Jes 5,1ff und Jes 10,1-4 geißelt auch Amos im Wehewort von Am 6,1-7 mit bitterer Ironie die feiste Führungsschicht (Am 6,4-6), die den Tag des Unheils verdrängt (Am 6,3a), obwohl gerade sie für das nahende Desaster verantwortlich ist (Am 6,3b) und deshalb vom kommenden Unheil als erste ereilt wird (vgl. Am 6,1.7).

3.2.3. Die Trauermetaphorik bei Zefanja und Nahum

1. Zefanja. Auch im → Zefanjabuch findet sich diese paradigmatische Konstellation von → Tag-JHWH-Erwartung und Trauermetaphorik mit gerichtsmetaphorischen Zügen.

An dem von Zefanja erwarteten JHWH-Tag (Zef 1,7-18), der mit leidvollen Kriegsverheerungen verbunden ist (vgl. Zef 1,10f.13-16.18), wird die ausbeuterische Oberschicht richterlich zur Rechenschaft gezogen (vgl. das Leitwort פקד pqd „ahnden / heimsuchen“ in Zef 1,8f.12). Zef 2,1-15* entfaltet dann die internationalen Auswirkungen dieses JHWH-Tages (vgl. Zef 1,1f.4-6.12-14; zu beachten ist der Weheruf in Zef 1,5!), die auch Jerusalem treffen werden. Denn Zef 3,1-5 erhebt in Form eines Weherufs (vgl. Zef 3,1) eine vorwegnehmende Stadtklage, die Jes 1,21-26 nahe steht und JHWHs richterliches Einschreiten (Zef 3,5) gegen die korrupten Herrschaftseliten thematisiert (Zef 3,3f.), die in Zef 1 als Profiteure gebrandmarkt werden.

Die historisch-politischen Krisen, auf die sich die JHWH-Tag-Erwartungen bezogen haben könnten, sind bei Zefanja insofern vielschichtiger, als in Zef 1-3 ein primärer Tag-JHWH-Diskurs von einer jüngeren Bearbeitung zu unterscheiden ist, deren Struktur wir oben umrissen haben. Der ältere Primärdiskurs (Zef 1,7a.bβ-9.12aβ.b.17 und Zef 3,1.3-5) scheint nur von einem zeitnahen Schlachtopfertag JHWHs (Zef 1,7bβ) gesprochen zu haben, an welchem die assurhörige (Zef 1,8b und 9a), korrupte (Zef 1,9b, vgl. Zef 3,4) und sich selbst bereichernde (Zef 1,12; vgl. Zef 3,3) Führungsschicht zur Rechenschaft gezogen (Zef 3,5) und abgeurteilt wird (Zef 1,17b). Als historisch-politisches Krisengeschehen kommen dafür am ehesten die blutigen Auseinandersetzungen um die Nachfolge → Manasses und der Umsturz des Landadels (עַם־הָאָרֶץ ‘am-hā’āræṣ) in Frage, der um 640/39 den jungen → Josia an die Macht gebracht hatte (vgl. 2Kön 21,23-24) und gemäß diesem Diskurs wahrscheinlich von einer radikalen Abrechnung mit den Führungseliten und Nutznießern des Manasse-Regimes (696-642) begleitet war. Demgegenüber deuten in der jüngeren Bearbeitung die Erwartungen von Kampfhandlungen (vgl. Zef 1,10-11.13-16.18) und leidvollem Kriegsgeschehen in überregionalen (Zef 2,4-6) und internationalen Ausmaßen (Zef 2,12-14) eher auf die aggressive Expansionspolitik der Babylonier am Ende der Josiazeit (ab 625), die zusammen mit den Medern das assyrische Großreich bis zum Fall → Ninives (um 612 v. Chr., vgl. Zef 2,13) niedergekämpft und um 605 auch die Levante überrannt hatten.

2. Nahum. Wie Zef 2,13-14 in historisch-politischer und Zef 3,1-5 in rhetorischer Hinsicht fassen auch die ältesten Teile der → Nahumschrift (vgl. Köckert, 2003, 29f.) noch vor 612 den Untergang → Ninives im Gestus der Untergangsklage ins Auge.

