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(erstellt: März 2015)

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Das Wort Ordal hat seine Wurzeln im Angelsächsischen und Althochdeutschen; latinisiert wird es zu ordalium. Es hängt etymologisch offensichtlich mit „Urteil“ zusammen, nur dass das Urteil nicht von menschlichen, sondern von übermenschlichen Instanzen gefällt wird, und zwar deswegen, weil ein Rechtsfall mit üblichen Beweismitteln nicht lösbar erscheint: Es liegt eine Schädigung vor, doch fehlen Geständnisse von Tatverdächtigen oder verlässliche Zeugenaussagen; oder ein strafrechtlich relevanter Sachverhalt ist zwischen zwei Parteien strittig, und es gelingt nicht, Schuld und Unschuld klar zuzuteilen. In religiös geprägten Gesellschaften wird in solchen Fällen ein Gottesurteil gesucht. Dazu setzt man den Verdächtigen einer Probe aus, und je nachdem, ob er sie besteht, gilt er als rehabilitiert oder als schuldig. Bei den entsprechenden Verfahren treten homines religiosi in Aktion, die mit Hilfe technisch-ritueller Mittel das Urteil der Gottheit evozieren.

1. Ordale als eine Form von Divination

In naturnahen Religionen wird das Göttliche als in Elementen wie → Feuer oder → Wasser, auch in toxischen Substanzen, präsent gedacht. Nach entsprechenden rituellen Vorbereitungen bringt man Verdächtige mit glühenden Gegenständen in Berührung, flößt ihnen → Gifte ein, taucht sie gefesselt unter oder wirft sie in einen Fluss – und dann kommt zum Vorschein, ob die Anschuldigung berechtigt war oder nicht. Kennzeichnend in dieser Hinsicht sind Bestimmungen im Codex → Hammurabi (Babylonien, 18. Jh. v. Chr., § 132) und im sog. Mittelassyrischen Recht (Assyrien, um 1100 v. Chr., §§ 17, 22, 24), in denen es jeweils um den Verdacht geht, eine verheiratete Frau habe Umgang mit einem anderen Mann gehabt: Lässt sich die Sache mit gewöhnlichen gerichtlichen Mitteln nicht aufklären, wird jene Frau (oder auch der betreffende Mann bzw. einer, der ihr Unterschlupf gewährt hat) dem „Flussgott“ ausgesetzt, d.h. wohl in den → Eufrat oder den → Tigris geworfen; je nachdem, ob sie oder er das Ordal überlebt, gelten Schuld oder Unschuld als erwiesen und ist (im Falle des Ertrinkens) die Strafe schon vollstreckt.

In Religionen, die stärker theologisch reflektiert sind, übernehmen personal gedachte Gottheiten die richterliche Funktion. In einer monolatrischen oder monotheistischen Religion fällt der (wichtigste oder einzige) Gott das Urteil. So ist es auch in Israel (→ Gericht / Gerichtswesen).

Ordale gehören in den weiten Bereich der → Divination: der bewussten Einbeziehung des Göttlichen in menschliche Entscheidungen. Man beobachtet Gestirnkonstellationen (weil die Gestirne Gottheiten repräsentieren [→ Sterne]), man nimmt Opferschauen vor (weil die Form etwa der Leber etwas aussagen kann über den Willen der Gottheit in einer bestimmten Sache), man deutet anhand ausdifferenzierter Manuale die → Träume von Menschen (weil durch Träume Gottheiten sprechen können), man wirft Lose (weil und sofern die Gottheit bestimmt, wie sie fallen), man befragt → Propheten (weil sie Boten oder Sprachrohre von Gottheiten sind) usw.

