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Stadtklagen (Alter Orient)

(erstellt: März 2013)

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1. Die neusumerischen Stadtklagen

Um 2000 v. Chr. zerstörten die Elamiter und andere Völker innerhalb kürzester Zeit in Süd-Mesopotamien das letzte Reich der → Sumerer, das vielleicht schon durch Dürre und Pest geschwächt war (vgl. Vanstiphout, 1980, 83-89). Sie beendeten damit die Herrschaft der Dritten Dynastie von Ur (Ur-III-Zeit; vgl. Michalowski, 1-3). Auf die schrecklichen Ereignisse dieser Zeit beziehen sich fünf umfangreiche, in Strophen gegliederte Litaneien, die jeweils den Untergang einer Stadt beklagen:

1. Klage über die Zerstörung von Sumer und Ur. 5 Strophen (drei Texte, die früher als „Zweite Ur-Klage“ (TUAT II 700-707), „Klage über die Zerstörung von Sumer und Akkad“ und „Ibbi-Sin-Klage“ (Falkenstein / von Soden, 189-192) bezeichnet wurden, konnten zu dieser Stadtklage zusammengestellt werden); Edition / Übersetzung: Michalowski; ANET 611-619; ETCSL; vgl. Gadd, 59-71.

2. Klage über die Zerstörung von Ur. 11 Strophen; Edition / Übersetzung: Kramer, 1940; Falkenstein / von Soden, 192-213; ANET 455-463; CScr I, 535-539; Römer; ETCSL.

3. Klage über die Zerstörung von Eridu. Nur fragmentarisch erhalten; mind. 8 Strophen; Edition / Übersetzung: Green, 1978, 127-167; ETCSL.

4. Klage über die Zerstörung von Uruk. Nur 6 von 12 Strophen erhalten; Edition / Übersetzung: Green, 1984, 253-279; ETCSL.

5. Klage über die Zerstörung von Nippur. 12 Strophen; Edition / Übersetzung: Kramer, 1969, 89-93; ders., 1991, 1-25; Tinney; ETCSL; Vanstiphout, 2004, 111-116.

Die Texte werden hier – auch in der Zählung der Zeilen – nach „The Electronic Text Corpus of Sumerian Literature“ (ETCSL) zitiert. Ein weiterer Text, die Klage über Ekimar, ist nur fragmentarisch erhalten und nicht hinreichend publiziert (vgl. Michalowski, 5; Ferris, 1992, 24).

Diese sog. Stadtklagen weisen im Einzelnen ein je eigenes Profil auf (vgl. Green, 1984, 253f; Michalowski, 5f), vor allem jedoch folgende Gemeinsamkeiten:

a) Eine Katastrophe wird in immer neuen Anläufen drastisch geschildert: Da sind Flut und Feuer, Zerstörung und Verwüstung, Hunger und Seuchen, Feinde und Berge von Leichen (vgl. z.B. Ur-Klage Z. 205-249). Stadtmauern und Tempel, Häuser und Besitz sowie politische und soziale Ordnungen sind dahin, die Menschen getötet oder verschleppt.

b) Die Schutzgottheiten haben ihre Städte verlassen oder sind vertrieben worden und klagen selbst. Vgl. z.B. in der Ur-Klage Z. 237f: „Its queen like a bird in fright departed from her city. Ningal like a bird in fright departed from her city“ sowie in der Sumer- und Ur-Klage Z. 118-122: „Mother Bau was lamenting bitterly in her E-Iri-kug. ‚Alas, the destroyed city, my destroyed house’, she cried bitterly“ (die zitierte Klage der Göttin wird bis Z. 280 vielfach wiederholt).

c) Erklärt wird das unendliche Leid mit dem Willen der Götter, vor allem der Willkür und Brutalität des Gottes Enlil (vgl. z.B. Ur-Klage Z. 151-168.172-203; Sumer- und Ur-Klage Z. 366f). Die feindlichen Angreifer handeln nur im Auftrag der Götter.

d) Die Texte enden mit einer Heilsankündigung, zumindest einem Heilswunsch: Stadt und Tempel sollen wieder aufgebaut werden (vgl. Gwaltney, 202f; Tinney, 11-26; Vanstiphout, 1986, 7-9).