Dabei sind es auch hier voraussehbare Kampfhandlungen und Kriegsereignisse (vgl. Nah 2,2; Nah 2,4-11; Nah 3,1-3), die der assyrischen Metropole den Untergang bereiten (Nah 3,8-15) und den prophetischen Seher in Nah 3,1-3 dazu veranlassen, mit dem Weheruf in v1 – vergleichbar mit Zef 3,1-5 – eine vorwegnehmende Stadtklage über die Blutstadt Ninive zu eröffnen. Allerdings kommt dieses Unheilsgeschehen weder als JHWHs Tag oder sein Wirken, noch in gerichtsmetaphorischen Kategorien zur Sprache.

3.2.4. Die Trauermetaphorik bei Jeremia und Habakuk

1. Jeremia. Bei → Jeremia verschieben sich die Akzente im metaphorischen Gebrauch der Toten- und Untergangsklage deutlich.

Zum einen finden sich bei ihm, wie auch bei Micha, weder die fiktive Totenklage über das ganze Volk wie in Am 5,1-3, noch metaphorische Stadt- und Untergangsklagen, die wie in Jes 1,21-26 oder Zef 3,1-5 den Untergang Jerusalems (bzw. in Nah 3,1-3 Ninives) prospektiv betrauern. Vielmehr dient die Totenklage bei Jeremia wie in Mi 1,10-11 (vgl. Mi 1,16) einerseits dazu, vor 587 die verheerenden Kriegsfolgen, die der Anmarsch des babylonischen Heeres zur Bestrafung der Jerusalemer Aufstandskoalition für die Bevölkerung mit sich bringen wird, in Form von Traueraufrufen vorwegnehmend zu vergegenwärtigen (vgl. Jer 4,8; Jer 6,26 [vielleicht auch Jer 7,29 im direkten Anschluss an Jer 6,30]). Andererseits charakterisiert Jeremia die desolate Lage auch nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems mehrfach durch Toten- und Untergangsklagen, die er entweder selbst vollzieht (vgl. Jer 9,9 [vgl. Jer 8,18-23; Jer 9,1]) oder wozu er die → Klagefrauen auffordert (Jer 9,16-17). Auch sollen diese Frauen ihrerseits solche Trauerlieder singen (Jer 9,18; vgl. auch Jer 9,20; Jer 30,7; Jer 31,15) und ihre Töchter in der Gesangskunst der Toten- und Untergangstrauer unterweisen (Jer 9,19, zu den Texten vgl. Wanke, 1995, 101-109). In diesem Umfeld von Spezialistinnen könnten auch die Klagelieder über Jerusalem (Klgl 1,1ff, Klgl 2,1ff und Klgl 4,1ff) entstanden sein (vgl. oben 2.2.3), wobei diese Lieder entgegen der Zuschreibung in der Kanonsgeschichte, die sich auf 2Chr 35,25 stützt, nicht von Jeremia stammen.

Jer 22,13-19. Zum anderen verwendet Jeremia den Weheruf in Jer 22,13-19 in einer persönlich zugespitzten Form. Er ruft das Wehe nicht kollektiv über die korrupten Führungseliten oder Städte aus, sondern nimmt das Prunkgehabe und Ausbeutungsverhalten → Jojakims (608-598) ins Visier und erhebt mit bitterer Ironie das Wehe über den amtierenden König Jojakim (vgl. Jer 22,13-15a und 17), dem er ein unwürdiges Todesschicksal in Aussicht stellt (Jer 22,18f). Dabei kontrastiert der Prophet dieses Verhalten in Abwandlung des Gattungsschemas von „Einst und Jetzt“ (vgl. oben 2.2.1) mit dem guten und maßvollen Leben von Jojakims Vater → Josia (639-609) in Recht und Gerechtigkeit (vgl. Jer 22,15b-16).