Auch im Alten Testament begegnen verschiedene Formen der Divination. Hier nur ein paar besonders ausdrucksstarke Beispiele aus dem Überlieferungsgut, das im sog. → deuteronomistischen Geschichtswerk (→ Deuteronomismus) tradiert ist: → Gideon fordert von Gott zweimal nacheinander ein eindeutiges Zeichen, dass er den Kampf gegen einen äußeren Feind aufnehmen soll (Ri 6,36-39). Die → Philister bringen per Divination in Erfahrung, dass die den Israeliten abgejagte → Lade mit göttlicher Präsenz aufgeladen ist, und überlassen es der Gottheit zu entscheiden, wohin der heilige Gegenstand ziehen soll (1Sam 6,7-12). → Samuel veranstaltet ein Losverfahren zur Findung des ersten Königs Israels; das gottgelenkte Los (→ Divination) fällt auf → Saul – den Samuel zuvor schon zu salben hatte (1Sam 10,19-21). Sauls Sohn → Jonatan erwartet von Gott ein klares Signal, ob er den Angriff auf einen Philisterposten wagen soll oder nicht (1Sam 14,8-12). Saul lässt, kurz vor seinem Lebensende, eine Totenbeschwörung durchführen, um den Ausgang der bevorstehenden Entscheidungsschlacht gegen die Philister zu erfahren; die Auskunft ist so niederschmetternd wie zutreffend (1Sam 28; → Jenseitsvorstellungen; → En-Dor). Der Jhwh-Prophet → Elija und 400 Propheten → Baals beschwören auf zwei von ihnen errichtete Altäre göttliches Feuer herab, und auf Elijas Altar fällt es (1Kön 18,21-38). Ein israelitischer König fordert von Propheten Bescheid, ob er in eine Schlacht gegen die Aramäer ziehen soll; dass die positive Antwort von einem „Lügengeist“ eingegeben ist, erfährt er noch, lässt sich aber nicht warnen – und stirbt (1Kön 22,1-40). Auf einem Kriegszug gegen → Moab findet man durch die Befragung des Propheten → Elisa nicht nur Wasser in der Wüste, sondern gelangt auch zum Sieg (2Kön 3,11-27). König → Josia lässt die Prophetin → Hulda nach der Authentizität eines eben aufgefundenen Gesetzbuches befragen und erhält unmissverständlich Auskunft (2Kön 22,12-20).

In einem solchen, für Divination offenen Klima hat auch das Ordal seinen Platz. Einige alttestamentliche Erzählungen lassen entsprechende Denkkategorien erkennen, ohne noch direkt von Rechtsverfahren zu handeln. Laut Ex 32,20 zerstampft → Mose das → Goldene Kalb, das Israel sehr zum Missfallen Gottes angefertigt hat, zu Staub, streut diesen in Wasser und veranlasst alles Volk, davon zu trinken: vermutlich in der Erwartung, dass so ans Licht komme, wer sich aktiv am Götzendienst beteiligt hat. In Num 16 wird erzählt, wie bestimmte Gruppen, die gegen Mose rebelliert haben, auf offenbar übernatürliche Weise vom Erdboden getilgt werden. Nach Num 17,16-26 hat ein offenbar gottgewirktes Wunder darüber entschieden, wer in Israel das Recht auf Durchführung von Opfern hatte. David soll sich jeglicher Gewalttat gegen den ihn verfolgenden König Saul enthalten haben, weil er davon überzeugt war, dass Gott selbst Saul seinem verdienten Ende zuführen werde (1Sam 24,13; 1Sam 26,10).

Die eigentlichen Ordaltexte führen in den Bereich der Jurisdiktion. Dass man in Altisrael mit der Möglichkeit und auch der Wirklichkeit von Gottesurteilen gerechnet hat, belegen einschlägige Gesetzesbestimmungen ebenso wie Erzählungen, Psalmen und vielleicht auch Prophetenworte.

