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Paränese (AT)

(erstellt: September 2006)

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1. Begriff

Der Begriff „Paränese“ kommt von griechisch παραίνεσις (paraínesis) „Empfehlung / Rat / Ermahnung“. In der Stoa kann der Begriff für den Teil der Philosophie verwendet werden, der aus der Lehre mahnend praktische Konsequenzen zieht (Seneca, Epistulae morales 95,1; Text lat. Autoren). In der → Septuaginta ist die Wurzel παραιν- (parain-) nur dreimal in den → Apokryphen belegt (2Makk 7,25.26; Weish 8,9; ferner 3Makk 5,17; 7,12).

Die alttestamentliche Wissenschaft verwendet den Begriff „Paränese“ nur selten und nicht klar definiert (anders Gammie). Etabliert hat er sich allein in der Deuteronomium-Forschung im Blick auf den mahnenden Charakter der Reden des Mose im Deuteronomium (vgl. schon → Philo, De specialibus legibus 299f; Text Philo). Meist bezeichnet er keine feste Gattung, etwa eine Mahnung, sondern die auffordernde Funktion eines Textes. Er charakterisiert ihn als wohlmeinende Ermahnung zu rechtem Verhalten. Während die Ethik möglichst klar und konkret definiert, welche Taten moralisch gut sind, fordert die Paränese in einem umfassenden Sinne zum Tun des Guten auf, ohne dieses unbedingt genau zu definieren. Sie dient der Vermittlung bzw. Vergewisserung meist traditioneller Werte und zielt damit auf die Sozialisierung des Einzelnen sowie auf die Festigung der Gesellschaft, Gruppe und Familie. Gesprochen werden Paränesen vielfach von einer Autoritätsperson – zuweilen einem Sterbenden (→ Deuteronomium; 1Kön 2,1ff; Tob 14).

2. Paränetische Texte im Alten Testament

2.1. Paränetische Reden

In einem engeren Sinne kann man Texte als Paränesen bezeichnen, die als Anrede an den Leser oder eine Erzählfigur formuliert sind und dazu auffordern, Gutes zu tun oder Gottes Gesetze und Gebote zu beachten. Die Grundform einer solchen Paränese kann dementsprechend in einem auffordernden Verb des Beachtens oder Tuns mit einem Gesetzesterminus als Objekt bestehen. Heilsankündigungen können hinzutreten und der Paränese einen werbenden Ton geben: „Erfüllt das Gesetz, damit es euch gut geht“. Das → Bundesbuch schließt mit derartigen Ermahnungen (Ex 23,20-33) und das → Heiligkeitsgesetz ist von ihnen durchzogen (z.B. Lev 18,2b-5.24-30). Besonderes Gewicht haben sie in der deuteronomisch-deuteronomistischen Überlieferung (z.B. Dtn 5,1; Dtn 6,17-18; Jos 22,5), die lange paränetische Reden kennt (z.B. Dtn 4,1-40). Auch weisheitliche Mahnsprüche (z.B. Spr 27,1) sowie prophetische Mahnworte und -reden (z.B. Jer 18,11; Jer 25,5; Jer 35,15; Ps 50,7-23; Ps 75,3-7; Ps 81,7-17; Ps 95,8-11), die unabhängig von Gesetzesterminologie zum rechten Verhalten auffordern, kann man in einem engeren Sinne als Paränesen bezeichnen.

2.2. Weitere paränetische Texte

In einem weiteren Sinn können auch Texte als paränetisch gelten, die zwar keine mahnende Anrede enthalten, aber auf der Ebene der Textpragmatik zum rechten Verhalten auffordern. Diese Texte erhalten erst dadurch einen paränetischen Charakter, dass Leserinnen und Leser sie – ob vom Autor intendiert oder nicht, spielt keine Rolle – auf sich applizieren und als Mahnung verstehen.

1. Erzählungen von paränetischen Reden. Innerhalb von → Erzählungen richten sich Ermahnungen zum rechten, gottwohlgefälligen Handeln nur oberflächlich gesehen an die angesprochene Erzählfigur, im Grunde jedoch an die Leser und Hörer, wenn sie sich mit dieser Erzählfigur identifizieren und folglich in den Ermahnungen angesprochen fühlen. Wenn z.B. der sterbende David seinen Sohn Salomo ermahnt, auf den Wegen Jahwes zu wandeln (1Kön 2,1-4), oder der alternde Tobit seinen Sohn Tobias in einer langen Rede auffordert, nicht zu sündigen und alle Tage Gutes zu tun (Tob 4,3ff [Lutherbibel: Tob 4,1ff]), wendet sich der Text damit indirekt auch an seine Leserinnen und Leser. Die Form der Erzählung lässt ihnen jedoch die Freiheit, sich angesprochen zu fühlen oder sich zu verweigern.

