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(erstellt: Januar 2016)

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1. Bedeutung

Das akkadische Wort tiām(a)tu(m) / tâm(a)tu(m) (Sub. f.) bezeichnet:

(1) Eine große Wasserfläche, vor allem das Meer (Mittelmeer und Persischer Golf). Darüber hinaus kann es auf Seen (z.B. Urmia-See, Van-See) sowie auf das ‚Marschland‘ bezogen werden (CAD T, 150-158).

(2) Das personifizierte Meer als weibliches mythologisches Wesen. Auch in diesem Fall ist die status rectus-Form Tiām(a)tu(m) / Tâm(a)tu(m) der status absolutus-Form Tiāmat vorzuziehen (Borger 2008, 272f.; Kämmerer / Metzler 2012, 388 Anm. 1). Der Einfachheit halber wird im Folgenden die Form Tiamtu verwendet.

2. Etymologie

Akkadisches tiāmtu geht auf die semitische Wurzel THM zurück. Diese lässt sich auch im Eblaitischen (ti-’a3-ma-tum = tihāmatum; Krebernik 1983, 43), Ugaritischen (thm(t)) und Hebräischen (תְּהוֹם təhôm) belegen (Waschke 1995, 564; Del Olmo Lete / San Martín 2003, 864; Tsumura 2005, 42f.).

3. Tiamtu im 3. Jahrtausend v. Chr.

In → ‚Ebla‘ (Tell Mardikh, ca. 55km südwestlich von Aleppo; ca. 26. Jh. v. Chr.) ist ti-’a3-ma-tum = /tihāmatum/ eine der Gleichungen für das sumerische AB.A „Wasser (des) Meer(es)“ in den zweisprachigen lexikalischen Listen (Pettinato 1982, 336 VE 1343; 350 EV 016). Da in der Nähe von Ebla die einzige große Wasserfläche das Mittelmeer ist, ist anzunehmen, dass tihāmatum dort zuerst mit dem Mittelmeer assoziiert wurde. In zwei Beschwörungen sind die Formen ti-’a3-ma-du und ti-’a3-ma-tim belegt (Fronzaroli 2003, 99f. zu (2); Krebernik 1984, 112 Nr. 22 vi 3); dabei ist es jedoch nicht klar, ob das zugrundeliegende Lexem /tihāmatum/ „Meer“ oder /tilḥam(a)tu/ (LḤM) „das Durcheinanderwimmeln / Gewimmel“ ist (Edzard 1984, 24f. zu i 6; Krebernik 1984, 114).

Im altakkadischen Eschnunna (Tell Asmar, ca. 38km nordöstlich von Baghdad; 23. Jh. v. Chr.) finden wir den ältesten sicheren Beleg für Tiamtu als mythologisiertes Wesen (hier wohl das „Meer“, s. unten zu 5.2.). Der erhaltene Text lautet: „Verwalter Tiamtus, grimmiger Krieger, steh auf! Tišpak, Verwalter Tiamtus, grimmiger Krieger, steh auf! Gott, König [...]“ (Westenholz 1974-1977, 102; andere Übersetzung in Durand 1993, 43 „toi dont la tâche est d’etre la barrière contre le flots de la Mer“, aber vgl. dagegen Lambert 1994, 111-113).

Einige akkadische Personennamen können nach Lambert auf die Vorstellung des mythologisierten Meeres hinweisen, z.B. der Frauenname A.AB.BA-bāštī „Tiamtu ist meine Würde (/ mein Schutz[geist])“ (21. Jh.; Lambert 2013, 237). Für das Sumerogramm A.AB.BA könnte jedoch auch eine andere Übersetzung in Frage kommen: Für den sumerischen Ausdruck a.ab.ba, der in mehreren neusumerischen Personennamen vorkommt, wurde von Bauer (2012, 33) die Bedeutung „Großvater“ vorgeschlagen; demnach könnte A.AB.BA-bāštī „der Großvater ist meine Würde (/ mein Schutz[geist])“ bedeuten.

4. Tiamtu im 2. und 1. Jahrtausend v. Chr.

4.1. Tiamtu in Texten aus Mari

In einer Inschrift Jaḫdun-Lims (1815-1799 v. Chr.), eines Königs der syrischen Stadt Mari, wird berichtet, wie der König das Mittelmeer (tiāmtu) erreichte und dort dem Meer (ajabba) Opfergaben darbrachte. Das personifizierte und vergöttlichte Meer wird hier ajabba genannt, das möglicherweise als Eigenname der Meergottheit zu verstehen ist (Tugendhaft 2010, 704f.); diese war in Syrien männlich (vgl. → Jammu; Ayali-Darshan 2010, 23-29).

