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Sem / Semiten

(erstellt: November 2009)

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1. Der Name Sem und der Begriff „semitisch“

1.1. Die Figur Sems in der Bibel

Sem Semiten 1
Sem (hebräisch שֵׁם šem; griechisch Σημ sēm, möglicherweise zur lautlich nicht ganz sicheren Grundform *šim, *šum oder *šm „Name / Ansehen“; vgl. Hess, 29-30; anders Noth, 123 Anm. 5) war neben → Ham und → Jafet einer der drei Söhne → Noahs, die mit ihren Frauen in der Arche überlebten und von denen laut Gen 9,19 die nachsintflutliche Menschheit abstammt. Da er in Aufzählungen stets an erster Stelle begegnet (Gen 5,32; Gen 6,10; Gen 7,13; Gen 9,18; Gen 10,1; 1Chr 1,4), gilt er meist als der Erstgeborene. Seine Linie steht unter dem Segen Noahs (Gen 9,26, wo ausdrücklich Israel gemeint sein dürfte; Westermann, 659), weil er ohne hinzusehen die Blöße seines betrunkenen Vaters bedeckte, und führt in der biblischen Genealogie zu → Abraham hin (Gen 11,10-26). Damit gehört Sem auch zu den Ahnen Jesu (Lk 3,36). Mutmaßungen über eine mögliche historische Grundlage dieser Figur, z.B. eine bestimmte Gruppe oder ein militärischer Anführer aus der Frühzeit Israels, wurden verschiedentlich geäußert, bleiben aber willkürlich.

1.2. Rezeptionsgeschichte

Einige Verweise auf die Aufteilung der Erde unter den Söhnen Noahs datieren bereits aus der zwischentestamentlichen Zeit: das → Genesis-Apokryphon aus Qumran (1Q20 XVI,14; XVII,7; → Qumran-Texte) erzählt den Bibeltext nach, wohl ähnlich dem → Jubiläenbuch (van Ruiten, 332-337); der Kontext eines weiteren Belegs aus den „Worten Michaels“ (4Q529,7), einem vorgeschichtlichen Gespräch zweier Erzengel, ist unklar. Rabbinische Traditionen (Ginzberg, I, 145-181; V, 167-206; Lewis, 152-155; Rottzoll, 132-133; 186-194) kennen Sem als Priester und Gründer des ersten Lehrhauses, der bereits beschnitten geboren wurde. Zumeist entspricht er dem Typos des weisesten jüngsten Sohnes. Er wurde zuweilen mit dem Priesterkönig → Melchisedek identifiziert, was auch den Kirchenvätern bekannt war (Ginzberg, V, 225-226). Auf dem Fußbodenmosaik der Synagoge von Jerasch, dem antiken Gerasa, sind als Teil einer Darstellung der Sintflut noch die Köpfe Sems und Jafets mit griechischen Beischriften erhalten (erste Hälfte des 5. Jh.s v. Chr.; Sukenik, 35-37 und Tafel IX). Für die Kommentatoren der Alten Kirche und des Mittelalters war Sem vor allem ein vorbildlicher Sohn und der Stammvater der Völker Asiens, während die Afrikas auf Ham zurückgingen und die Nachkommen Jafets Europa bewohnten (vgl. Lewis, 114-120). Augustinus sah in Sem einen Typos sowohl Christi als der Judenchristen (Lewis, 179). Laut islamischer Überlieferung, in der er unter dem Namen Sām begegnet, gilt er als Vorfahre der Araber, Perser und Byzantiner, soll den Brunnen gegraben haben, in den Josef geworfen wurde, und zählt zu den vier Menschen, die Jesus vom Tod erweckt habe. In der jüdischen, christlichen und islamischen Rezeption wird seine Bedeutung als eines gemeinsamen Ahnen aber von der Abrahams überschattet.

