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Vaticinium ex eventu

(erstellt: April 2019)

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1. Begriff

Der Begriff vaticinium ex eventu „Weissagung vom Ausgang her“ bezeichnet die fingierte Weissagung eines bereits eingetretenen Ereignisses. Durch sie wird dem Verfasser eine zutreffende Vorhersage der Zukunft zugeschrieben mit dem Ziel, seine Glaubwürdigkeit oder gar göttliche Inspiriertheit zu erweisen. Beispiele finden sich in der prophetischen Überlieferung (→ Prophetie) sowie insbesondere in der apokalyptischen Literatur (→ Apokalyptik) sowohl des frühen Judentums als auch des frühen Christentums.

Typischerweise ist ein vaticinium ex eventu mit echten Vorhersagen verknüpft: Zunächst gibt der Verfasser eines solchen Weissagungstextes vor, die Weissagung stamme aus vergangener Zeit. Da der Verfasser den Geschichtsverlauf aber bereits kennt, kann er die angebliche Vorhersage so gestalten, dass sie dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse präzise entspricht. Dem Leser erscheint die Vorhersage deshalb als Beweis für die Fähigkeit, Entwicklungen vorhersehen zu können. Der fingierten Weissagung folgen dann aber Vorhersagen, die auch für den Verfasser noch in der Zukunft liegen. Den Übergang zur echten Vorhersage erkennt man häufig daran, dass die angekündigten Ereignisse unspezifisch bleiben oder dem tatsächlichen Geschichtsverlauf nicht mehr entsprechen.

Daneben begegnen im Alten Testament auch fingierte Weissagungen, die vom Verfasser aus betrachtet ausschließlich als Rückblick zu beurteilen sind (vgl. etwa Gen 9,25ff oder Gen 49; dazu Oßwald). Die Verbindung mit einem Ausblick in eine vom Verfasser aus betrachtet echte Zukunft wird jedoch zumeist als konstitutives Merkmal für das Vorliegen eines vaticinium ex eventu angesehen (Böcher).

„Vom Standpunkt des Lesers aus kontrollierbare vergangene Vorgänge und Ereignisse werden dabei in beglaubigender Absicht durch eine literarisch konstruierte, fiktive Vorzeitigkeit bzw. durch die Vorspiegelung der Entstehung der Schrift in einer längst vergangenen Zeit in Futurform präzise geweissagt.“ (Tilly, 51). Auch wenn der Bezug auf die Vergangenheit ein wesentlicher Aspekt eines vaticinium ex eventu ist, liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf der Zeit des Verfassers und das Interesse gilt der von der Herrschaft Gottes oder eines → Messias geprägten Endzeit (→ Eschatologie). Dabei soll in der apokalyptischen Literatur zu meist erwiesen werden, dass die gegenwärtige Zeit von beispiellos großer Bedrängnis geprägt ist, ihr aber in naher Zukunft der Einbruch der Herrschaft Gottes (oft verbunden mit dem Kommen eines endzeitlichen Herrschers) folgen wird. Der Leser kann seinen eigenen, gegenwärtigen Standpunkt und seine gegenwärtige Situation im Lauf der (Welt-)Geschichte wiedererkennen. Durch die nachvollziehbar zuverlässige Prophezeiung der Geschichte bis in die Gegenwart erhält der Ausblick in die Zukunft eine besondere Beglaubigung und die Kontrastierung der mit dem → Gericht Gottes (AT) verbundenen Endzeit mit der gegenwärtigen Bedrängnis erweist sich für den Leser als Heilsankündigung (vgl. Wildgruber, 62f).