2. Ordale in Rechtstexten

In Ex 22,6-9 – im Kontext des → Bundesbuches, der relativ ältesten Gesetzessammlung des Alten Testaments – wird in kasuistischem Stil (→ Recht) der Fall beschrieben, dass ein Israelit einem andern Geld oder andere Wertgegenstände zur Verwahrung gegeben hat, dass sein Eigentum aber abhandenkommt. Lässt sich ein Dritter als Dieb ausfindig machen, ist das Problem gelöst. Findet sich aber kein Dieb, gerät der mit der Aufbewahrung Betraute in Verdacht. Er soll sich dann „Gott nähern“ (sicher im Heiligtum) und feststellen lassen, ob bzw. dass er sich nicht am fremden Eigentum vergriffen hat. Die → Septuaginta fügt hier ein: „…und soll schwören…“; danach hatte der Mann einen sog. Reinigungseid abzulegen; dahinter steht die Überzeugung, dass Gott einen Meineid nicht ungeahndet lassen wird (→ Eid). Im hebräischen Text bleibt offen, was „vor Gott“ geschieht. Vielleicht hatte sich der Beschuldigte einem rituellen Test zu unterziehen, der Schuld oder Unschuld zutage fördern sollte. Falls nun der Geschädigte behauptete, etwas von seinem Eigentum bei dem Beschuldigten wiederzuerkennen, dieser das aber bestritt, stand also Aussage gegen Aussage, hatten sich beide Kontrahenten einem Ordal zu unterziehen – wieder „nur“ einem Eid oder wiederum einem materiellen Test? Der als schuldig Erwiesene musste dem anderen doppelten Schadenersatz leisten.

Ein ritueller Test wird relativ anschaulich in Num 5,11-28 geschildert. Er dient der Aufklärung eines rechtsrelevanten Sachverhalts, für den es keine Beweismittel gibt: Ein Ehemann verdächtigt seine Frau des Ehebruchs, sei es, dass er eine entsprechende Ahnung hat, sei es, dass eine Schwangerschaft eingetreten ist, für die er nicht verantwortlich zu sein meint. (In einer patriarchal strukturierten Gesellschaft kann dieserart nur ein Mann seine Frau beschuldigen, nicht umgekehrt.) Der von Eifersucht geplagte und sich gedemütigt fühlende Mann bringt seine Frau ins Heiligtum, wo sie sich einem Ordal zu unterziehen hat. Dessen Schilderung wirkt relativ kompliziert und verschlungen. Früher hat man verschiedene Textschichten zu isolieren versucht, ohne überzeugendes Ergebnis. Wahrscheinlich steht hinter dem jetzigen (vermutlich nachexilischen) Text eine lange Traditionsgeschichte, in deren Verlauf sich unterschiedliche Elemente ankristallisiert haben. Als ein solches Element ist eine „Eifersuchtsgabe“, eine minḥah (→ Opfer § 3.15) von Seiten des Mannes, zu erkennen. Zentrales Element ist ein Trunk aus „heiligem Wasser“, vermischt mit Staub aus der Umgebung des Altars, den die Frau trinken muss. Zudem hat sie einen Eid bzw. Unschuldseid zu leisten. Dieses Element ist jetzt dahingehend ausgeweitet, dass der Priester den → Schwur als bedingte Selbstverfluchung niederschreibt, die Tinte vom Schriftträger abwäscht und in jenen Trunk hineinrührt. Das Ergebnis der Prozedur soll sein, dass die Frau, falls sie schuldig ist, schlimmen körperlichen Schaden erleidet, im Fall der Unschuld aber unversehrt bleibt. Worin der Schaden genau besteht, ist schwer zu bestimmen; vielleicht ist an einen Gebärmuttersturz mit bleibender Empfängnisunfähigkeit gedacht, wohingegen die unschuldige Frau empfängnisfähig und fruchtbar bleibt. Das Ganze ist nur begrenzt ein echtes Ordal, insofern sich Schuld oder Unschuld nicht an Ort und Stelle, sondern erst im Lauf der Zeit herausstellen. Auch ist keine gerichtliche Sanktion vorgesehen (bei Ehebruch hätte es die Todesstrafe zu sein), sondern „nur“ die von Gott verhängte Unfruchtbarkeit.

Das deuteronomische Gesetz legt in Dtn 17,8-13 fest, dass Rechtsfälle, welche die Rechtsgemeinde nicht zu lösen vermag, an ein Zentralgericht am Jerusalemer Tempel abzugeben sind, dem neben einem „Richter“ auch „Priester“ angehören. Auf welche Weise sie die Wahrheit zu ermitteln suchen, ob sie (auch oder nur) zum Mittel des Ordals greifen, bleibt offen.