In einem altbabylonischen Brief an Zimri-Lim, König von Mari (1780-1758 v. Chr.), wird ein Orakel des → Wettergottes Addu von Aleppo (→ Adad) wiedergegeben. Dabei wird ein Kampf zwischen dem Wettergott und dem Meer erwähnt: „Ich (sc. Addu) habe dir (sc. Zimri-Lim) die Waffen gegeben, mit denen ich mich mit Tiamtu / dem Meer geschlagen habe“ (Durand 1993). S. unten zu 5.2.

4.2. Tiamtu im Enuma elisch (Ee)

Die babylonische Weltschöpfungserzählung Enuma elisch ist vor allem auf Tontafeln des 7. Jh.s v. Chr. und jüngerer Zeit überliefert. Ältere Texte stammen aus Assur aus dem Ende des 2. Jt.s bzw. aus dem Anfang des 1. Jt.s v. Chr. (Kämmerer / Metzler 2012, 18). T.R. Kämmerer und K.A. Metzler sprechen sich für eine Entstehung des Enuma elisch im Laufe der zweiten Hälfte des 2. Jt.s aus (Kämmerer / Metzler 2012, 19). W.G. Lambert setzt die Komposition des Textes in die Zeit des babylonischen Königs Nebukadnezar I. (1125-1104 v. Chr.; Lambert 2013, 440-444) an.

Im Enuma elisch wird Tiamtus Name meistens mit den Zeichen TI.GEME2 (= ti-amtu) geschrieben. Diese Schreibung geht möglicherweise auf gelehrte Etymologien zurück: 1) GEME2 als Sumerogramm für das akkadische amtu „Magd / Sklavin“ ergibt das Wortspiel Tiāmtu ~ amtu; 2) TI sum. „Pfeil“ = „Tiamtu ist die Magd / Sklavin, die mit einem Pfeil bezwungen wurde“ (Verweis auf Tiamtus Tötung durch Marduks Pfeil im Enuma elisch; Kämmerer / Metzler 2012, 388 Anm. 1).

Im Enuma elisch wird Tiamtu verschieden beschrieben: Als weibliche Wassermasse, als tiergestaltiges Ungeheuer und anthropomorph (z.B.: sie ist eine Frau [Ee II 92, 116, 144], rezitiert Beschwörungen [Ee IV 71]; Kämmerer / Metzler 2012, 389; anders Lambert 2013, 459).

In Ee I 3-5 mischt Tiamtu ihr Wasser mit jenem des → Apsu, des unterirdischen Grundwassers:

1. „Als oben der Himmel nicht genannt war,

2. unten die Erde mit Namen nicht benannt war,

3. Apsû, der Erste, ihr (d.h. der Götter) Erzeuger,

4. die lebenswirkende Kraft Tiāmtu, die Erzeugerin ihrer Gesamtheit,

5. ihre Wasser zusammen mischten,

6. Weide nicht ineinander gefügt war, mit Rohrdickicht nicht gepolstert war,

7. als (noch) überhaupt keine Götter hervorgebracht waren,

8. keine mit Namen benannt waren, mit Schicksalen bestimmt waren,

9. wurden die Götter in ihrer Mitte geschaffen.“ (nach Kämmerer / Metzler 2012)

Dabei wird Tiamtu als Gebärende aller Götter bezeichnet und steht mit ihrem Gatten Apsu am Anbeginn aller sukzessiven Göttergenerationen: Es folgen die Paare Laḫmu – Laḫāmu und Anšar – Kišar. Anšars Erbe ist Anu, der Nudimmud (= Ea) zeugt. Nudimmud und seine Gattin Damkina zeugen dann Marduk.

Marduk besiegt Tiamtu im Kampf (→ Chaos / Chaoskampf). Er fängt sie mit einem Netz und lässt einen Sturm ihren Bauch anschwellen, dann tötet er sie mit einem Pfeil (Ee IV 95-101). Im Verlauf der Erzählung werden folgende Körperteile Tiamtus erwähnt: Beine, Schädel, Adern, Brustkorb, Bauch, Speichel, Augen, Nasenlöcher, Brust, Schwanz und Oberschenkel. Die zugrundeliegende Tiergestalt wurde sowohl als eine Kuh (Landsberger / Kinnier Wilson 1961, 175 ad 47) als auch als eine Ziege (Lambert 2013, 245.459) gedeutet.

