die-Bibel.de

(erstellt: Juni 2008)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/27148/

1. Schlangenarten in Palästina

In Palästina leben ca. 36 meist ungiftige Schlangenarten. Zu den Giftschlangen gehören die Arabische Sandrasselotter (echis coloratus; → Otter / Viper), die Wüsten-Hornviper (cerastes cerastes; → Otter / Viper), die Persische Trughornviper (pseudocerastes persicus fieldi; → Otter / Viper), eine weitere Hornvipernart (cerastes hasselquistii; → Otter / Viper), die ägyptische Wüstenkobra (naha haia / cerastes candidus; → Kobra / Natter), die Palästinaviper (vipera palaestinae; → Otter / Viper), eine Erdotternart (atractaspis engaddensis) sowie die Avicennaviper (cerastes vipera; vgl. Keel / Küchler, 1984, 163-166; Riede, 2000, 231f.).

2. Schlangensymbolik

Schlangen verfügen im Alten Orient und in Ägypten über ein weites Bedeutungsspektrum. Sie können einerseits Feinde, andererseits Schutzmächte repräsentieren, als Symboltiere für Göttinnen und Götter verwendet werden, stehen gleichzeitig für Weisheit und Leben, Fruchtbarkeit und Regeneration oder für Tod und Sterben.

2.1. Symbol von Macht

Schlange 01

Ihre Giftigkeit macht die Schlange zu einem Symbol der Macht und damit auch zu einem Wesen, dem apotropäischer Schutz zugetraut wird. Das zeigt sich insbesondere in den vielfältigen Schlangenabbildungen auf Kronen, Türgriffen, Gefäßen und Kudurrus (mesopotamische Grenzsteine).

Die auf Kudurrus abgebildete Schlange ist zuweilen gehörnt. Ob die ungehörnte Schlange immer Symbol des Gottes Nirach, die gehörnte hingegen ausschließlich Symbol des Gottes Ningischzida, dem Schutzgott des Herrschers Gudea und der Grenze zu Elam, darstellt, ist unsicher.

Schlange 02

Als ein Symboltier der vernichtenden und gleichzeitig schützenden Macht des Pharaos gilt auch der (zwei- oder vierflügelige) → Uräus, der sich häufig auf palästinischen Stempelsiegeln findet.

2.2. Symbol von Tod und Unheil

Wegen ihrer erdnahen, chthonischen Lebensweise werden der Schlange negative numinose Kräfte zugeschrieben. Die Schlange kann Tod und Böses repräsentieren. Auch der ikonographische und literarische Topos des Helden, der die Schlange tötet, gehört in diesen Motivkreis.

Das Motiv des Heldenkampfes verbindet kanaanäische, ägyptische und auch mesopotamische Vorstellungen. In Ägypten gilt die Schlange als Symbol des Nichts und der nächtlichen Todesgefahr, die den Lauf der Sonne bedroht, und bekämpft werden muss. Die Apophisschlange repräsentiert die Gegnerin des Sonnengottes, die von diesem jeden Tag zerstört, aber nie endgültig getötet wird.

Schlange 03

Das ägyptische → Totenbuch weiß davon zu berichten, dass Schlangen die Zwölf Tore der Unterwelt bewachen oder dass Tote in der Unterwelt zu Schlangen werden (in Mesopotamien werden sie hingegen zu Vögeln). Die Feinde der Toten haben ebenfalls die Form von Schlangen und können wie diese durch Beschwörungen unwirksam gemacht werden (→ Jenseitsvorstellungen in Ägypten).

Schlange 04

Sowohl in Ugarit als auch in Ägypten finden sich Darstellungen des Gottes → Baal-Seth, der die (gehörnte) Chaosschlange überwindet. Auch in Vorderasien repräsentiert die Schlange das Chaoswasser und die Gefährdung der Vegetation und Fruchtbarkeit. Altsyrische Rollsiegel zeigen den Wettergott im Kampf gegen die Schlange. Auch in neuassyrischer Zeit ist dieses Motiv in Mesopotamien weit verbreitet.

Schlange 05

Eine gehörnte Giftschlange ist auch das Symboltier des mesopotamischen Unterweltgottes Ningischzida, des „Herrn des Lebens“, der die Unterweltgötter bewacht oder im Adapa-Mythos die Himmelstore.

Von der Suche nach der richtigen Beschwörung gegen Schlangenbisse erzählt der ugaritische Beschwörungs-Text KTU 1.100 (vgl. KTU 1.107). Nach ihm muss die Göttin Schapschu als Botin durch fast die gesamte damals bekannte Welt reisen, um eine Beschwörung gegen Schlangebisse an die großen Göttinnen und Götter weiterzutragen.