1.3. „Semitisch“ als linguistischer Begriff

Sem 02

Der Begriff „semitisch“ für eine Gruppe von Sprachen, die untereinander starke und teils schon von Kirchenvätern und mittelalterlichen jüdischen Grammatikern erkannte Übereinstimmungen aufweisen, erscheint zuerst 1781 in einem Aufsatz August Ludwig Schlözers. Seine schnelle Verbreitung verdankt er allerdings Johann Gottfried Eichhorn (dazu ausführlich Baasten). Ursprünglich für die nach Schlözer einst gemeinsame Sprache der laut Gen 10,21-31 von Sem abstammenden Assyrer, Aramäer sowie Hebräer gebraucht und in einem ethnologischen Sinn schon vorher belegt, wurde er mit dem Aufschwung der genealogischen Sprachwissenschaft im 19. Jh. und dem bedeutenden Zuwachs an Primärmaterial schärfer definiert (siehe Gzella). Im Licht der historisch-vergleichenden Methode umfasst er nun auch Sprachen, die Gen 10,6-20 mit den Nachkommen Hams verbindet (Babylonisch, Kanaanäisch einschließlich der Dialekte der phönizischen Stadtstaaten) oder die in der ohnehin widersprüchlichen → Völkertafel gar nicht genannt werden (Ugaritisch), und schließt die anderer Söhne Sems (Lydisch, Elamisch) aus.

Als Folge einer weiteren Ausdifferenzierung der linguistischen Forschung gemäß ihrem geschichtlichen Ursprung nach voneinander abzugrenzenden Sprachfamilien haben sich die älteren, impressionistischen Konzepte „orientalische“ oder „morgenländische“ Sprachen, die ja regelmäßig auch nicht-semitische Sprachen wie das Persische und Türkische mit einbezogen, bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s weitgehend aufgelöst. Dagegen behauptet sich „semitisch“ als praktischer Kunstname nach wie vor unbestritten; Alternativen wie Hommels geographisch begründeter Begriff „(as)syro-arabische Sprachen“ oder Stades sprachtypologischer Term „Triliteralsprachen“ (Hommel, 59-60, Anm. 7) konnten sich nicht durchsetzen. Trotzdem besteht über die genaue Einteilung der semitischen Sprachen noch immer kein Konsens, da die relevanten Merkmale sehr unterschiedlich interpretiert werden können (zur Forschungsgeschichte und gegenwärtigen Mehrheitsmeinung siehe Huehnergard; anders z.B. Lipiński, 59-74).

1.4. „Semitisch“ als ethnischer Begriff

Völkerphysiognomische Spekulationen wie die Ernest Renans, die den Sprechern semitischer Sprachen gemeinsame anthropologische oder kulturelle Wesenszüge zuschreiben, z.B. die Neigung zum Monotheismus bei wenig ausgeprägter Begabung für Wissenschaft und Philosophie (vgl. Hommel, 20-46), waren in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s verbreitet, spielen aber in der heutigen Forschung keine Rolle mehr. Das gilt auch für apologetische (Chwolson) und gemäßigte (Nöldeke, 1892, 1-20; Levi della Vida, 1924, 10-42) Darstellungen. Zudem ist die Hypothese eines „semitischen Menschentyps“ durch die Rassentheorien des 19. und 20. Jh.s, die „semitisch“ oft mit „jüdisch“ gleichsetzten, in Misskredit geraten. Gleichwohl sind noch bis vor einigen Jahrzehnten mitunter Versuche unternommen worden, Gemeinsamkeiten auf religiösem oder gesellschaftlichem Gebiet aufgrund einer ethnischen Einheit herauszuarbeiten (Moscati, 15-43). Semitische Idiome wurden aber im Laufe ihrer langen Überlieferung von Gruppen verschiedenster Provenienz als Kultur- oder Umgangssprachen übernommen, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass manche scheinbaren Merkmale wohl in erster Linie von den Lebensverhältnissen herrühren (Nöldeke, 1899, 7-8; vgl. Levi della Vida, 1938, 71-107). Solche Unsicherheiten haben bewirkt, dass die Bezeichnung „semitisch“ inzwischen beinahe nur noch im linguistischen Sinn gebraucht wird.