3. Ordale in Erzähltexten

In der aller Wahrscheinlichkeit nach jungen, nämlich nachexilischen Erzählung Jos 7 wird geschildert, wie ein Verbrecher mittels eines Ordals überführt und bestraft wird. Ein gewisser → Achan hat sich während der Erstürmung → Jerichos an dem Gott geweihten → „Banngut“ vergriffen. Es gab keine Zeugen der Tat; erst ein militärischer Misserfolg ließ erkennen, dass und wodurch die Gottheit gereizt war. In einem rituellen Losverfahren (→ Divination), das höchstwahrscheinlich nach dem Vorbild von 1Sam 10,19-21 (der Loswahl Sauls) gestaltet ist, wird zuerst der Stamm ermittelt, dem der gesuchte Täter angehört, dann die Sippe, dann das Haus, schließlich der Mann selbst. Dieser gesteht auf Befragen seine Schuld und wird daraufhin samt seiner Familie gesteinigt. Das Gottesurteil entscheidet also nicht eigentlich über „schuldig“ oder „unschuldig“, sondern führt zur Auffindung des Täters, der danach einem „normalen“ Verfahren unterworfen wird: Achan wird befragt, legt ein Geständnis ab, verrät, wo das Diebesgut versteckt ist, dieses wird sichergestellt, und dann erfolgt die Hinrichtung (→ Todesstrafe).

Damit verwandt, jedoch literarisch und auch sachlich altertümlicher, ist eine Szene in 1Sam 14,37-46. Als König Saul in einer bestimmten Kriegssituation auf eine Orakelanfrage keine Antwort erhält, schließt er auf eine Kränkung der Gottheit und lässt durch einen Priester ein Losverfahren inszenieren, das den Schuldigen ermitteln soll. Laut Septuaginta wird dabei das Orakellos „Urim und Tummim“ (→ Divination) eingesetzt. Dabei handelt es sich offenbar um ein sog. Alternativ-Orakel, in dem unterschiedliche Losstäbchen oder Lossteinchen entweder ein „ja“ oder ein „nein“, in diesem Fall „schuldig“ oder „unschuldig“, signalisieren. Dies bedingt eine entsprechende Versuchsanordnung: Saul stellt das gesamte Heer auf die eine Seite und sich und seinen Sohn Jonatan auf die andere; als das Los, das „Schuld“ anzeigt, auf ihn und Jonatan fällt, stellt er sich Jonatan gegenüber, und nun trifft das Los Jonatan. Saul befragt ihn, Jonatan räumt ein, ein von Saul verhängtes und vor Gott beschworenes Speisetabu gebrochen zu haben, und erklärt sich bereit, die Folgen zu tragen. Saul fällt umgehend die Todesstrafe, doch diese wird vom Kriegsvolk aufgehoben. Damit setzt sich menschliches Rechtsempfinden gegen ein Gottesurteil (oder ist es das Urteil eines aufgebrachten Vaters?) durch.

In 1Kön 8,31f, im sog. Tempelweihgebet → Salomos, findet sich eine Bitte, hinter der die Vorstellung eines Ordals zu stehen scheint: Wenn ein Israelit gegen einen anderen im Heiligtum einen → Fluch niederlegt, möge Gott diesen Fluch wahr werden lassen – falls der Betreffende schuldig ist; sollte er unschuldig sein, möge Gott ihn schonen. Wohl und Wehe des dem Fluch unterstellten Menschen werden also dem Urteil Gottes überlassen. Allerdings bleibt unklar, auf welche Weise die Schuld (oder Unschuld) zutage gefördert werden und wie gegebenenfalls die Strafe aussehen soll.

In der → Jona-Erzählung wird in einer Art Ordal-Verfahren der vor Gott flüchtende Prophet als Verursacher des schrecklichen Sturms ermittelt, gegen den die Besatzung eines Schiffs vergebens ankämpft. Das von Gott gelenkte (und wohlgemerkt von Heiden geworfene!) Los fällt zielsicher auf Jona, und als dieser über Bord und scheinbar in den Tod befördert worden ist, beruhigt sich das Meer umgehend (Jon 1,7-16). In dieser Darstellung fallen Ermittlung und Bestrafung des Schuldigen fast in eins. Dass das scheinbar von Gott verhängte Todesurteil in Wahrheit eine Verurteilung zum Leben und zum Verkündigen ist, weiß zu dem Zeitpunkt noch niemand.