Daemonen 2

Die besonders für Säuglinge und Frauen im Kindbett gefährliche Lamaschtu verbindet in ihrer Mischgestalt Elemente von Skorpion, Hund und Schlange mit einer aufrecht gehenden Löwengestalt: Ein in der südlichen Schefela gefundenes Amulettfragment, bei dem es sich wohl um ein Importstück aus Mesopotamien handelt, zeigt eine wohl ein Schwein und einen Hund säugende Lamaschtu, die als „Herrin der Schlangen“ auf einem liegenden Tier steht.

Von einer archteypischen natürlichen Abneigung des Menschen gegen Kriechtiere (Hedinger, 354; vgl. Riede, 2000, 234f.) sollte man im Zusammenhang mit der Schlange trotz ihrer negativen Konnotationen jedoch nicht reden, denn sie verfügt im Alten Orient auch über vielfältige positive Aspekte.

2.3. Symbol von Weisheit und ewigem Leben

Wegen ihrer Häutung gilt die Schlange als Symbol der Regeneration und der Unsterblichkeit. Im mesopotamischen → Gilgamensch-Epos (XI 279-289) ist es eine Schlage, die dem Helden das Kraut des ewigen Lebens stiehlt, das dieser auf seiner langen Suche nach Unsterblichkeit endlich gefunden hat. Auch im Alten Testament gilt die Schlange als das klügste unter allen Tieren (Gen 3,1).

Nach ägyptischer Vorstellung lebt das Ba der Götter in Schlangen, die daher ebenfalls als besonders weise gelten. Auch die Zeit kann als Schlange dargestellt werden. Die Urgötter werden als Schlangen im Urgewässer vorgestellt und der Kreis schließt sich, wenn am Ende der Zeit Atum und Osiris als Schlangen im ewigen Wasser erscheinen. Der Sonnengott erscheint im Morgengrauen als Schlange. Eine wichtige Rolle besitzt die Kobra in Ägypten als Determinativ der Göttin. Die Schutzgöttinnen Meretseger und Renenutet, Letztere auch eine Fruchtbarkeitsgottheit, die wohl als Garantin der kosmischen Ordnung angesehen wurde, welche wiederum mit der Weisheitsgöttin Maat und der Königin-Konzeption in Beziehung stehen, können auch selbst als Schlangen dargestellt werden.

2.4. Symbol von Vitalität und Lebenskraft

Schlange 07

Aufgrund ihrer phallischen Form kann die Schlange Lebenskraft, Vitalität und Heilungskraft symbolisieren. Schon in altsyrischer Zeit wird der Falkenköpfige, der wohl eine Kombination aus dem ägyptischen → Horus und dem asiatischem → Wettergott darstellt, mit dem Regenerationssymbol der Lotusblüte und zuweilen ebenfalls mit der Schlange versehen. Auch im Bildtypos der Qudschu (→ Göttin) können die die Göttin rahmenden Capriden (→ Ziege) durch die – ebenfalls schwarze – Schlange ersetzt werden. Die Verbindung von Schlange und Ziege ist alt. Ihre Austauschbarkeit zeigt sich bereits in der Ikonographie des Ziegengottes der Urukzeit. Sowohl der Schlange als auch der Ziege wird „aggressive Lebendigkeit“, „Lebenskraft“ sowie „Heilkraft“ zugeschrieben.

Schlange 08

Weit verbreitet ist das Motiv der Schlange am Lebensbaum in Syrien-Palästina. Die Darstellungen gehören wohl ebenfalls in den Zusammenhang mit der Göttin und symbolisieren den Schutz von Leben und Fruchtbarkeit.

Schlange 09

Möglicherweise stehen auch die Kultständer (→ Kultgeräte) mit Schlangen- und Taubenappliken (→ Taube) im Zusammenhang mit der Göttin. Doch ist die genaue Verwendung der Kultständer und damit auch die Symbolik unklar.

Schlange 10

Die Schutzfigur des ägyptischen → Bes, der auch in Syrien-Palästina weit verbreitet ist, wird häufig im Zusammenhang mit Schlangen oder als „Herr der Schlangen“ dargestellt. Als „Herr der Schlangen“ scheint Acha / Bes nicht nur gegen Schlangenbisse zu schützen, sondern vor allem seine Funktion als Schutzgott der Schwangeren und Gebärenden wahrzunehmen. Das wird deutlich auf zwei ägyptischen Zaubermessern aus Gaza (um 1750) und Megiddo (um 1900), auf denen Acha / Bes neben der Schutzgöttin der Schwangeren Thoëris steht und in jeder Hand eine Schlange hält. Ein Stempelsiegel aus Akko zeigt die Verbindung von Schlangen, Bes und Thoëris, die hier wiederum selbst Messer in der Hand hält, ebenfalls eindrücklich.