Allerdings ist auch das Wehewort über Jojakim (Jer 22,13-19) kein isoliertes Prophetenwort, sondern bereits in der Primärstufe Teil einer etwas umfangreicheren Diskurseinheit, die mit dem Höraufruf in Jer 21,11b.12aα eröffnet wird. Sie hat sich an Sympathisanten des Landadels (עַם־הָאָרֶץ ‘am-hā’āræṣ) und an Anhänger der josianischen Reform im Königshaus (vgl. Jer 21,12aα) gerichtet, die Jojakim kritisch gegenüberstanden. In Jer 22,10 werden sie dazu aufgerufen, nicht (weiter) um den Toten, nämlich um König Josia zu trauern, sondern um den vom Landadel als Nachfolger eingesetzten Schallum / → Joahas (609 v. Chr.; vgl. 2Kön 23,30). Denn dieser wurde von Pharao → Necho (610-595 v. Chr.) gewaltsam nach Ägypten verschleppt, damit an seiner Stelle um 608 Jojakim als ägyptischer Vasallenkönig eingesetzt werden konnte (vgl. Jer 22,10b und 2Kön 23,33-34). Die (Toten)trauer bezieht sich hier ganz konkret auf den um 609 ermordeten Josia (vgl. 2Kön 23,29) und seine Nachfolger, wobei die Spitze dieser Diskurseinheit darin liegt, dass Jeremia als schärfster Kritiker Jojakims dem amtierenden König in Jer 22,13-19 vorwegnehmend die Totenklage hält. Denn bei seinem unwürdigen Begräbnis werden keine rituellen Klagerufe mehr zu hören sein (Jer 22,18f).

Hinzu kommt in historischer Hinsicht, dass es sich bei Jer 22,18f (vgl. Jer 36,30b) um eine prophetische Ankündigung handelt, die nachweislich so nicht eingetroffen ist. Denn Jojakim war um 598 noch eines friedlichen Todes gestorben (vgl. 2Kön 24,6), bevor die Babylonier am 16. März 597 Jerusalem das erste Mal eingenommen und → Zedekia als Vasallenkönig eingesetzt hatten an Stelle von Jojakims Sohn Jojachin, der nach Babylon deportiert wurde (vgl. 2Kön 24,10-17). Weil nun aber die Ankündigung von Jer 22,18f angesichts der friedlichen Bestattung → Jojakims nicht in Erfüllung ging, hatte vermutlich der aufständische König → Zedekia während der zweiten Belagerung Jerusalems um 588/587 befürchtet, dass ihn im Falle einer Einnahme der Stadt seinerseits das unabgegoltene Schicksal einer unwürdigen Bestattung einholen könnte. Jedenfalls wird diese Sorge in Jer 38,19 im Rahmen der heimlichen Unterredung zwischen Zedekia und Jeremia (Jer 38,14-26) deutlich erkennbar, und Jer 34,4-5 dürfte darauf eine Antwort gegeben haben.

Damit zeigt sich auch bei Jeremia, dass sich der Gebrauch der prophetischen Trauermetaphorik stets vorwegnehmend auf historisch konkrete Krisen, Katastrophenereignisse und Todesbedrohungen bezogen hat, auch wenn sie nicht explizit als Tag-JHWH-Geschehen bezeichnet wurden. Zudem ist auch die gerichtsmetaphorische Sprache für Jeremia typisch (vgl. dazu Jer 2-6 und Hardmeier, 2006, 102-115). Neu bei Jeremia ist lediglich, dass er – aufgrund der Zerstörung Jerusalems und angesichts von Tod und Verwüstung – selbst die Trauerklage erhebt (Jer 9,9; vgl. vorwegnehmend auch Mi 1,8) bzw. die → Klagefrauen dazu veranlasst (Jer 9,16-20). Demgegenüber sind die Verbote in Jer 16,5-8 Teil der deuterojeremianischen Unheilsperspektive von Jer 16,1-9, die aus der Distanz von zwei Generationen die Gnadenlosigkeit der Untergangskatastrophe aus pädagogischen Gründen (vgl. Jer 16,10ff) generalisiert und radikalisiert. Vergleichbares gilt für die Generalisierung im Wehewort in Jer 23,1ff.

2. Habakuk. Auch im ältesten Kern des Buches → Habakuk steht die Wehereihe in Hab 2,6-16*, die ursprünglich die judäischen Führungseliten und ihre gewinnsüchtige und ausbeuterische Herrschaftspraxis ins Visier nimmt (nach Otto, 2000, 1361f.) in einem abgewandelten, wenn auch gerichtsmetaphorisch geprägten Kontext.