Die Erzählung von den drei Freunden → Daniels im Feuerofen (Dan 3,13-30) lässt die ursprünglich in Persien beheimatete Vorstellung eines Feuer-Ordals durchscheinen. Drei fromme Juden, die sich geweigert haben, einem heidnischen Götterbild zu huldigen, werden in ein mörderisch heißes Feuer geworfen. Dieses kann ihnen jedoch nichts anhaben, sie kommen unversehrt wieder heraus. Dem heidnischen König ist klar, dass es ein Gott gewesen sein muss, der die drei Männer in der Feuerprobe bewahrt und als unschuldig erwiesen hat.

4. Hinweise auf Ordale in den Psalmen

In der Psalmenexegese (→ Psalmen) wurde immer wieder eine größere oder kleinere Reihe Psalmen mit Rechtsverfahren am Jerusalemer Tempel und auch mit dabei eingesetzten Ordalen in Verbindung gebracht. Oben wurde erwähnt, dass laut Dtn 17,8-13 besonders komplizierte Rechtsfälle an ein Jerusalemer Obergericht abzugeben waren, dem auch Priester angehörten. Zudem gab es offenbar die Institution des Heiligtumsasyls, das Menschen, denen Tötungs- oder andere schwere Delikte vorgeworfen wurden und die deshalb um ihr Leben fürchten mussten, bis zum Abschluss eines regulären Verfahrens in Anspruch nehmen durften. (Ein anschauliches Beispiel ist der General → Joab, der sich dem Zugriff seiner Gegner entzieht, indem er ins Jerusalemer Zeltheiligtum flüchtet und „die Hörner des Altars ergreift“, 1Kön 2,28.) Es liegt nahe, dass Menschen, die sich aus solchen Gründen im Tempel aufhielten, den dort verehrten Gott anriefen oder Gebetsformulare vorfanden, in denen ihre Anliegen zur Sprache kamen (→ Asyl, § 4).

Insgesamt mehr als zwei Dutzend Psalmen hat man in diesem Sinne als „Gebete von Angeklagten“ oder von Asylsuchenden angesprochen (namentlich Ps 3; Ps 4; Ps 5; Ps 7; Ps 11; Ps 17; Ps 23; Ps 26; Ps 27; Ps 31; Ps 35; Ps 54; Ps 55; Ps 56; Ps 57; Ps 59; Ps 71; Ps 91; Ps 93; Ps 94; Ps 107; Ps 118; Ps 124; Ps 139; Ps 140; Ps 142). Damit ist der Kreis sicher zu groß gezogen, doch bleibt auffällig, wie viele sprachliche Elemente und gedankliche Motive sich mit der Vorstellung eines am Tempel stattfindenden Rechtsverfahrens relativ zwanglos in Verbindung bringen lassen. Da scheint es Reflexe zu geben von Befragungen und Einlassungen von Prozessgegnern (Ps 7,10; Ps 11,5; Ps 26,2.9f; Ps 26,2; Ps 27,12; Ps 35,11.29f; Ps 51,10-15; Ps 71,10f; Ps 94,3-10; Ps 139,1-5.23), von Reinigungseiden Beschuldigter (Ps 7,4-6; Ps 26,3-6; Ps 63,12), von Vertrauenserklärungen an den göttlichen Richter (Ps 5,13; Ps 17,2; Ps 56,11f; Ps 91,2f; Ps 94,15), von flehentlichen Bitten um dessen gerechtes, d.h. für den Beklagten positives Urteil (Ps 17,6-8.13-15; Ps 27,7; Ps 31,12-17; Ps 35,1-3; Ps 54,17-20; Ps 71,1-3), von Gelübden für den Fall eines Freispruchs (Ps 27,6; Ps 54,8), von günstigen Orakeln (Ps 91,14-16), von Jubel über einen günstigen Prozessausgang (Ps 54,9; Ps 56,14; Ps 57,10f; Ps 71,22-24; Ps 142,8).