Die für die Vorhersage der Vergangenheit im vaticinium ex eventu erforderliche Vorzeitigkeit gegenüber der Gegenwart des Verfassers wird häufig durch die Verbindung der Weissagung mit einer idealtypischen Gestalt der Frühzeit Israels erreicht. Diese erscheint als der fiktive Urheber der Vorhersage. In ihrem Mund erscheinen sowohl der Rückblick auf die Vergangenheit als auch der echte Ausblick auf die Zukunft gleichermaßen als Offenbarung des zukünftigen Verlaufs der Geschichte. Die literarische Form des vaticinium ex eventu ist daher eng mit den Konzepten eines vorherbestimmten Verlaufs der Geschichte und pseudepigrapher Verfasserschaft (→ Pseudepigraphen) verbunden.

2. Beispiele aus der biblischen und frühjüdischen Literatur

vaticinia ex eventu

2.1. Daniel-Buch

Als das prominenteste Beispiel eines vaticinium ex eventu in Alten Testament gilt Dan 11,2-12,4 (kritisch dazu zuletzt Wildgruber; vgl. im Danielbuch außerdem Dan 7; Dan 8; Dan 9). In einer Offenbarungsrede schildert eine Himmelsgestalt (vgl. Dan 10,5f) den Verlauf der Geschichte von der → Perserzeit bis zur Zeit Seleukos’ IV. (Dan 11,2-20; → Seleukiden) im 2. Jh. v. Chr. Das Hauptinteresse gilt jedoch der Herrschaft → Antiochos IV. Epiphanes (Dan 11,21-45; 175-164 v. Chr.), die für Jerusalem und Judäa als Zeit der äußersten Bedrängnis und Not geschildert wird. Während die Aussagen in Dan 11,21-39 verschiedenen historischen Ereignissen der seleukidischen Geschichte relativ gut zugeordnet werden können, lässt sich der ab Dan 11,40 geschilderte und der „Zeit des Endes“ (עֵת קֵץ ‘et qeṣ; Dan 11,40) zugewiesene Geschichtsverlauf und die Schilderung des Todes Antiochos’ IV. Epiphanes nicht mit dem aus verschiedenen uns bekannten Quellen für die Geschichte des 2. Jh.s v. Chr. rekonstruierbaren Geschehen in Verbindung bringen. Daher erlaubt der in Dan 11,40 zu beobachtende „Umschlag von Geschichtsrückblick in echte Weissagung“ (Albani, 246) eine Datierung des Textes.

Die Geschichte menschlicher (Schreckens-)Herrschaft gelangt nach dem Zeugnis des Danielbuchs mit dem Tod Antiochos’ IV. Epiphanes an ihr Ende. Mit dem himmlischen Auftreten des Engelfürsten → Michael (Dan 12,1) wird das irdische Ende Antiochos’ IV. Epiphanes besiegelt. Alle aber, die „im Buch“ verzeichnet sind, werden gerettet. Und „viele, die im Land des Staubes schlafen, werden erwachen“ (→ Auferstehung). Das vaticinium ex eventu erlaubt dem Leser, seine eigene Gegenwart im Lauf der Geschichte in der dramatischen Bedrängnis unter Antiochos IV. Epiphanes wiederzuerkennen. Der Ausblick auf die echte Zukunft vermittelt die Gewissheit, dass die mit dem Auftreten Michaels verbundene Heilswende jetzt unmittelbar bevorsteht.