Die Weheworte haben hier die Funktion, den Profiteuren von Gewalt und Unrecht in Jerusalem in Vorwegnahme ihres Todesschicksals das Ende anzukündigen (vgl. Hab 2,3), und bilden die Antwort auf die Klage des Propheten, der an den Unrechts- und Gewaltverhältnissen seiner Zeit – wahrscheinlich unter → Jojakim (608-598) – leidet (vgl. Hab 1,2-4; Hab 1,12a.13-14 mit der Fortsetzung in Hab 2,1-5*). Er darf die Gewissheit haben, dass die Übeltäter in ihrer todeswütigen Gier (vgl. Hab 2,5) kein langes Leben haben werden (Hab 2,3-5*). Denn ihr Tod, den die Wehereihe vorwegnimmt, wird sie beim Vormarsch und den Angriffen der babylonischen Heeresmacht ereilen (vgl. Hab 1,5-11), wobei JHWH in diesem Kriegsgeschehen selbst Gericht hält (Hab 1,12b) und die Übeltäter mit Gewissheit (Hab 2,3) zur Rechenschaft ziehen wird. – Dieser älteste Kern des Buches wurde in exilischer Zeit bearbeitet (vgl. Hab 1,15-17; Hab 2,5bβ.6.8.10bα.13f.; Hab 2,17) und dabei als Gericht über → Babylon umgedeutet.

3.2.5. Die Trauermetaphorik in den exilisch-nachexilischen Prophetenschriften

Der metaphorische Gebrauch von verschiedenen Ausdrucksformen der Toten- und Untergangsklage in der vorexilischen Schriftprophetie hat sich – wie wir gesehen haben – stets auf konkrete historisch-politische Krisen- und Katastrophenereignisse bezogen, die 1. primär Israel oder Juda drohten, 2. häufig in gerichtsmetaphorischen Kategorien und 3. als Tag-JHWH-Geschehen zur Sprache kommen. Demgegenüber beschränkt sich der Gebrauch dieser Ausdrucksformen einerseits im Zuge der neubabylonischen Eroberungen der Levante ab 605 v. Chr. auf das Schicksal der Nachbarvölker sowie Ägyptens und später von Babylon selbst, wie aus den exilischen Völkerorakeln im Jesajabuch (Jes 13-23), bei Jeremia (Jer 46-51) und Ezechiel (Ez 25-32) hervorgeht. Andererseits entwickeln sich diese Formen mit zunehmendem Abstand von den Kriegszügen → Nebukadnezars (605-562 v. Chr.) in der Levante zu einer unheilsprophetischen Rhetorik und geschichtstheologischen Reflexion von Zeit und Zukunft, ohne noch konkretere historisch-politische Krisen- oder Katastrophenereignisse im Auge zu haben.

1. Der exilisch-nachexilische Gebrauch im Jesaja- und Jeremiabuch. In den exilischen Völkerorakeln und nachexilischen Teilen der Bücher → Jesaja und → Jeremia finden sich die Formelemente der Toten- und Untergangstrauer nur noch marginal.

Jesajabuch. In den jüngeren Teilen des Jesajabuches klingen die älteren Weheworte nur spärlich nach und nehmen als rhetorische Form den Charakter von Drohungen an (vgl. Jes 33,1 sowie Jes 45,9-10). In Jes 55,1 wird der Weheruf sogar als Ermunterungssignal ohne jede trauermetaphorische Konnotation gebraucht. In den Völkerworten von Jes 13-23 liegt in Jes 14,4b-21 ein Spottlied über den Sturz des Königs von Babel vor, das in den Versen 4b und 12b (אֵיך ’êkh „wie?“), aber auch im Metrum und mit dem thematischen Gegensatz von „Einst und Jetzt“ (vgl. oben 2.2.1) Formelemente des Leichenliedes aufweist, ohne dass es als solches (קִינָה qînāh) bezeichnet wird. Thema der → Moab-Worte in Jes 15,1-16,11(14) sind u.a. das Leid und die Trauer, die die Zerstörungen und die Annexion des moabitischen Nachbarstaates durch die → Babylonier um 582 mit sich gebracht haben. Vor allem in Jes 15,1-9 werden sie in den Farben der Toten- und Untergangsklage gezeichnet, für die auch der Klageaufruf (ילל jll Hif. „heulen“) typisch ist (vgl. Jes 15,2f.5.8 sowie Jes 16,7). Angesichts der drohenden Zerstörung von → Tyrus (671 oder 585-573?) finden sich solche Aufrufe ferner im Tyrus-Lied von Jes 23,1-14 (vgl. v1.6.14).