Vgl. Sumer- und Ur-Klage: Z. 460-474; Ur-Klage: Z. 420-437; Uruk-Klage: H 1-38; Nippur-Klage: schon in Z. 135 und danach sehr breit, bes. Z. 214-219 (Z. 214f „Even now, they command Išme-Dagan that Sumer and Akkad should be restored at your feet, that their scattered people should be returned to their nests!“); für die Eridu-Klage kann ein heilvoller Ausblick nur vermutet werden, da das Ende nicht erhalten ist.

Anzusetzen sind die Lieder wohl nicht unmittelbar nach dem geschilderten Untergang der Ur-III-Städte, also um 2000 v. Chr., sondern erst ein halbes Jahrhundert später. In der Uruk-Klage (H 1-19) sowie der Nippur-Klage (157-177.201-219.255-261.275-282.304-314) wird nämlich Ischme-Dagan genannt, der erst in der Mitte des 19. Jh.s als vierter Herrscher der 1. Dynastie von Isin regierte. Die beiden Texte feiern ihn als den König, der Stadt und Tempel im Auftrag Enlils wieder aufbaut, und dienen damit seiner Legitimierung. Auch der Schluss der Ur-Klage setzt den Wiederaufbau bereits voraus und bittet, die Stadt nicht erneut zu zerstören (Z. 423-426); ähnlich die Nippur-Klage (Z. 263-295). Die Texte dürften somit erst in der Restaurationszeit anzusetzen sein. Vermutlich sind sie in ihr im Rahmen eines kultischen Wiederaufbaurituals, das den mit Ängsten besetzten Abriss baufälliger Sakralgebäude begleitete, rezitiert und nur für diese einmalige Gelegenheit geschrieben worden (vorsichtiger Tinney, 82-84). Sie sind demnach im Kontext der Königsideologie zu verstehen und zielen darauf, den Herrscher als Überwinder der Katastrophe zu propagieren (vgl. Jacobsen, 223; Hallo, 1970, 119; Green, 1978, 128-130; ders., 1984, 253; Cohen, 1988, 38; Michalowski, 6-8; Greenstein, 63f; Petter, 10).

Die neusumerischen Stadtklagen entsprechen damit Texten wie der ebenfalls aus Mesopotamien stammenden Prophezeiung des Marduk (12. Jh.; TUAT II,1, 65-68) und der ägyptischen Prophezeiungen des Neferti (12. Dyn.; 19. Jh.; → Prophetie in Ägypten; TUAT II,1, 102-110; Texte aus Ägypten). Auch in ihnen wird nämlich eine Unheilszeit drastisch geschildert, doch nur als Kontrastfolie für die anschließende Heilszeit. Diese wird von einem neuen König heraufgeführt, dessen Herrschaft damit propagandistisch glorifiziert werden soll. Quack (345-354) verweist auch auf den traditionell als „Admonitions“ bezeichneten, aber als Klage zu charakterisierenden Text von pLeiden I 344 recto (Übersetzung in: Enmarch, 221-240; → Klagen des Ipuwer), da er in einer Reihe von Punkten den mesopotamischen Stadtklagen – aber auch Threni – entspricht, nämlich in der Gegenüberstellung von einer früheren guten Zeit und jetziger Unheilszeit, in den Vorwürfen, die Gott gemacht werden, weil er nicht hilft, sowie in dem Ausblick auf eine heilvolle Zukunft. Wie in den sumerischen Texten will sich ein Herrscher auch hier als Überwinder des Chaos profilieren.

Nach ihrer kultischen Verwendung sind die neusumerischen Stadtklagen wohl ins Curriculum der Schreiberschulen aufgenommen worden, jedenfalls sind aus altbabylonischer Zeit viele, auch differierende Kopien gefunden worden (vgl. Michalowski, 19-25). Aus späteren Zeiten gibt es dagegen keine Belege mehr. Die Texte wurden also nicht mehr tradiert.