2. Das Problem der Urheimat der „Semiten“

Eine gemeinsame Urheimat der verschiedenen Sprechergruppen semitischer Sprachen wird heute vorwiegend in Nordafrika vermutet (Lipiński, 42-48; siehe auch Fleisch, 22-30). Das lässt sich zwar nicht schlüssig beweisen, aber die Verwandtschaft des Semitischen mit dem Ägyptischen, Berberischen, Kuschitischen und Tschadischen, wie sie sich vor allem in den Pronomina und einigen Verbalformen zeigt, legt einen engen Kontakt dieser „afroasiatischen“ (früher: „hamitischen“) Sprachen in vorhistorischer Zeit durchaus nahe. Allerdings muss unterschieden werden zwischen der ursprünglichen Heimat und dem Ausstrahlungszentrum. Ebenso wenig können über die reine Verwandtschaft ihrer Sprachen hinaus konkrete ethnische Zusammenhänge zwischen den einzelnen Völkern ermittelt oder ihre frühen Wanderungsbewegungen genau verfolgt werden. Die unvollkommenen Schriftsysteme, mannigfache Berührungspunkte vieler Sprechergruppen untereinander und die nicht zuletzt daraus resultierende Ähnlichkeit der meisten altsemitischen Idiome erschweren es zudem, auf der Grundlage sicher ererbter – also nicht entlehnter – Wörter Einzelheiten einer ursemitischen materiellen Kultur und Lebenswelt zu bestimmen. Man nimmt immerhin an, dass semitische Völker vor ihrer Sesshaftwerdung als halbnomadische Kleinviehzüchter in patriarchalisch organisierten Clans lebten und zunächst hauptsächlich Esel als Trag- sowie Reittiere verwendeten, vielleicht auch schon einen einfachen Ackerbau kannten (Henninger). Damit ist freilich die Grenze zur Spekulation fast schon überschritten.

3. Die Ausbreitung semitischsprachiger Gruppen

Nach etwa 3000 v. Chr. erscheinen unterschiedliche semitischsprachige Kulturen, wenigstens zum Teil in engem Kontakt mit ansässigen Bevölkerungsgruppen, in verschiedenen Teilen des Fruchtbaren Halbmondes auf der Bühne der Geschichte: zuerst in Mesopotamien (Aufstieg der Akkader und Entstehung des Großreiches von → Akkade) und Nordsyrien (→ Ebla), dann in Syrien-Palästina (Erblühen einzelner Stadtstaaten in der → Bronzezeit und erste konkrete Anzeichen für einen eigenen „nordwestsemitischen“ Sprachzweig) und im südlichen Teil der arabischen Halbinsel (Entfaltung der altsüdarabischen Königtümer, erste Inschriften wohl ab dem 8. Jh. v. Chr.). Unklar bleibt, ob dies auf periodische „Wellen“ semitischer Einwanderer aus Randgebieten der arabischen Halbinsel zurückzuführen ist, wie in der älteren Forschung oft behauptet wurde (so noch Kienast, 13-16), oder andere sozioökonomische Ursachen hat. Mit dem Achämenidenreich (→ Persien), das einen babylonischen Dialekt des Aramäischen zur Kanzleisprache erhoben hatte, sowie durch phönizische Koloniegründungen und altsüdarabische Auswanderer breiteten sich daraufhin manche semitischen Sprachen nach Zentralasien, entlang der Mittelmeerküste bis zum Atlantik und an der Küste sowie im Hochland Äthiopiens aus. Als Folge der islamischen Eroberungen wurden schließlich Ägypten und der größte Teil Nordafrikas arabisch. Daneben muss es seit alter Zeit zahlreiche andere semitischsprachige Gruppen gegeben haben, die jedoch keine bis heute überdauernden schriftlichen Zeugnisse hinterlassen haben und daher, von Personennamen einmal abgesehen, nun praktisch ungreifbar sind.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Encyclopaedia of Islam, 2. Aufl., Leiden 1960-2007
  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
  • Der Kleine Pauly, Stuttgart 1964-1975 (Taschenbuchausgabe, München 1979)
  • Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
  • Der Neue Pauly, Stuttgart / Weimar 1996-2003
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2005
  • Eerdmans Dictionary of the Bible, Grand Rapids 2000
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Weitere Literatur