Jeremiabuch. Ein ähnliches Bild zeigen die Völkerorakel im Jeremiabuch, insbesondere in den Moab-Worten von Jer 48,1-47, die teilweise sogar wörtlich mit Jes 15,1-16,11(.14) übereinstimmen (vgl. bes. Jer 48,29-39) und aus der gleichen Zeit stammen. Doch begegnen darin nicht nur verschiedene Züge der Toten- und Untergangsklage (vgl. Jer 48,1.20.31.38-39), sondern auch im Wort gegen die → Philister (Jer 47,1-7; vgl. v2.5.6) angesichts einer Bedrohungslage durch Nebukadnezar um 604 oder im Zusammenhang mit der 13jährigen Belagerung von → Tyrus von 585-573 v. Chr. (vgl. Jer 47,4!). Ferner steht auch das Wort über → Ammon (Jer 49,1-5) im Kontext der babylonischen Eroberungen nach 587 v. Chr. und ist in Jer 49,3 durch einschlägige Traueraufrufe geprägt. Demgegenüber gehört die globale Gerichts- und Unheilsansage über die Völker in Jer 25,32-38, die letztendlich auch → Babylon selbst treffen wird (Jer 50-51), zum späteren Nachhall trauermetaphorischer Sprache im Jeremiabuch ohne konkreten Krisen- und Katastrophenbezug (vgl. Jer 25,33.34 und 36 sowie Jer 50,27; Jer 51,8). – Zur Umdeutung der Weheworte in Hab 2,6-16* in der Exilszeit auf Babylon vgl. oben 3.2.4.2.

2. Ezechiel. Im Buch → Ezechiel begegnet uns ein anderer und neuer Modus schriftprophetischer Literaturbildung, was sich auch auf die Funktion und den Gebrauch der Trauermetaphorik auswirkt.

Das ganze Buch (vgl. Hossfeld, 1999, 2) ist als autobiographische Rückschau gestaltet, die – chronologisch geordnet (vgl. die Einleitungen von Ez 1,1-3; Ez 8,1; Ez 20,1; Ez 24,1 etc. bis Ez 40,1) – auf das Ergehen des JHWH-Wortes in Schlüsselsituationen der Vergangenheit zurückblickt. Dementsprechend sind uns die erinnerten und lehrhaft vergegenwärtigten JHWH-Worte nur in einer hochgradig stilisierten, konsequent durchdachten und typologisch stark abstrahierenden Form einer auch hoch symbolischen Bildsprache überliefert. Damit hat Ezechiel das geradezu systematisch-theologische Ziel verfolgt, seinen Adressaten aus der Rückschau auf seine paradigmatisch reflektierte Verkündigungstätigkeit JHWH als den einzigen universalen Herrn der Geschichte zu erweisen und mit seinem autobiographischen Zeugnis für JHWHs Anerkennung als alleinigen Gott einzutreten.

Diese retrospektive Stilisierung und typologische Abstraktion berührt auch Ezechiels Gebrauch der trauermetaphorischen Ausdrucksformen, die mit zu seiner symbolischen → Bildsprache gehören. Zwar finden sich in der Wortüberlieferung Ezechiels untrügliche Hinweise und klare, auch sprachlich identifizierbare Spuren von konkreten prophetischen Stellungnahmen in krisenhaften Schlüsselsituationen (vgl. z.B. Ez 17,11-15; Ez 29,1-7). Doch ist in den meisten Fällen und insbesondere beim Gebrauch der Trauermetaphorik schwer zu entscheiden, ob und wie weit sie auf historische Worte zurückgehen oder zum traditionsreichen Stilrepertoire von späteren bildsprachlichen Stilisierungen gehören und als retrospektive Fiktion zu beurteilen sind, was nur einzelexegetisch entschieden werden kann und hier zu weit führen würde. Auf dem Hintergrund dieser Eigenart des Ezechielbuches müssen Hinweise auf den Gebrauch trauermetaphorischer Ausdrucksformen als solche genügen.