Als nächsten Schritt erschafft Marduk die Welt aus Tiamtus Körperteilen (nach Kämmerer / Metzler 2012):

Er spaltet Tiamtus Leib wie einen gedörrten Fisch und gestaltet aus dem oberen Teil den Himmel (Ee IV 138 und V 62; vgl. Livingstone 1989, 101 Rs. 2).

Er streckt Tiamtus Haut, damit diese das obere Wasser trägt, und postiert Wächter, damit das Wasser nicht herausgeht (Ee IV 139f.; vgl. die Funktion von רָקִיעַ rāqîa‘ „(Himmels)platte“ in Gen 1,6-8; → Welt / Weltbild). Er öffnet Tore in Tiamtus Brustkorbhälften (Ee V 9; vgl. דַּלֽתֵי שָׁמַיִם daltê šāmajim „Himmelstore“ in Ps 78,23b; Houtman 1993, 251f.). In Tiamtus Bauch setzt Marduk die Himmelshöhe (Ee V 11). Tiamtus Speichel häuft er zu Wolken (Ee V 47-49). Aus (oder auf) ihrem Schädel häuft er einen Berg (Ee V 53). Er füllt die Wassertiefe mit Wasser (wohl aus Tiamtus Leib; Ee V 54). In Tiamtus Augen öffnet Marduk → Euphrat und → Tigris (Ee V 55; vgl. Livingstone 1989, 101 Rs. 3). Er verschließt ihre Nasenlöcher (Ee V 56). Aus (oder auf) ihrer Brust häuft Marduk die fernen Berge (Ee V 57) und bricht Quellen ein, damit sie Quellwasser tragen (Ee V 58). Tiamtus Schwanz flicht Marduk zu einem Band, das die Kosmosschichten zusammenhält (Ee V 59). Er stellt Tiamtus Oberschenkel als Befestigung des Himmels auf (Ee V 61; vgl. עַמּוּדֵי שָׁמַיִם ‘ammûdê šāmajim „Himmelssäule“ in Hi 26,11; Houtman 1993, 238.). S. auch unten zu 5.1. und 5.2.

4.3. Tiamtu in der Erschaffung der Welt durch Marduk

Bei dem Text Erschaffung der Welt durch Marduk, auch Chaldäische Kosmogonie genannt, handelt es sich um eine sumerisch-akkadische Beschwörung, die im Rahmen der Baurituale für die Renovierung von Tempeln rezitiert wurde (Ambos 2004, 50-51; 200-207; Lambert 2013, 366-375). Der Text ist nur auf Tontafeln aus der Mitte des 1. Jt.s überliefert, er kann aber ältere Vorstellungen enthalten. Es wird beschrieben, wie kein Tempel am Anfang gebaut war, kein Schilfrohr gesprossen war, keine Städte gebaut waren und Apsu noch nicht gemacht war. Damals waren alle Länder nur noch Wasser. Inmitten des Meeres (tâmtu) gab es eine Quelle (īnu), die der Text als „Rinne“ (rāṭu) bezeichnet (Z. 1-11). Damals wurden Babylon (hier auch Eridu genannt; Lambert 2013, 367) und der Tempel Esaĝil gebaut (Z. 12-16). Danach erschuf Marduk die Götter (Z. 15) und bildete ein Floß, auf dem er die Erde häufte (Z. 17-18). Anschließend erschuf der Gott die Menschheit (Z. 20). Er erschuf die Tiere der Steppe, Tigris und Euphrat (Z. 22-24) und benannte sie mit Namen (Z. 25; vgl. Gen 2,20). Danach erschuf Marduk die Vegetation, weitere Tiere, trockenes Land, Städte und Tempel (Z. 25-41). In diesem Text ist Tiamtu offensichtlich nicht etymologisiert und stellt nur das „Meer“ dar. S. unten zu 5.1.

