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Sinuhe / Sinuhe-Erzählung

Andere Schreibweise: Sanehet (engl.); Sanehat (engl.)

(erstellt: Dezember 2008)

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1. Einleitung

Die Geschichte des Sinuhe ist sicherlich das bekannteste Literaturwerk aus dem pharaonischen Ägypten. Im Original titellos, ist die Geschichte sehr wahrscheinlich kurz nach dem Tod des ägyptischen Königs Sesostris I. im Mittleren Reich entstanden und hat die Memoiren des Namen gebenden Ich-Erzählers Sinuhe zum Gegenstand, die zu großen Teilen durch ein (un)freiwilliges Exil in Vorderasien bestimmt werden.

2. Textzeugen und Belegungszeitraum

Die Geschichte des Sinuhe ist auf zur Zeit 36 bekannten Textzeugen überliefert. Zusätzlich zu den in der Standardedition (Koch 1990) verzeichneten 32 Handschriften sind der Papyrus UC 32106C vso. (Collier / Quirke 2004), das Ostrakon BM 5632 vso. (Demarée 2002) sowie zwei unpublizierte Ostraka aus Berlin zu nennen (Parkinson 2009: 323-324). Acht Papyri und 28 Ostraka – beschriftete Kalkstein- oder Keramikscherben, die v.a. im Rahmen der ägyptischen Schreiberausbildung des Neuen Reiches angefertigt wurden und jeweils nur einzelne Passagen des Textes wiedergeben – belegen den Text vom Mittleren Reich bis in die späte Ramessidenzeit. Das älteste Manuskript (pBerlin 3022, Handschrift B) datiert in die Mitte der 12. Dynastie (eventuell Amenemhet III.) und damit wie fünf weitere Papyri ins Mittlere Reich, die übrigen Handschriften stammen aus dem Neuen Reich. Über diese ca. 750-jährige kulturinterne Manuskriptgeschichte hinaus hat die Geschichte des Sinuhe auch in der Neuzeit eine interessante Rezeptionsgeschichte und war Gegenstand einer Vielzahl moderner Adaptionen (Parkinson 2009).

3. Gattung

Obwohl gattungstypologisch im Rahmen einer typischen ägyptischen Grab-Autobiographie (einer sog. Idealbiographie) gehalten, handelt es sich um eine erkennbar fiktionale Erzählung. Nichtsdestoweniger sorgten autobiographischer Rahmen und Erzählperspektive lange Zeit für Spekulationen über den Wirklichkeitsstatus der erzählten Geschichte sowie für Debatten um die Möglichkeit der realen Autorschaft eines historischen Sinuhe, sodass in diesem Zusammenhang sogar auf die Entdeckung eines autobiographischen Urtextes in einem Grab der Residenznekropole der 12. Dynastie bei Lischt gehofft wurde, der als historiographische Basis für die vorliegenden literarischen Versionen gedient haben soll (Posener 1956). Tatsächlich ist die Geschichte des Sinuhe in der für ägyptische literarische Texte üblichen Form ausschließlich auf Papyri und Ostraka erhalten und ihr Verhältnis zu der in ihr verarbeiteten Realgeschichte bei weitem komplexer als eine einfache Urtext-Folgetext-Beziehung (Moers 2001).

4. Inhalt

Der Ich-Erzähler Sinuhe, in der fiktiven Textwelt Beamter aus dem engeren Umfeld des ersten Königs der 12. Dynastie Amenemhet I., entfernt sich bei der Nachricht vom wahrscheinlich unnatürlichen Tod des Königs unerlaubt von seiner auf einem Feldzug in Libyen befindlichen Expeditionstruppe und flieht, getrieben von grundloser Panik, quer durch Ägypten und über den Sinai weiter bis nach Vorderasien. Seine ebenso unmotivierte wie unlizensierte Flucht, gleichbedeutend mit einem Bruch mit sämtlichen kulturellen Werten des pharaonischen Ägypten, führt ihn schließlich in den Bereich der syro-palästinischen Stadtstaaten (Morenz 1997; Barta 2003), nur um in diesem Exil eine quasiägyptische Idealkarriere zu durchlaufen. Den Identitätswandel, den Sinuhe im Augenblick seines Grenzübertritts in die Gegenkultur durchläuft, vermittelt der Text in Form von Bildern ohnmachtsähnlicher körperlicher Auflösungserscheinungen und Todesmetaphern. Sinuhe lässt mit dem Ausspruch „Dies ist der Geschmack des Todes“ (B 23) alle Hoffnung auf seine Rettung vor dem Verdursten in den Wüsten des Sinai fahren, bevor er von Beduinen gefunden und gesund gepflegt wird. Es folgt eine beispiellose Geschichte persönlichen Erfolgs in der Fremde, die dem Helden selbst mehrfach wie der „Traum“ eines Dislozierten erscheint (B 224-225). Sinuhe wird zum Stammesfürsten gemacht, heiratet die Tochter des Regionalherrschers, wird Vater von Kindern, die ihrerseits zu Stammesfürsten werden, und besiegt auf dem Höhepunkt seiner individuellen Erfolgsgeschichte im Ausland einen lokalen Helden in einem ihm aus Prestigegründen aufgezwungenen Zweikampf. Im Augenblick dieses größten Triumphes wird Sinuhe von unendlichem Heimweh übermannt, dem er in einem langen Gebet Ausdruck verleiht. Er wird prompt erhört: Sesostris I., der Nachfolger des verstorbenen Königs, fordert Sinuhe in einem Brief zur Rückkehr auf und erneut lässt dieser ohne ein Zögern sein Leben, seine Frau und seine Kinder hinter sich und kehrt nach Ägypten zurück. Wieder wird der Grenzübertritt in Bilder todesähnlicher körperlicher Ohnmacht als Voraussetzung für die kulturelle Wiedergeburt des Helden im Angesicht seines neuen Königs gefasst (B 253-256), der bei Hofe der einzige ist, der Sinuhe, „der als Asiat zurückgekehrt ist, als ein Geschöpf der Beduinen“ (B 264-265), auch vor dessen äußerlicher Rückverwandlung erkennt, die minutiös beschrieben wird. Stück um Stück werden die Spuren von Sinuhes traumähnlichen Exil nun auch äußerlich getilgt, er wird neu eingekleidet, rasiert, mit ägyptischen Essenzen gesalbt und schließlich wird der noch an ihm haftende „Sand denjenigen zurückgegeben, die in ihm leben“ (B 294-295). Die Geschichte endet, in den ideal-autobiographischen Rahmen zurückkehrend, mit der Beschreibung der Herrichtung eines Grabes für den Helden sowie mit der Bestattung Sinuhes. Trotz seiner Rückkehr jedoch und trotz der zyklischen Struktur der Narration und der deutlich an den Werthorizonten ägyptischer Prätexte orientierten Lebensweise Sinuhes im Exil handelt es sich bei diesem „in Ägypten geborenen Asiaten“ (B 276) wohl um den ersten Helden in der Geschichte der Weltliteratur mit hybrider kultureller Identität.