Zum einen sind die Weheworte gegen die Propheten und Prophetinnen in Ez 13,1ff (vgl. Ez 13,3.8) sowie über die Hirten in Ez 34,1ff (vgl. Ez 34,2) zu nennen, die angesichts des Gebrauchs von Präpositionen in Ez 13,3.18 (vgl. auch Jer 48,1; Jer 50,27) den Charakter von Drohungen annehmen und sich in semantischer Hinsicht von den Weheworten in Ez 24,6 und Ez 24,9 (mit der Interjektion אוֹי ’ôj, aber ohne Präposition) kaum noch unterscheiden. Damit bahnt sich – wie auch in der exilischen Überformung und Umdeutung der Wehereihe von Hab 2,6-17 auf Babylon (vgl. oben 3.2.4) – ein Verständnis der prophetischen Weherufe als Drohworte an, das von den Konnotationen der rituellen Totenklage absieht und die LXX-Übersetzung der Weherufe mit folgendem Dativ durchgängig bestimmt hat (vgl. oben 2.3.2).

Zum andern macht Ezechiel in seinen retrospektiven Stilisierungen seiner Unheilsbotschaften in der Tradition von Amos verschiedentlich von der Form des Leichenliedes (קִינָה qînāh) Gebrauch (vgl. oben 2.2.1 und Ez 2,10). Das wird 1. an Ez 19,1-14* (gegen das judäische Königshaus) und 2. an Ez 27,2-36* – darin integriert Ez 27,32-36* – und Ez 28,12-19 (gegen Tyrus) deutlich und geht 3. aus dem metaphorischen Leichenlied Ez 32,2-16 und dem in Ez 32,18-32 rekonstruierbaren Untergangslied (vgl. נָהָה nāhāh in v18) gegen Ägypten hervor. Ferner zeichnet Ezechiel die angekündigte Eroberung von Tyrus durch die babylonischen Truppen (Ez 26,7-14) in Ez 26,16-18 in den Farben der Trauer, die von den Nachbarfürsten vollzogen wird, indem auch sie ein Untergangsklagelied (Ez 26,17-18) anstimmen (vgl. ähnlich Ez 27,32-36). Ja, dem Propheten wird nach Ez 24,16-17 selbst die Trauer um seine verstorbene Frau untersagt als Zeichen für das Entsetzen und die Starre, die die bevorstehende Zerstörung Jerusalems auslösen (vgl. Ez 24,22-23) und den Propheten sprachlos machen wird (vgl. Ez 24,17; Ez 24,27; Ez 33,22). Zu Trauerriten, die in der zeitnahen Katastrophe vollzogen werden, vgl. noch Ez 7,18 und zum Klagegeheul Ez 21,17 und Ez 30,2.

3. Joel und Sacharja. Im → Joelbuch und bei → Sacharja findet sich ein letzter Nachhall der prophetischen Trauermetaphorik im Kontext von Fastengottesdiensten.

Joel. Aus dem ersten Kapitel des Joelbuches (vgl. Jeremias, 1988, 91-97) geht hervor, dass in der Zeit des zweiten Tempels (5./4. Jh. v. Chr.) Katastrophenereignisse wie Dürren oder Heuschreckenplagen in unheilsprophetischen Vorstellungskategorien als Tag JHWHs interpretiert wurden (vgl. Jo 1,15 im Anschluss an Jo 1,4-14) und Anlass zur Buße, zur → Umkehr und zur Selbstbesinnung waren, begleitet von → Trauer- und Selbstminderungsriten sowie von Klagefeiern und Fastengottesdiensten. In Jo 1,4-20 werden eine verheerende Heuschreckenplage und Dürre in Erinnerung gerufen (Jo 1,4-14), wobei neben dem Klagegebet (Jo 1,15-20) auch die Aufrufe zur Trauerklage und zum Fasten- bzw. Klagegottesdienst im Sinne einer aktualisierenden Vergegenwärtigung zitiert werden (vgl. Jo 1,5.8.11.13f.), als wären sie in die Gegenwart hinein gesprochen. Die lehrhafte Erinnerung (vgl. die Lehreröffnung und Einführung in Jo 1,2-3) an diese denkwürdige Wirtschaftskatastrophe und ihre rituelle sowie gottesdienstliche Bewältigung als Tag-JHWH-Ereignis bereitet den aktuellen Aufruf zur Buß- und zur Fastenfeier in Jo 2,12-13 vor. Allerdings wird in Jo 2,1-11 der unmittelbare Anlass für diese Feier als dramatisch bevorstehender JHWH-Tag in Szene gesetzt. Von einer liturgischen Inszenierung ist nicht nur deshalb zu sprechen, weil die Katastrophenschilderung überdimensionale militärische, ja geradezu kosmische und frühapokalyptische Züge trägt und zudem – wie das ganze Joelbuch – von zahlreichen Zitaten und Anspielungen auf die klassische Prophetie durchsetzt ist. Auch ist im Unterschied zur Schriftprophetie der assyrisch-babylonischen Epoche keine konkrete militärische Bedrohungslage auszumachen (vgl. oben 3.2.1 bis 3.2.4), mit der diese Schilderung auch nur im Entferntesten in Verbindung gebracht werden könnte. Deshalb handelt es sich dabei eher um eine liturgische Fiktion im Rahmen von Fastengottesdiensten, um sich die Potentialität eines JHWH-Tages in den Farben der Schriftprophetie und gemäß den Erfahrungen zu vergegenwärtigen, die die Vorfahren mit den angekündigten Tag-JHWH-Katastrophen insbesondere um 587 gemacht hatten (vgl. Klgl 2,1-10, bes. v1!). Im Wissen, dass ein solcher Tag wie auch in Jo 1,4ff Fluch und Verderben bringt, soll diese historisch-fiktive Vergegenwärtigung zur gottesdienstlichen Buße und Umkehr motivieren (vgl. Jo 2,12-13), um das Erbarmen und den → Segen JHWHs (immer wieder neu) erwarten zu können (Jo 2,14; vgl. Jo 2,15-17).