Ab der 18. Dynastie wird Bes vom Rettergott šd abgelöst, dargestellt als Knabe mit Prinzenlocke. Er kann über → Krokodile schreiten und Schlangen, → Skorpione, → Löwen und andere gefährliche Tiere in den Armen halten (vgl. Keel, 1992, 222f.).

Schlange 11

Die Schlange kann wohl auch mit Wasser identifiziert werden, wie dies vielleicht auf nordsyrischen Siegeln geschieht, auf denen der sechslockige (nackte) Held mit bloßer Hand die Schlange bändigt und so seine Herrschaft über das Wasser symbolisiert.

3. Schlange im Alten Testament

Im Alten Testament kommen neben dem Gattungsbegriff נָחָשׁ nāchāš „Schlange“ folgende Schlangenbezeichnungen vor:

  • אֶפְעֶה ’æf‘æh (Arabische Sandrasselotter [echis coloratus]; → Otter / Viper)
  • עַכְשׁוּב ‘akhšûv (Wüsten-Hornviper [cerastes cerastes] [?] / Persische Trughornviper [pseudocerastes persicus fieldi] [?]; → Otter / Viper)
  • שְׁפִיפוֹן šəfîfon (Hornviper [cerastes hasselquistii]; → Otter / Viper)
  • צֶפַע ṣæfa‘ / צִפְעוֹנִי ṣif’ônî (Palästinaviper [vipera palaestinae]; → Otter / Viper)
  • פֶּתֶן pætæn (ägyptische Wüstenkobra [naha haia / cerastes candidus]; → Kobra / Natter)
  • קִפּוֹז qippôz (coluber jugularis; → Kobra / Natter)
  • שָׂרָף śārāf (Uräusschlange; → Serafim).

ṣæfa‘

ṣif‘ônî

šəfîfôn

’æf‘æh

3.1. Schlange allgemein (נָחָשׁ)

3.1.1. Begriff

Der Begriff נָחָשׁ nāḥāš „Schlange“ wird wegen der glänzenden Schlangenhaut etymologisch zuweilen (über das ägyptische nḥsj „Nubier / Dunkelhäutiger“; „dunkelfarbig“; Görg, 2003, 31-33) mit dem Begriff nəḥošæt „Kupfer / Bronze“ in Verbindung gebracht. Vermutlich handelt es sich aber eher um ein Primärnomen (vgl. ugaritisch nḥš [KTU 1.100; 1.107]; arabisch ḥanaš), das onomatopoetisch das Zischen der Schlange aufnimmt. Die Begriffe נחשׁ nḥš pi. „wahrsagen / zaubern“ bzw. נַחַשׁ naḥaš „Divination / Wahrsagekunst / Glück“ (in Personennamen) stellen wohl Denominative von נָחָשׁ nāḥāš „Schlange“ dar (vgl. Gen 30,27; Gen 44,5; Lev 19,26; Num 23,23; Dtn 18,10; 1Kön 20,33; 2Kön 17,17; 2Kön 21,6; Jer 8,17; Ps 58,5f.; Pred 10,11). Die → Septuaginta übersetzt den Begriff mit der Wurzel oι̉ωνίζομαι oiōnizomai „Vorzeichen befragen“ (auch: „Vogelschau“; → Divination).

Nachasch „Schlange“ ist als Personenname eines Ammoniterkönigs (1Sam 11,1f; 1Sam 12,12; 2Sam 10,2; 2Sam 17,25.27; par. 1Chr 19,1f.) und als Ortsname (1Chr 4,12) belegt.

Das Worte זוֹחֶל zoḥæl, das von dem Verb זחל zḥl abgleitet ist, stellt keine spezifische Schlangenbezeichnung dar, sondern bezieht sich auf das Gleiten der im Staub kriechenden Schlange. In 1Kön 1,9 bezeichnet זוֹחֶלֶת zoḥælæt eine Lokalität bei Jerusalem („Schlangenstein“). Dtn 32,24 zählt neben Krankheiten und den Schrecken des Krieges auch wilde Tiere und das Gift von im Staub kriechenden Tieren (זוֹחֲלֵי עָפָר zoḥǎlê ‘āfār; vgl. Mi 7,17; Gen 3,14) auf. Sie werden von Jahwe zur Bestrafung von Untreue instrumentalisiert.