Sofern die unter 2.1. genannten paränetischen Rede in einen narrativen Kontext eingebetet sind, sich also formal gesehen nicht an Leserinnen und Leser, sondern an Erzählfiguren richten, sind sie unter Berücksichtigung dieses Kontexts zu den Erzählungen von paränetischen Reden zu rechnen. Auch die prophetischen Mahnworte richten sich formal gesehen nur an die Hörer des jeweiligen Propheten, spätestens im Kontext des Buches jedoch an einen viel weiteren Kreis, nämlich den der jeweiligen Leser.

2. Positive und negative Wertungen. Alle Texte, die Wertungen enthalten, animieren ihre Leserinnen und Leser implizit dazu, das positiv Bewertete zu tun, und haben insofern eine mahnende Funktion und eine paränetische Dimension.

Beispielsweise haben Erzählungen angesichts der Vorbildfunktion des Helden bzw. der positiven und negativen Wertungen, die der Erzähler in welcher Form auch immer einbringt, in der Regel auch eine paränetische Aussageebene. So kann die Josefserzählung angesichts der Vorbildfunktion der Identifikationsfigur Josef als Ermahnung zur Vergebung und die Jona-Erzählung angesichts der positiven Bewertung der Umkehr der Einwohner Ninives als Aufforderung zur Buße (vgl. die Verlesung des Buches an → Jom Kippur) gelesen werden (→ erzählende Gattungen). Eine paränetische Funktion hat auch die Vorstellung vom → Tun-Ergehen-Zusammenhang, die gute Taten dadurch positiv wertet, dass sie ihnen Erfolg bescheidet, und über schlechte Taten Entsprechendes aussagt. Diese Vorstellung ist im Alten Testament sehr verbreitet. Sie findet sich explizit oder implizit:

a) in weisheitlichen Sprüchen und Psalmen mit ihren Aussagen über Gerechte und Frevler (z.B. Spr 10,7; Ps 1);

b) in Geschichtsrückblicken, die den Untergang Israels mit der Schuld des Volkes erklären (→ deuteronomistisches Geschichtswerk);

c) in prophetischen Gerichtsworten, die künftiges Unheil mit bereits begangenen Sünden begründen;

d) in bedingten Heils- und Unheilsankündigungen, nach denen die künftigen Taten der Menschen für ihr Ergehen ausschlaggebend sind (z.B. Lev 26; Dtn 28; 1Kön 9,4ff);

e) in Erzählungen, in denen der vorbildlich tugendhafte Held paradigmatisch gerettet (z.B. → Daniel, → Susanna, → Josef) bzw. der Antiheld vernichtet wird (z.B. Num 21,4-9).

All diese in sich sehr verschiedenartigen Textgruppen sind von der Vorstellung geprägt, dass es einen Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen gibt und dass das Tun des Guten zu Erfolg und besserem Leben führt (→ Tun-Ergehen-Zusammenhang). Indem sie diese Vorstellung vertreten oder sogar propagieren, ermuntern sie ihre Leserinnen und Leser, ihrerseits das Gute zu tun, und haben insofern zumindest auch eine paränetische Spitze. Diese wird jedoch erst dadurch konstituiert, dass mitdenkende Leserinnen und Leser den Text auf sich applizieren.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1933-1979
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998ff.

2. Weitere Literatur

  • Finsterbusch, K., Das gesetzesparänetische Schema im Deuteronomium, BN 103 (2000), 53-63
  • Gammie, J.G., Paraenetic Literature: Toward the Morphology of a Secondary Genre, Semeia 50 (1990), 41-77
  • Perdue, L.G., The Social Character of Paraenesis and Paraenetic Literature, Semeia 50 (1990), 5-39
  • Perdue, L.G., The Death of the Sage and Moral Exhortation. From Ancient Near Eastern Instructions to Graeco-Roman Paraenesis, Semeia 50 (1990), 81-109
  • Westermann, C., Mahnung, Warnung und Geschichte. Die Paränese Deuteronomium 1-11; in: H.M. Niemann / M. Augustin / W.H. Schmidt (Hgg.), Nachdenken über Israel, Bibel und Theologie (FS K.-D. Schunck; Beiträge zur Erforschung des Alten Testaments und des antiken Judentums 37), Frankfurt/M. u.a. 1994, 51-67

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