Sacharja. In vergleichbarer Weise spricht das Sacharjabuch in Sach 7,4-5 von solchen nachexilischen Fastengottesdiensten zum Gedenken an die Eroberung und Zerstörung Jerusalems, die mit Trauergesten verbunden waren (vgl. Sach 7,5). Auch dieses Fasten sollte nach Sach 7,6-14 der Besinnung auf die Propheten und ihre soziale Botschaft dienen (Sach 7,7-10), wobei es die Vorfahren nach Sach 7,11-14 versäumt hätten, auf diese Weisungen zu hören (Sach 7,11-12a), weshalb der → Zorn JHWHs über sie gekommen sei (Sach 7,12b) und das Land zur Öde wurde (Sach 7,14). Somit steht selbst in den nachexilischen Fastengottesdiensten der Vollzug von Trauerriten einerseits noch in einem unmittelbaren Zusammenhang mit erinnerten (Sach 7) bzw. liturgisch vergegenwärtigten Tag-JHWH-Erfahrungen (Jo 1-2), die andererseits dazu mahnen, die soziale Botschaft der Propheten als wahre Form des Fastens tätig zu beherzigen (vgl. dazu auch Jes 58), um JHWHs Zorn nicht erneut zu provozieren, sondern seinen Segen erwarten zu können.

Im eschatologischen Kontext von Sach 12,9-14 wird der Vollzug der Totenklage (ספד sfd; מִסְפֵּד misped) letztmalig im Prophetenkanon erwähnt. Wenn JHWH über das Haus David und die Bewohner der Stadt ein Geist der Gnade und des Flehens ausgießen wird (Sach 12,10aα), soll nach der Vernichtung aller gegen Jerusalem stehenden Völker (Sach 12,9) eine große Totenklage (Sach 12,10b-12) um denjenigen angestimmt werden, den man „durchbohrt“ hat. Dabei scheint sich der prophetische Sprecher selbst mit diesem Durchbohrten zu identifizieren und verheißt, dass man dann auch auf ihn aufmerksam achten werde („und sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben“, Sach 12,10aβ). Mit dieser verschlüsselten Botschaft wird eine ferne Zukunft angesprochen, in welcher die Botschaft der verfolgten und verachteten Propheten (vgl. bes. Jer 53), mit denen sich auch der Sprecher von Sach 12 identifiziert, zum endgültigen Durchbruch kommen und als Medium des Geistes und der Gnade begriffen wird (vgl. die entsprechenden Deutungen auf den Tod Jesu in Joh 19,37; Apk 1,7; ferner Jo 3,1!). Im Sinne einer eschatologischen Rehabilitation wird dann auch ihnen nach Sach 12,10-12 ein angemessenes, landesweites Trauergedenken zu Teil.

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