2. Die balag- und eršemma-Klagen

Schon in altbabylonischer Zeit, nach Cohen (1988, 39) um 1900 v. Chr., kamen erste balag-Klagen (Edition / Übersetzung: Cohen, 1988) und eršemma-Klagen (Edition / Übersetzung: Cohen, 1981) auf, die – von Ausnahmen abgesehen – den Untergang einer Stadt und ihres Tempels beklagen. Die Namen bedeuten „Harfe“ oder „Trommel“ (vgl. Cohen, 1974, 31) bzw. „Weinen zur šem-Trommel“ und beruhen wohl darauf, dass ihr Vortrag von entsprechenden Instrumenten begleitet wurde. Wie die älteren Stadtklagen sind sie in sumerischer Sprache gedichtet, die nach dem Untergang der sumerischen Kultur als Kultsprache weiterhin von Bedeutung war, obwohl sie wohl nur noch von wenigen Gelehrten verstanden wurde. Die balag-Klagen, die so lang sein konnten, dass sie mehrere Tontafeln umfassten, sind – wie die signifikante Gliederung in Strophen, insbesondere aber wörtliche Übereinstimmungen zeigen – von den Stadtklagen beeinflusst (vgl. Cohen, 1974, 9-12; ders., 1988, 33-39; nach Krecher [3f] stellen die rituellen Klagen ein älteres Überlieferungsstadium dar als die Stadtklagen). In der 2. Hälfte des 2. Jahrtausends begann man, einige von ihnen mit interlinearen akkadischen Übersetzungen zu versehen. In dieser Zeit hat man die Textfassungen auch standardisiert (vgl. Cohen, 1988, 40-42) und vielleicht ist vielen balag-Klagen schon in dem Zusammenhang eine der deutlich kürzeren eršemma-Klagen als Schluss angehängt worden, etwa weil dies der rituellen Verwendung entsprach (vgl. Cohen, 1988, 43; ein Katalog aus der Bibliothek Assurbanipals listet in der linken Spalte die Titel von balag-Klagen und in der rechten die der zugehörigen eršemma-Klagen; vgl. Emmendörffer, 26f). In neuassyrischer Zeit hat man ausgewählte balag-Klagen mancherorts zu festen Sammlungen zusammengestellt; dafür sprechen Keilschrifttafeln aus dieser Zeit, die Titel von uns zum Teil bekannten balag-Klagen auflisten (vgl. Cohen, 1974, 5f; ders., 1988, 15-19; Black, 36-79). Abgeschrieben und verwendet wurden die Texte über fast 2000 Jahre bis in seleukidische Zeit, wie der jüngste, in das Jahr 112 v. Chr. datierte Kolophon einer in Babylon gefundenen balag-Klage zeigt (vgl. Cohen, 1988, 24). Während dieser langen Zeit sind die Lieder immer wieder bearbeitet worden, z.B. haben sie sich gegenseitig beeinflusst und wurden Listen mit Namen von Orten, Tempeln und Gottheiten ergänzt (vgl. Cohen, 1988, 40-43, und am Beispiel Kutscher, 21.).

Von zentraler Bedeutung sind für die balag- und eršemma-Lieder, die wie sumerische Literatur überhaupt von vielen Wiederholungen und Refrains geprägt sind, die Klage über eine Not und die Bitte um deren Ende. In der einleitenden Anrufung wird eine Gottheit direkt angesprochen, bisweilen mit einer langen, hymnisch klingenden Liste von Titeln und Prädikaten. Die Not wird ausführlich geschildert: Stadt und Tempel sind zerstört, alle Ordnungen dahin, das Land ist verwüstet, die Bevölkerung den Feinden preisgegeben. Die Schutzgottheiten, die geflohen oder vertrieben sind, können in langen Passagen zu Wort kommen und klagend das Leid schildern. Erklärt wird das Leid mit dem Zorn der Götter, insbesondere Enlils. In den Bitten, die sich an die wütende Gottheit selbst oder an Mittler-Gottheiten richten, geht es darum, dass die wütende Gottheit ihr Herz beruhigt.