4.4. Tiamtu in der Theogonie von Dunnu

Die Erzählung ist nur auf einer beschädigten Tontafel aus der zweiten Hälfte des 1. Jt.s v. Chr. überliefert und geht auf eine assyrische Vorlage aus dem 7. Jh. v. Chr. zurück (Lambert 2013, 387-395). Der Text beschreibt eine Reihenfolge von Göttergenerationen, die mythologisierte Naturelemente und Tiere darstellen und durch Sohn-Mutter-Inzest bzw. Bruder-Schwester-Inzest gezeugt werden. Das Elternpaar wird jeweils von seinen Nachkommen getötet:

Ḫa’in + „Erde“ => „Wildtier“ und „Meer (/ Wasserfläche)“ (dA.AB.BA)

„Wildtier“ + „Erde“ (Tötung von Ḫa’in)

„Wildtier“ + „Meer (/ Wasserfläche)“ => „Schafbock“

„Schafbock“ + „Meer (/ Wasserfläche)“ (Tötung von „Wildtier“ und „Erde“) => x und „Fluss“

x + „Fluss“ (Tötung von „Schafbock“ und „Meer (/ Wasserfläche)“) => y und Ga’um

y + Ga’um (Tötung von x und „Fluss“) => z und Ningeština

z + Ningeština (Tötung von y und Ga’um).

In dieser Erzählung erscheint das Meer (/ die Wasserfläche) (geschrieben mit dem Sumerogramm A.AB.BA und wohl Tiamtu zu lesen) nicht als das uranfängliche Element. Das erste Paar lässt Tiamtu durch den Stoß eines Pfluges entstehen. Das Meer (/ die Wasserfläche) quillt dann wohl aus der Erde heraus, obwohl dies nicht explizit gesagt wird.

4.5. Verschiedenes

Im 7. Jh. sind weitere Traditionen und Spekulationen um Tiamtu belegt. In einem gelehrten Kommentar könnte Marduk sie mit seinem Penis besiegt haben (Livingstone 1989, 94:18’; Pomponio 1994, 70 zu 9 und 74 zu 8; anders Zgoll 2006, 59 Anm. 212). In einem „mystischen“ Kommentar wird gesagt, das Dromedar sei Tiamtus Geist, Bel (Marduk) habe ihre Hörner, Füße und den Schwanz abgeschnitten (Livingstone 1989, 101 Rs. 13f.; Rs. 1 nicht klar; in Rs. 2f. wird erwähnt, Bel habe Tiamtu gespalten, Tigris und Euphrat seien ihre Augen). In einem weiteren Kommentar wird Weizen mit Tiamtus Fleisch geglichen (Reynolds 2002, 218 zu 6; CAD U/W, 351 s.v. uṭṭatu 1f). In einer spätbabylonischen Hymne erscheint Nabu, Marduks Sohn, als Tiamtus Besieger (Lambert 1978, 90:7). Für weitere Texte s. Lambert 2013, 245-247 und Heffron / Worthington 2013, 645f.

Tiamat 1

Tiamtu wird auf einem Relief aus dem Bel-Tempel in Palmyra in Form einer Frau mit Schlangenbeinen dargestellt; auf dem Relief wird sie scheinbar von Bel (Marduk) und Nabu getötet (s. Abb. 1; Dirven 1997).

Tiamat 2

Einige Darstellungen von Schlangenmonstern auf Rollsiegeln und Terrakotten wurden mit Tiamtu identifiziert; die Zuweisungen bleiben jedoch spekulativ (Heffron / Worthington 2013, 647). Die gewellten Wasserlinien, die auf einem Rollsiegel mit Marduk gezeichnet sind und auf denen der Gott triumphierend steht, könnten Tiamtu als Wassermasse versinnbildlichen (s. Abb. 2; Lambert 1985, 90).

In Atharvaveda V. 13: 6 und 18: 4 wird eine Schlange namens Taimata erwähnt, die einige Forscher mit der mesopotamischen Tiamtu identifiziert haben (Tilak 1917, 33f.; Bhandarkar 1940, 30-32).

5. Urwasser und mythologisierte Gewässer

Auf Grund der Quellenlage ist es methodisch ratsam, das Motiv der Wassergottheiten bzw. der mythologisierten Gewässer von jenem des uranfänglichen Wassers zu trennen.

5.1. Das Motiv des Urwassers

Das Motiv wird in Thompsons Motif-Index (Thompson 1966) unter A 810 „primeval water“ und A 605 „primeval chaos“ verzeichnet.

Die Vorstellung des uranfänglichen Wassers ist in den mesopotamischen mythologischen Erzählungen vor allem im Enuma elisch und in der Erschaffung der Welt durch Marduk belegt.