5. Interpretationen

Besonders vor dem Hintergrund der Auffassung des Textes als Autobiographie mit quaishistoriographischem Status wurde die Geschichte lange Zeit als politische Propaganda interpretiert, welche als exemplarische Amnestieschrift für den neuen König Sesostris I. werben sollte. Voraussetzung dieser Interpretation sind Versuche, die Geschichte des Sinuhe durch andere literarische Texte (Lehre des Amenemhet) zu kontextualisieren, in denen ein gewaltsamer Tod Amenemhets I. beschrieben wird. Dies wiederum habe trotz der Koregentschaft des Sohnes mit seinem Vater zu Turbulenzen in der Thronfolge geführt, nach deren Beilegung der neue König Sesostris I. u.a. durch Texte wie die Geschichte des Sinuhe versucht, verbliebene oppositionelle Strömungen im Lande zu unterminieren (Posener 1956).

Neuere Interpretationen des Textes betonen demgegenüber seinen fiktionalen Status und vor allem seine kulturelle Funktion, durch die Erschaffung möglicher oder gar alternativer Welten zur Identitätssicherheit seiner Träger- und Rezipientenschicht beizutragen (Moers 2001; Parkinson 2002).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992

2. Texteditionen

  • Collier, M. / Quirke, St. (Hg.), 2004, The UCL Lahun Papyri: Religious, Literary, Legal, Mathematical and Medical (BAR International Series 1209), Oxford, 36-37
  • Demarée, R.J., 2002, Ramesside Ostraca, London, 17, pl. 22
  • Koch, R. 1990, Die Erzählung des Sinuhe (Bibliotheca Aegyptiaca XVII), Bruxelles
  • Transliteration des Textes

3. Übersetzungen

  • Blumenthal, E., 1995, Die Erzählung des Sinuhe, in: O. Kaiser (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments III/5, Gütersloh, 894-911
  • Parkinson, R.B., 1997, The Tale of Sinuhe and other Ancient Egyptian Poems 1940-1640 BC. Translated with Introduction and Notes, Oxford, 21-53

4. Weitere Literatur

  • Bárta, M., 2003, Sinuhe, the Bible, and the Patriarchs, Praha
  • Moers, G., 2001, Fingierte Welten in der ägyptischen Literatur des 2. Jahrtausends v. Chr. Grenzüberschreitung, Reisemotiv und Fiktionalität (Probleme der Ägyptologie 19), Leiden / Boston / Köln
  • Morenz, L.D., 1997, Kanaanäisches Lokalkolorit in der Sinuhe-Erzählung und die Vereinfachung des Urtextes, Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 113, 1-18
  • Parkinson, R.B., 2002, Poetry and Culture in Middle Kingdom Egypt. A Dark Side to Perfection (Athlone Publications in Egyptology and Ancient Near Eastern Studies), London / New York
  • Parkinson, R.B., 2009, Reading Ancient Egyptian Poetry: Among other Histories, New York / Oxford
  • Posener, G., 1956, Littérature et politique dans l’Égypte de la XIIe Dynastie (Bibliothèque de l'école des hautes études: Sect. des sciences hist. et philol. 307), Paris
  • Bibliographie (bis 2005)
  • Bibliographie (bis 1997)
  • Quellen, Transliteration, engl. Übersetzung und Bibliographie

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