Als Sitz im Leben der balag-Lieder vermutet man häufig wie bei den älteren Stadtklagen ein Wiederaufbauritual für Tempel (vgl. Cohen, 1974, 13-15; ders., 1988, 38f). Dafür führt man eine mehrfach belegte Schlussnotiz an, die im Sinne von »A supplication that the brickwork of the …-temple should be restored« zu verstehen sei (sie findet sich in Texten bei Cohen, 1988, 114.143.251.298; vgl. 478.498.666.724; vgl. ebenda 30f), aber auch einen Ritualtext mit der Anweisung, bei der Grundsteinlegung eines Tempels in Verbindung mit Opfern bestimmte balag-Klagen zu rezitieren. Die Rezitation der Lieder habe göttlichen Zorn besänftigen sollen, da man fürchtete, dass der für einen Neubau notwendige Abriss baufälliger Sakralgebäude diesen Zorn entfachen könne (vgl. Cohen, 1988, 39). A. Löhnert (2009, 24-29.55-61.62f.448) versteht die besagte Schlussnotiz neuerdings jedoch im Sinne von „Gebet für den, der die Gottheit aus dem Ziegelwerk des …-Tempel wieder an ihren Ort zurückbringt“. Die Lieder seien bei der Abwesenheit einer Gottheit von ihrem Tempel und ihre Rückkehr dorthin rezitiert worden, und zwar nicht nur anlässlich von Baumaßnahmen, sondern z.B. auch bei Prozessionen. Jedenfalls wurden die balag-Lieder im regelmäßigen Kult verwendet. Anders als die älteren Stadtklagen beziehen sie sich nämlich nicht auf eine einmalige historische Situation, sondern sind angesichts ihrer konventionellen Sprache und stereotypen Formulierungen auf je neue Situationen applizierbar und damit für den liturgischen Gebrauch geeignet und wohl auch verfasst. Zudem wurden Kultkalender gefunden, die erklären, an welchem Tag für welche Gottheit welche balag-Klage rezitiert werden sollte (vgl. Cohen, 1988, 22f; Maul, 1999, 285-316; ders., 2002, 255-265). Im Kontext von Ritualen sollten die Texte den Zorn von Gottheiten besänftigen bzw. präventiv gar nicht erst aufkommen lassen und damit Unheil abwenden.

Als weitere Texte, die den Untergang einer Stadt beklagen, vgl. den Fluch über Akkad oder Marduks Klage über Babylon (vgl. dazu Pohl, 405-409; Cooper).

3. Übereinstimmungen mit den Klageliedern Jeremias

Zwischen den altorientalischen Stadtklagen und den → Klageliedern Jeremias gibt es eine Fülle von Übereinstimmungen in Themen, Vorstellungen, Motiven, Bildern und Ausdrücken, die Dobbs-Allsopp (1993, 30-96.167-182; vgl. L.L. Wilkins, 2010, passim) ausführlich – auch tabellarisch – zusammengestellt hat. Beide handeln von der Zerstörung einer Stadt, und das jeweils aus der Sicht der Besiegten. In vielen Details und Bildern wird jeweils das Unheil von Stadt und Heiligtum, von Menschen und sozialen Verhältnissen geschildert, werden der Hunger und die Leichen in den Straßen beklagt. Das Leid einzelner Bevölkerungsgruppen wird herausgegriffen. Wie schrecklich die Gegenwart ist, wird durch die Gegenüberstellung zur heilvollen Vergangenheit deutlich. Der Ton ist immer der Ton der Trauer und der Klage. Formal lassen die Dichter in beiden Fällen verschiedene Sprecher zu Wort kommen, neben dem Erzähler besonders die klagende Stadtgöttin bzw. die Personifikation der Stadt. Jeweils findet sich die Vorstellung, dass die Schutzgottheit die Stadt verlassen hat, dass sie bzw. die personifizierte Stadt weint, dass eine Gottheit das Unheil herbeigeführt hat, dabei selbst kriegerisch aufgetreten ist, aber auch Sturm bzw. Feuer sowie Feinde eingesetzt hat. Es gibt jedoch auch Differenzen: Zum Beispiel macht Threni letztlich die Schuld des Volkes, die in den altorientalischen Liedern kaum eine Rolle spielt, für das Leid verantwortlich und kennt keine Stadtgöttin, sondern die Personifizierung der Stadt. Von der Erwartung einer baldigen Restitution und heilvollen Zukunft, sogar der Legitimierung entsprechender königlicher Maßnahmen kann bei Threni keine Rede sein.