Immer wieder klingt das Motiv einer nächtlichen Prüfung an, die „am Morgen“ endet: erwünschtermaßen mit einem Freispruch des Angeklagten (Ps 3,6; Ps 4,9; Ps 5,4; Ps 17,3.15; Ps 35,23; Ps 57,9; Ps 59,17); fanden demnach im Heiligtum des Nachts Inkubationsrituale (→ Inkubation) statt oder Orakel-Verfahren oder auch Trink-Ordale (→ Becher) à la Num 5? (Wenn Letzteres, dann hätte man dem Trank übrigens kaum, wie zuweilen erwogen, Gift beigemischt; denn erstens wäre dies äußerst riskant gewesen, und zweitens war die Qualität des Wassers damals derart, dass es, ungekocht genossen, ganz von selbst unliebsame Wirkungen hervorrufen konnte).

5. Spuren eines Ordals in den Prophetenschriften?

Enthält der Psalter keine klaren Zeugnisse oder Berichte über Ordale, sondern allenfalls Hinweise darauf, so betritt man in den prophetischen Schriften in dieser Hinsicht noch schwankenderen Boden. Im Grunde ist es nur ein einziges Motiv, das sich in dieser Richtung deuten lässt: der von Gott verabreichte „Zornesbecher“ (→ Becher). Er begegnet, in vielfältiger Abwandlung, in Jes 51,17-23; Jer 25,15-29; Jer 49,12; Jer 51,7.39; Ez 23,31-34; Ob 16; Hab 2,15f und Sach 12,2.

Man könnte in diesen Texten ein Trink-Ordal angesprochen sehen: Gott reicht Menschen – nie Einzelnen, immer Gruppen: sei es Israel oder seien es Feinde Israels – einen Becher, ähnlich wie nach Num 5 der Priester der beschuldigten Frau. Freilich ist jetzt die Grundsubstanz nicht Wasser, sondern Wein (vgl. Jer 25,15; Jer 51,7, auch Ps 75,9). Wer diesen Becher leert, leeren muss, erlebt Fürchterliches: von Erbrechen über Gleichgewichtsstörungen, Selbstentblößung und geistige Umnachtung bis hin zu physischer Vernichtung. Immer wieder wurde vermutet, dem Wein im „Zornesbecher“ sei Gift beigemischt gewesen, anders seien die heftigen Auswirkungen nicht zu erklären. Doch genügt es wohl, an eine Überdosis gewaltsam zugeführten Alkohols zu denken. Ein (noch relativ harmloses) Beispiel ist der Versuch Davids, den Offizier → Urija durch die Verabreichung von Alkohol gefügig zu machen (2Sam 11,13); Urija freilich widersteht dem vom König ausgeübten Druck.

Dem „Zornesbecher“ Gottes hingegen kann niemand widerstehen. Wer ihn gereicht bekommt, muss ihn austrinken und erlebt alsbald die katastrophalen Folgen. Allein dieser Sachverhalt spricht dagegen, dass im Hintergrund wirklich die Vorstellung eines Gottesurteils steht; denn dieses müsste ja auch positiv ausfallen können. Vielmehr hat man es im „Zornesbecher“ mit einer speziellen, aus der Erfahrung tyrannischer Machtausübung geborenen Ausprägung der prophetischen Gerichtserwartung zu tun: Diesen Trunk erhalten nicht Beschuldigte, damit ihre Schuld oder Unschuld zutage komme, sondern Verurteilte, damit ihre Schuld bestraft werde.