Die Opposition Tiamtu / Apsu ist zuerst geschlechtlich orientiert und dient der Bildung des ersten kosmogonischen Paares, aus dem alle sukzessiven Göttergenerationen stammen. Die Aussage in Ee I 6, „damals wuchs noch kein Röhricht“, verortet das vermischte Wasser von Tiamtu und Apsu im südmesopotamischen ‚Marschland‘ (arab. ahwār), wo Röhricht heimisch war und ist. Dort verlaufen Tigris und Euphrat in viele Flussarme, die dann ein weites Schilf- und Seengebiet bilden. Das Gebiet ist ein Mosaik aus dauerhaften und saisonalen Süß-, Brack- und Salzwasserflächen, die damals möglicherweise durch mehrere Ausläufer in den Persischen Golf mündeten (Jassim / Goff 2006, 192f.196; Evans 2002, 210f.; Cole 1994; Adams 1981, 17f.). Es ist nun sehr plausibel, dass diese Umwelt das Motiv des vermischten Wassers inspirierte (Jacobsen 1976, 168f.). Schwieriger ist indessen festzustellen, welche Wasserart Tiamtu personifiziert, da Tiamtu nicht nur das Meer, sondern prinzipiell eine große Wasserfläche bezeichnet. Es gibt zwei Möglichkeiten: a) Tiamtu stellt die gesamte Wasserfläche aus Süß-, Brack- und Salzwasser mit Ausnahme des Grundwassers (Apsu) dar. b) Tiamtu personifiziert nur das salzige Meerwasser; diese traditionelle Deutung wurde vor kurzem unter anderem deshalb in Frage gestellt, weil aus Tiamtus Körperteilen auch Süßwasser, wie Flüsse und Quellwasser, entstehen (hierzu Alster 1999, 868a; Lambert 2013, 446). Für die traditionelle Deutung spricht, dass im Enuma elisch das im Westen gut belegte Motiv des Kampfes zwischen dem Wettergott und dem Meer übernommen wurde. Jedoch kann die Verschmelzung zweier unterschiedlicher Motive nicht ausgeschlossen werden. Hier sei darauf hingewiesen, dass → Berossos in seiner Babyloniaka das Urwasser mit Thalattha („Meer“) identifizierte (Jacoby 1958, 372 FGrH 680 F 1 6).

Das Motiv des uranfänglichen Wassers in der Erschaffung der Welt durch Marduk basiert auf einem anderen Hintergrund. Die Quelle in der Mitte des Meeres, die als Rinne (rāṭu) bezeichnet wird, findet man auch im Gilgamesch-Epos wieder (Gilg. XI 287-293; → Gilgamesch; George 2003). Gilgamesch öffnet eine Rinne im Meer in der Nähe der Insel, wo der Sintflutheld Utnapischtim lebt, d.h. Dilmun (Bahrain), und kann dadurch das Süßwasser Apsu erreichen. Als Vorbild für diese Quelle und die Verbindung zwischen Meer und Apsu dienten sehr wahrscheinlich die untermeerischen Süßwasserquellen, die sich vor der Küste Bahrains befinden und aus denen Süßwasser ins Meer sprudelt (George 2003, 519-521; Horowitz 2011, 105.337-341; Rausch / Dirks / Trautmann 2015). Das Motiv des Floßes in der Mitte des Urozeanos entspricht Mot. A 813 „Raft in primeval sea“.

Zu erwähnen sind auch Texte aus dem 1. Jt., welche die Vorstellung eines Flusses als Schöpfer von allem bezeugen (Lambert 2013, 238-240.396-398.433).

Die oft referierte sumerische Vorstellung eines uranfänglichen Wassers als Urzustand der Welt (z.B. Waschke 1995, 565b) muss präzisiert werden. Das Motiv ist bis heute in keiner Erzählung in sumerischer Sprache belegt. Soweit man Texte in sumerischer Sprache als Träger sumerischer Vorstellungen ansehen kann, belegen die erhaltenen Erzählungen ganz andere Kosmogonien, die wir als „sumerisch“ bezeichnen könnten. Eine bereits im 26. Jh. gut bezeugte Kosmogonie ist die Trennung von Himmel und Erde (Lambert 2013, 498-500; Lisman 2013, 158-164). Das Wasser kommt in zwei Schöpfungserzählungen, jedoch nicht als Urelement vor: a) Ein Text aus dem 21. Jh. belegt die Vorstellung, dass am Anbeginn der Zeit überhaupt noch kein Wasser aus der Tiefe geschöpft werden konnte (Sjöberg 2002, 239, 2; Lisman 2013, 37-39; Horowitz, 2011, 138f.). b) Ein Text aus dem 25./24. Jh. beschreibt, wie das Wasser die Erdlöcher füllte, möglicherweise nachdem An / der Himmel die Erde befruchtet bzw. getränkt hatte (Lisman 2013, 27-30.230-235; vgl. auch Sjöberg 2002, 229-237).

d

5.2. Das Motiv der Wassergottheiten und des Kampfes gegen das Meer

Das Motiv der Wassergottheiten wird in Thompsons Motif-Index unter verschiedenen Submotiven verzeichnet: A 420 „God of Water“; A 420.1 „Water-goddess“; A 421 „Sea-god“; 421.1 „Sea-goddess“.