Bei der Beurteilung der Übereinstimmungen ist zu beachten, dass zwischen den Stadtklagen Mesopotamiens und den Klageliedern Jeremias eine Entfernung von weit über 1000 km und ein Graben von weit über 1000 Jahren liegt. Nun können die balag-Klagen, die im 6. Jh. in Mesopotamien in Ritualen rezitiert wurden, israelitischen Priestern in Palästina zumindest theoretisch bekannt gewesen sein und – wie Gwaltney (210f) annimmt (vgl. Emmendörffer, 294) – das „missing link“ zwischen den älteren Stadtklagen und Threni bilden. Die Frage ist jedoch, ob sich eine Verbindung zwischen den Klagen Mesopotamiens und Threni aufzeigen lässt. Hat man sie in Jerusalem tatsächlich gekannt und sind die Klagelieder Jeremias literarisch von ihnen abhängig? Oder beruhen die Übereinstimmungen einfach nur darauf, dass Menschen dieselben Erfahrungen gemacht und im gleichen größeren Kulturkreis in ähnlicher Weise verarbeitet haben.

3.1. Literarische Erklärung

Aufgrund der genannten Übereinstimmungen werden die neusumerischen Stadtklagen zuweilen als Vorläufer der Klagelieder Jeremias betrachtet, die von ihnen direkt oder indirekt abhängig sein sollen.

Für Kramer (1969, 90) „there is little doubt that the biblical Book of Lamentations owes no little of its form and content to its Mesopotamian forerunners, and that the modern orthodox Jew who utters his mournful lament at the ‚western wall’ of ‚Solomon’s’ long-destroyed Temple, is carrying on a tradition begun in Sumer some 4,000 years ago.“ Auch nach Gadd (61) stehen die Klagelieder Jeremias deutlich unter dem Einfluss der neusumerischen Stadtklagen. Emmendörffer (293-295) möchte 1998 zeigen, „dass zwischen den sumerischen und alttestamentlichen Klagekompositionen in der Bewältigung des Themas ‚Zorn Gottes’ und in Einzelformulierungen ein zu vermutendes Abhängigkeitsverhältnis besteht.“ Die ein Jahr zuvor erschienene Arbeit von Bouzard (69-71.201f) geht davon aus, dass Threni von den balag-Klagen abhängig ist, und will zeigen, dass dies aller Wahrscheinlichkeit nach auch für die Volksklagelieder des Psalters gilt (147-211), mithin auch diese Lieder zeigen, „that Israel was familiar with Mesopotamia’s literature of communal lament“ (201). Vgl. Kraus, 9-11; Renkema, 45; Albertz, 127; Diller, 292-316 bes. 311-314.

Um eine direkte oder auch nur indirekte Verbindung zwischen den sumerischen Klageliedern und Threni zu belegen, genügt es methodisch gesehen nicht, auf Parallelen zu verweisen, sondern es muss auch gezeigt werden, dass es sich um signifikante Parallelen handelt, also um Motive oder Bilder, die sonst nicht oder nur selten anzutreffen sind. Das aber will nicht gelingen. Es gibt auch keine Fremdwörter, die eine Verbindung belegen könnten. Somit lässt sich nicht zeigen, dass die Threni-Dichter in Palästina balag-Klagen aus Mesopotamien kannten, und sei es nur aus der mündlichen Überlieferung oder indirekt über von diesen literarisch abhängige Klagelieder, die in Syrien-Palästina vielleicht sogar verbreitet waren, uns jedoch nicht erhalten sind. Zur Kritik vgl. McDaniel, 198-209; Hillers, XXIX; Westermann, 28f; Salters 13-15.

3.2. Anthropologische Erklärung

Threni wird von den neusumerischen Klageliedern sehr weit abgerückt, wenn man die Übereinstimmungen einem anthropologischen Ansatz folgend mit der Situation von Menschen im Krieg erklärt sowie der Art und Weise, wie sie jenseits aller Kulturgrenzen mit dieser Erfahrung umgehen.

Nancy C. Lee, deren Arbeit von 2002 den Untertitel „Cities under Siege, from Ur to Jerusalem to Sarajevo …“ trägt, hebt hervor, dass Volksklagelieder „across cultures worldwide and through history, including the ancient Near East“ angestimmt wurden (2008, 34). Dabei seien sie in vielen Kulturen und durch die ganze Geschichte insbesondere von Frauen gesungen worden, wie dies für die altorientalischen Lieder zumindest zum Teil gelten dürfe und von ihr für Abschnitte von Threni angenommen wird (2002, 199; 2008, 34). Auch seien Leichenklagelieder auf der ganzen Welt von der Antike bis heute auf Volksgruppen übertragen worden (2002, 39f). Ferner seien Städte in solchen Liedern zu allen Zeiten personifiziert worden (2002, 195). Vgl. Lee / Mandolfo. Schon Rudolph (9) erklärt die Übereinstimmungen „einfach aus der ähnlichen Situation“ und Westermann (31) verweist auf „Urerfahrungen der Menschheit“.