6. Schlussüberlegung

Auch wenn sich Ordal-Texte verstreut über den ganzen Kanon und auf allen Stufen der alttestamentlichen Literaturbildung finden, ist ihre Zahl doch überschaubar. Allem Anschein nach waren Gottesurteile in Altisrael eher die Ausnahme als die Regel, eher eine Randerscheinung als ein zentrales Element des → Rechtswesens. Wenn irgend möglich – und durchaus auch bei komplizierter Sachlage – entschied man Rechtsfälle mit üblichen rechtlichen Mitteln. Das zeigen paradigmatische Erzählungen wie die von → Salomos weisem Urteil (1Kön 3,16-28), von → Jeremias Rehabilitierung vor dem Königsgericht (Jer 26,7-19), von Noomis und → Ruts Auslösung durch Boas (Rut 4) oder von der Überführung der beiden Bösewichte, die es auf → Susanna abgesehen hatten (Dan 13,50-59 [LXX]). Noch aussagekräftiger ist der Umstand, dass in der gesamten alttestamentlichen Rechtsliteratur gerade nur zwei- oder dreimal Ordale in den Blick kommen. Offenbar sah man in der überwältigenden Mehrzahl aller Rechtsfälle keinen Anlass, Gottesurteile herbeizuführen. (Ähnliches gilt übrigens für die Kulturen in der Umwelt Israels.)

Gleichwohl, wenn Ordale überhaupt Platz haben in einer Rechtsordnung, kann diese nicht nur innerweltlich-rationalen Maximen verpflichtet sein. Tatsächlich beriefen sich im Alten Orient Gesetzgeber auf die Götter; im Alten Testament ist Gott selbst der Gesetzgeber. Von daher wohnt dem alttestamentlichen → Recht von Grund auf ein transzendenter, transrationaler Zug inne. Das wirkt befremdlich auf ein modern-aufgeklärtes Rechtsverständnis, dem nur innerweltlich-rationale Beweismittel als zulässig erscheinen. Wie aber, wenn diese nicht ausreichen oder nicht angemessen gewürdigt werden? Niemand wünscht sich dann Gottesurteile zurück. Doch hat es womöglich seinen Preis, wenn ein Rechtssystem gänzlich ohne Kategorien wie „Verantwortung vor Gott“ oder „Gottes Gerechtigkeit“ auskommt.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965 (Gottesurteil)
  • The Interpreter’s Dictionary of the Bible, Nashville / New York 1962 (Supp. 3. Aufl. 1982)
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007 (Gottesurteil)

2. Weitere Literatur

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  • de Ward, E.F., Superstition and Judgment: Archaic Methods of Finding a Verdict, ZAW 89 (1977), 1-19
  • Dietrich, Chr., Asyl. Vergleichende Untersuchung zu einer Rechtsinstitution im Alten Israel und seiner Umwelt (BWANT 182), Stuttgart 2008
  • Dietrich, W., Achans Diebstahl (Jos 7) – eine Kriminalgeschichte aus frühpersischer Zeit, in: „Sieben Augen auf einem Stein.“ Studien zur Literatur des Zweiten Tempels (FS Ina Willi-Plein), Neukirchen-Vluyn 2007, 57-67
  • Dietrich, W., Samuel (BKAT 8), Teilband 1 (1Sam 1-12), Neukirchen-Vluyn 2011; Teilband 2 (1Sam 13-26), Neukirchen-Vluyn 2015
  • Dubach, M., Trunkenheit im Alten Testament. Begrifflichkeit – Zeugnisse – Wertung (BWANT 184), Stuttgart 2009
  • Frymer-Kensky, T., The Judicial Ordeal in the Ancient Near East (University Microfilms), Ann Arbor, MI 1977
  • Frymer-Kensky, T., The Strange Case of the Suspected Sotah (Numbers V 11-31), VT 34 (1984), 11-26
  • Gunkel, H., Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels, Göttingen, 2. Aufl. 1966
  • Janowski, B., Rettungsgewissheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes „am Morgen“ im Alten Orient und im Alten Testament (WMANT 59), Neukirchen-Vluyn 1989
  • McCarter, P.K., The River Ordeal in Israelite Literature, HThR 66 (1973), 403-412
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  • Press, R., Das Ordal im Alten Testament, ZAW 51 (1933), 121-140
  • Schmidt, H., Das Gebet des Angeklagten im Alten Testament (BZAW 49), Berlin 1928
  • van der Toorn, K., Ordeal Procedures in the Psalms and the Passover Meal, VT 38 (1988), 427-445
  • Wagner, V., Profanität und Sakralisierung im Alten Testament (BZAW 351), Berlin 2005

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