2.2. Die Himmelfahrt des Mose

Auch in der antiken Literatur ist der Gebrauch von vaticinia ex eventu verbreitet; gerade in der jüdischen Apokalyptik finden sich zahlreiche Belege (Äthiopischer Henoch [→ Henoch]; Assumptio Mosis; 4Esra [→ außerbiblische Esraschriften]; Syrischer Baruch; → Pseudepigraphen). Exemplarisch sei auf die Himmelfahrt des Mose (→ außerbiblische Moseschriften) verwiesen. In ihr wird im Stil einer → Abschiedsrede des Mose (vgl. AssMos 1,6ff) ein langer Ausblick auf einzelne Ereignisse der Geschichte Israels von der Landnahme (AssMos 2,1ff) bis in die Zeit nach Herodes des Großen (AssMos 6-7) gegeben. AssMos 7,1 markiert den eigenen Standort des Verfassers: „Von da ab werden die Zeiten ihrem Ende zugehen …“ (zur Begründung vgl. auch JSHRZ VI 1,5). Die nachfolgend entfaltete Endzeit ist geprägt von einer bis zu ihrem Höhepunkt gesteigerten Drangsal und dem mit dem göttlichen Erscheinen verbundenen Gericht (AssMos 7-10). Auch wenn die Einsetzung des Josua als Nachfolger des Mose als fiktive Entstehungszeit nahegelegt wird (vgl. AssMos 1,1-5), dürfte die apokalyptisch geprägte Schrift daher tatsächlich erst aus der ersten Hälfte des 1. Jh.s n. Chr. stammen.

2.3. Ein Zweifelsfall: Die Vorhersage der Zerstörung des Jerusalemer Tempels

Ob ein vaticinium ex eventu vorliegt, kann im Einzelfall schwierig zu beurteilen sein. Einen berühmten Fall stellt die apokalyptische Rede Jesu in Mk 13 dar. Während manche Exegeten ‎davon ausgehen, dass sich Jesu Rede von der Zerstörung des Tempels der ‎gegenwärtigen Kriegserfahrung im jüdischen Krieg verdankt, in der mit einer ‎Zerstörung des Tempels zu rechnen war, und daher einen echten Ausblick in die Zukunft annehmen, betrachten andere Ausleger die Aussagen ‎als Rückblick auf die bereits erfolgte Zerstörung des Tempels und damit als vaticinium ‎ex eventu (zur Diskussion vgl. etwa Ebner, 170f). ‎

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Weitere Literatur

  • Albani, M., 2010, Daniel. Traumdeuter und Endzeitprophet (Biblische Gestalten 21), Leipzig
  • Böcher, O., 1999, Das beglaubigende vaticinium ex eventu als Strukturmerkmal der Johannes Apokalypse, Revue d’histoire et de philosophie religieuses 79, 19-30
  • Brandenburger, E., 1976, Himmelfahrt Moses (JSHRZ V/2), Gütersloh, 57-84
  • Collins, J., 1993, A Commentary on the Book of Daniel. With an Essay „The Influence of Daniel on the New Testament“ by Adela Yarbro Collins (Hermeneia), Minneapolis
  • Dochhorn, J., 2005, Die Apokalypse des Mose, Text, Übersetzung, Kommentar (TSAJ 106), Tübingen
  • Ebner, M., 2008, Das Markusevangelium, in: M. Ebner / S. Schreiber (Hgg.), Einleitung in das Neue Testament (KhStTh 6), Stuttgart, 154-183
  • Fritz, V., 1989, Amosbuch, Amos-Schule und historischer Amos, in: V. Fritz / K.-F. Pohlmann / H.-C. Schmitt, Prophet und Prophetenbuch (FS Otto Kaiser; BZAW 185), Berlin, 29-43
  • Haag, E., 1993, Daniel (NEB 30), Würzburg
  • Hahn, F., 1998, Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Eine Einführung (BThSt 36), Neukirchen-Vluyn
  • Oegema, G.S., 2001, Himmelfahrt Moses (JSHRZ VI/1,5), Gütersloh, 33-48
  • Oßwald, E., 1963, Zum Problem der vaticinia ex eventu, ZAW 75, 27-44
  • Theißen, G. / Merz, A., 2001, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch. 3. Auflage, Göttingen
  • Tilly, M., 2012, Apokalyptik (UTB 3651), Tübingen
  • Tromp, J., 1993, The Assumption of Moses. A Critical Edition with Commentary (Studia in Veteris Testamenti Pseudepigrapha 10), Leiden
  • Vielhauer, P., 1975, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin
  • Wildgruber, R., 2013, Daniel 10-12 als Schlüssel zum Buch (FAT II 58), Tübingen

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