In der Tat ist Erfahrung von Krieg und allen Formen des Leids, die sich mit ihm verbinden, über Zeiten und Grenzen hinweg letztlich gleich und insofern entsprechen sich auch die Beschreibungen von Katastrophen (Zerstörung, Tod, Hunger, Verlust usw.) sowie das verzweifelte Suchen nach einer Erklärung. Es ist auch eine allgemeine Erfahrung, dass Menschen ihren Schmerz anderen gegenüber ausdrücken wollen und z.B. Rituale benötigen, um wieder Halt zu finden. Ihre Grenze findet diese Erklärung der Übereinstimmungen jedoch darin, dass die Erklärung des Leids in den neusumerischen Texten und Threni stark auf den gemeinsamen größeren Kulturkreis bezogen ist. Das gilt z.B. für den Gedanken von der Abwesenheit der Gottheit als Erklärung für Unheil oder die Vorstellung von Gott als Angreifer bis hin zu der, dass er Feuer wirft.

3.3. Traditionsgeschichtliche Erklärung

Lediglich von der Einheit des Kulturkreises geht die traditionsgeschichtliche Erklärung der Übereinstimmungen aus, von der sich die formgeschichtliche oft kaum unterscheidet, weil die Form im Fall der zur Diskussion stehenden Texte in der Forschung vielfach über Motive definiert wird. Entscheidend ist, dass die Texte – wenn auch in einem weiten Sinne – aus dem gleichen Kulturkreis stammen und die Dichter deswegen bei der Darstellung und Erklärung eines vergleichbaren Ereignisses, der Zerstörung einer Stadt und in einem weiteren Sinne vergleichbaren Unheils, auf ähnliche Bilder, Motive und Gedanken kommen, etwa den Gedanken, dass die Schutzgottheit ihre Stadt verlassen, sie sogar verworfen hat, dass eine Gottheit das Unheil gebracht hat und dass diese Gottheit als Krieger angreift. Das sind Gedanken, die im Alten Orient einschließlich Israel Unheilsschilderungen prägten, wie sie nicht nur in Klageliedern begegnen, sondern auch in Unheilsankündigungen, z.B. in den Flüchen von Verträgen oder Fremdvölkersprüchen (vgl. McDaniel, 198-209; Hillers, XXIXf; Durlesser, 80-82; Westermann, 27; Gerstenberger, 468f; Wischnowsky, 2001, 99; Berlin, 26-30; Jeremias, 30-37; Salters 13-15).

Ferris (1992, 167-175) betrachtet die Übereinstimmungen zwischen Threni und neusumerischen Klageliedern als „coincidental and the result of a common experience by a similar, if not common, culture“ (173). Zur „common oriental culture“ gehöre auch die Teilhabe an einer „common literary culture“ (174f).

Dobbs-Allsopp (1993, 157-163) will die Übereinstimmungen formgeschichtlich erklären. Auch Threni enthalte nämlich Stadtklagen. Die Gattung sei schon lange vor dem Untergang Jerusalems über Handelskontakte von Mesopotamien nach Israel gelangt und habe dort, wie die Differenzen zeigen, ein eigenes Profil gewonnen. Vgl. Dobbs-Allsopp, 2000, 625-630; Berges 50-52; Greenstein, 58-63; Petter, 34-38.

Die traditionsgeschichtliche Erklärung wird Übereinstimmungen und Differenzen am ehesten gerecht, doch kann man traditionsgeschichtliche Linien allenfalls sehr vorsichtig ziehen, d.h. die Übereinstimmung von Gedanken, Motiven und Bildern konstatieren, weil es nicht möglich ist, „eine traditionsgeschichtliche Brücke zwischen den sumerischen Dichtungen und unseren Liedern zu rekonstruieren“ (Kaiser 101).

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