3.1.2. Lebensweise

Davon, dass Schlangen sich häufig in Mauerritzen verbergen und von dort aus, wenn sie gestört werden, tödlich zubeißen, weiß Pred 10,8. Auch Am 5,19 berichtet von der unerwarteten und tödlichen Gefahr, die von in Mauern versteckten Giftschlangen ausgeht. Das Kriechen der Schlange über Felsen wird in Spr 30,19 neben dem Fliegen des Adlers und dem Schwimmen des Schiffes auf dem Meer als Bild für die undurchschaubaren Wege der Liebe genannt. Jer 46,22 nimmt auf das Geräusch Bezug, das die Schlange verursacht, wenn sie flieht.

Schlange 12
Die Paradieserzählung (Gen 2-3) bietet u.a. eine Ätiologie für die Lebensweise der Schlange: Sie lebt in Feindschaft zum Menschen und kriecht am Boden (Gen 3,14f). Dass die Schlange erst kriecht, nachdem Gott sie verflucht hat, hat zu der Vorstellung geführt, sie habe zuvor Beine gehabt und sei aufrecht gegangen.

Nach (Gen 3,14) frißt die Schlange Staub. Diese negative Konnotation hat die Schlange auch in der Prophezeiung Mi 7,17, die die unter Jahwes Macht zitternden Nationen mit einer kriechenden und Staub leckenden Schlange vergleicht. Die biologisch gesehen falsche Aussage, dass die Schlange Staub frisst, könnte auf der Beobachtung beruhen, dass die Schlange in der Erde lebende Beutetiere aufspürt und sie mit ihrem Speichel umgibt, so dass Staub an ihrem Maul kleben bleibt. Typologisch unterstreicht die Aussage, dass die Schlange Staub frisst, ihr Leben am Abgrund des Todes: In Gen 3,19 wird gesagt, dass der Staub als Baumaterial des Menschen dessen sterblichen Überrest darstellt. Dieser wird wiederum von der Schlange verspeist. Dagegen gilt in Jes 65,25 die Tatsache, dass die Schlange lediglich Staub frisst, als Zeichen des Friedens und der gebannten Gefahr.

3.1.3. Gift und Gefährlichkeit

Jes 14,29 steigert das Bild der gefährlichen Giftigkeit der Schlangen: Der Schlange (נָחָשׁ nāḥāš) folgt die Viper (אֶפְעֶה ’æf‘æh), welche wiederum von der Sarafschlange überboten wird (vgl. Am 5,19). Spr 23,32 spricht bildhaft von der Gefahr, die von übermäßigem Weingenuss ausgeht: Zuviel Wein beißt wie eine Schlange (נָחָשׁ nāḥāš) und spritzt Gift wie eine Viper (צִפְעוֹנִי ṣif‘ônî). Gen 49,17 vergleicht den Stamm Dan mit der klugen Schlange (נָחָשׁ nāḥāš) und der giftigen Hornviper (שְׁפִיפוֹן šəfîfon; → Otter). Die Gefahr, die von dem kleinen Stamm ausgeht, liegt in dessen List und der unerwarteten Gefahr. Wie die kluge Schlange lauert er auf den richtigen Moment und schlägt dann tödlich wie die Hornviper zu.

3.1.4. Beschwörung

Durch die hypnotischen Bewegungen des Schlangenbeschwörers, nicht durch die Töne seiner Flöte, werden die von Natur aus tauben Schlangen gebannt. Durch bestimmten Druck können sie auch dazu gebracht werden, starr zu werden wie ein Stock (s.u. tannin). Von der Praxis der Schlangenbeschwörung, die für den Beschwörer gefährlich sein kann (vgl. Sir 12,13), weiß Pred 10,11. Der Schlangenbeschwörer erhält hier den Titel „Herr der Zunge“, vielleicht eine Anspielung auf die geheimen Zaubersprüche, mit denen er die Schlange zu beschwören weiß, oder auf seine Beherrschung des Schlangengiftes. Jer 8,17 droht mit dem Tod durch den Biss der Schlange (נָחָשׁ nāḥāš) und der Viper (אֶפְעֶה ’æf‘æh). Aus dem Zusatz, dass Schlange und Viper (צִפְעוֹנִי ṣif‘ônî) nicht beschworen werden können, lässt sich ebenfalls auf ein Beschwörungssystem gegen Schlangenbisse schließen (vgl. Ps 58,54; → Natter).