  • Baasten, M.F.J., 2003, A Note on the History of „Semitic“, in: ders. und W.Th. van Peursen (Hgg.), Hamlet on a Hill: Semitic and Greek Studies (FS T. Muraoka), Leuven, 57-72
  • Brockelmann, C., 1908-1913, Grundriß der vergleichenden Grammatik der semitischen Sprachen, 2 Bände, Berlin
  • Chwolson, D., 1872, Die semitischen Völker: Versuch einer Charakteristik, Berlin
  • Fleisch, H., 1947, Introduction à l’étude des languages sémitiques, Paris
  • Ginzberg, L., 1909-1938, The Legends of the Jews, 7 Bände, Philadelphia
  • Gzella, H., 2010, Expansion of the Linguistic Context of the Hebrew Bible / Old Testament: Hebrew Among the Languages of the Ancient Near East, erscheint in: M. Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament: The History of its Interpretation, Band III: From Modernism to Post-Modernism: The Nineteenth and Twentieth Centuries, Göttingen
  • Henninger, J., 1968, Über Lebensraum und Lebensform der Frühsemiten, Köln / Opladen
  • Hess, R.S., 1993, Studies in the Personal Names of Genesis 1-11, Neukirchen-Vluyn (Nachdruck Winona Lake, 2009)
  • Hommel, F., 1881, Die Semiten und ihre Bedeutung für die Kulturgeschichte, Leipzig
  • Huehnergard, J., 2005, Features of Central Semitic, in: A. Gianto (Hg.), Biblical and Oriental Essays in Memory of William L. Moran, Rom, 155-203
  • Kienast, B., 2001, Historische Semitische Sprachwissenschaft, Wiesbaden
  • Levi della Vida, G., 1924, Storia e religione nell’oriente semitico, Rom
  • Levi della Vida, G., 1938, Les Sémites et leur rôle dans l’histoire religieuse, Paris
  • Lewis, J.P., 1968, A Study of the Interpretation of Noah and the Flood in Jewish and Christian Literature, Leiden
  • Lipiński, E., 2001, Semitic Languages: Outline of a Comparative Grammar, 2. Aufl., Leuven
  • Moscati, S., 1959, The Semites in Ancient History: An Inquiry into the Settlement of the Beduin and their Political Establishment, Cardiff
  • Nöldeke, Th., 1892, Orientalische Skizzen, Berlin
  • Nöldeke, Th., 1899, Die semitischen Sprachen. Eine Skizze, 2. Aufl., Leipzig
  • Noth, M., 1928, Die israelitischen Personennamen im Rahmen der gemeinsemitischen Namengebung, Stuttgart
  • Rottzoll, D.U., 1994, Rabbinischer Kommentar zum Buch Genesis, Berlin / New York
  • Ruiten, J.T.A.G.M. van, 2000, Primaeval History Interpreted: The Rewriting of Genesis 1-11 in the Book of Jubilees, Leiden
  • Sukenik, E.L., 1934, Ancient Synagogues in Palestine and Greece, London
  • Westermann, C., 1966-1982, Genesis (BK I), Neukirchen-Vluyn

Abbildungsverzeichnis

  • Sem bedeckt Noahs Scham (Rathaus in Leuven; 14. Jh.). © public domain (Foto: Klaus Koenen, 2008)
  • Karte zur sog. Völkertafel (Gen 10), die die Völker der damaligen Welt auf Sem, Ham und Jafet zurückführt. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

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