Wie bereits erwähnt, kennt die mesopotamische Götterwelt mehrere Gottheiten, die mit großen Wasserflächen assoziiert sind, z.B. Tiamtu, Apsu und Namma. Man könnte sie den Motiven folgendermaßen zuweisen: Tiamtu = A 421.1 / A 420.1; Apsu = A 420; Namma = A 420.1. Das Motiv des Kampfes zwischen dem Wettergott und dem Meer entspricht – unter leichter Modifizierung – dem Motiv A 162 „Combat between god of light and dragon of ocean“.

Der älteste Beleg für die Vorstellung der Personifizierung des Wassers / Meeres stammt aus dem 23. Jh. aus Eschnunna. Das Motiv kann nicht dort entstanden sein, denn es gibt in der Region keine große Wasserfläche. Vielmehr ist das Motiv dorthin „gewandert“. Im Text wird Tišpak, Stadtgott von Eschnunna, aufgefordert zu kämpfen. Es ist nicht unmittelbar klar, ob Tiamtu hier als Feind aufzufassen ist, da Tišpak dort als ihr „Verwalter“ gilt und der Text nicht vollständig erhalten ist. Es ist jedoch möglich, dass die Erzählung von Tiamtus Entmachtung durch Tišpak handelt. Das Chaoskampfmotiv zwischen Meer und Wettergott, das wohl im östlichen Mittelmeerraum wahrscheinlich in den Küstengebieten Syriens und Libanons entstanden sein dürfte, ist sicher in dem zitierten Brief aus Mari bezeugt (vgl. auch Anthonioz 2009, 62-64). Man kann also davon ausgehen, dass das Motiv des mythologisierten Meeres weiter östlich von Mari bis nach Eschnunna eindrang und dass Tiamtu auch dort das Meer und nicht etwa das südmesopotamische ‚Marschland‘ darstellte.

Das Chaoskampfmotiv zwischen Meer und Wettergott wurde im Enuma elisch aufgenommen und auf Marduks Theologie adaptiert, wobei Marduks Herrschaftsansprüche durch den Kampf und den Sieg über Tiamtu legitimiert und von den anderen Göttern akzeptiert werden (Lambert 2013, 457-465). Im Enuma elisch kämpft Marduk auch gegen elf Mischwesen, die als Tiamtus Geschöpfe (nabnītu) bezeichnet werden. Der Kampf gegen elf Feinde ist ein Motiv, das aus den Erzählungen um die Heldentaten Ninurtas / Ninĝirsus übernommen wurde, wobei Namen und Eigenschaften der elf Wesen meist geändert wurden (nur die gehörnte Schlange ušum / bašmu und der Stiermensch gud-alim / kusarikku kommen sicher in beiden Traditionen vor (Lambert 2013, 225 berücksichtigt die Schlange ušum / bašmu nicht, vgl. aber Wiggermann 1993-1997, 227-229).

Das Motiv des Kampfes gegen das Meer ist in Mesopotamien sonst nicht weiter belegt. Vielmehr kämpfen die Kriegsgötter gegen verschiedene Mischwesen, die nur zum Teil mit dem Meer assoziiert sind, aber nicht gegen das Meer selbst (Lambert 2013, 202-209.224-236; Wiggermann 1993-1997, 227f.): Ninurta besiegt unter anderem den im Meer lebenden kusarikku, Nergal (Lambert 2013, 384-386) und Tišpak (Lambert 2013, 361-365) besiegen Schlangenmonster, die das Meer gezeugt hat. (→ Chaos / Chaoskampf; → Wettergott / Wettergötter).

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

  • Tiamtu als Frau mit Schlangenbeinen (Relief aus dem Bel-Tempel in Palmyra). Aus: H. Seyrig, Bas-reliefs monumentaux du temple de Bêl a Palmyre, Syria 15 (1934), 155-186, Pl. XX
  • Marduk steht auf Wasser, das vielleicht Tiamtu versinnbildlicht (Rollsiegel; Babylon; 9. Jh. v.Chr.). © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

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