3.1.5. List und Weisheit

In Gen 3 nimmt die von Jahwe geschaffene Schlange die Rolle eines Tricksters ein. Sie gilt als das klügste (עָרוּם ‘ārûm; vgl. Gen 3,1) aller Tiere. Hinter dem Begriff עָרוּם ‘ārûm steht vielleicht ein Wortspiel mit dem Wort עָרוֹם ‘ārôm „nackt“, das sich auf das Aussehen der Schlange bezieht und auf das der Menschen (Gen 2,25) anspielt. Die Eigenschaft der Schlange als klügstes und listigstes aller Tiere wird verschieden erklärt: Einerseits wird auf ihr unerwartetes Angreifen in der Natur verwiesen (vgl. Gen 49,17), andererseits auf ihre Häutung und ihre Fähigkeit, Gift zu produzieren. Im Zusammenhang von Gen 3 zeigt sich ihre Überlegenheit gegenüber anderen Tieren darin, dass sie sprechen und denken kann und den Baum der Erkenntnis kennt. Listig bedient sie sich fast wörtlich des göttlichen Gebots von Gen 2,17, um dieses gleichzeitig in Frage zu stellen. Schließlich hat die Schlange in Gen 3 sogar Anteil an der numinosen Welt, denn sie weiß mehr als die Menschen und öffnet diesen durch ihr Wissen die Augen. Das Handeln der Schlange lässt die Menschen einerseits das Paradies verlieren, andererseits das Wissen um ihre Menschlichkeit gewinnen. Die Rolle der Schlange in Gen 3 spiegelt also verschiedene Aspekte des Bedeutungsspektrums der Schlangen im Alten Orient: Sie ist einerseits mit Gefahr verbunden, andererseits mit der Frage nach dem ewigen Leben, dem Wissen um Weisheit und schließlich auch mit Sexualität, die im Alten Testament mit dem Verb „(sich) erkennen“ (ידע jd‘) umschrieben wird. Zuweilen wird der Schlange über die Rolle Evas, deren Name in Gen 3,20 als „Mutter allen Lebens“ gedeutet wird, eine Verbindung zu einer Muttergöttin zugeschrieben (vgl. dagegen Frevel, 1995, 161). Eine andere These sieht in dem Gespräch zwischen Eva und der Schlange einen Reflex auf die Beziehung Salomos zur Tochter des Pharaos bzw. zur Rolle der Schlange in der ägyptischen Religion und Königin-Konzeption (Görg, 2001, 482-484).

Das Neue Testament nimmt in 2Kor 11,3 die Paradieserzählung auf und benutzt die von der Schlange verführte Eva als Warnung vor der Abkehr von Christus. Im Laufe der Wirkungsgeschichte wird aus der Schlange eine Verkörperung des → Satans, so auch in der → Apokalyptik (vgl. Apk 12,9; Apk 20,2). Apokalypse Abrahams 23 (→ Abraham 4.1.6; Text Pseudepigraphen) identifiziert den Satan mit der Schlange, die zwischen Adam und Eva steht, menschliche Hände und Füße sowie sechs Flügel hat und für die Gottlosigkeit steht. Die negative Rolle → Evas wird im Laufe der Textrezeption immer stärker dadurch unterstrichen, dass der unschuldige Adam von Eva verführt wird, Eva sich hingegen aktiv von der Schlange verführen lässt.

3.2. Urwasserschlange Tannin

3.2.1. Begriff

Das Wort תַּנִּין tannîn schillert zwischen der Bedeutung „Schlange“ und „Seemonster / Chaosdrache“ (→ Chaos / Chaosmächte / Chaoskampf). Zuweilen wird im Kontext mit Ägypten auch die Übersetzung „Krokodil“ vorgeschlagen. Die Etymologie des Wortes ist unsicher: HALAT leitet den Begriff von einer (unsicheren) Wurzel *תנן *tnn „sich ausstrecken“ her. Aistleitner sieht einen Bezug zum Ugaritischen und leitet ihn von der Wurzel tnn „rauchen“ ab. Möglicherweise ist der Begriff etymologisch mit תַּן tan → „Schakal“ verwandt (Riede, 2002, 180 [Anm. 97]). In Neh 2,13 ist Hattannin als Name einer Quelle belegt.

3.2.2. Mythos

Die Chaosdrachen → Rahab, → Leviatan und Tannin gelten als Repräsentanten der göttlichen Gegenwelt. Sie sind dem Zugriffsbereich des Menschen entzogen und haben daher in der persönlichen Frömmigkeit keine Bedeutung. Dagegen gelten sie im religiösen System als wichtige Symbole der Bedrohung der Gesellschaft und Repräsentanten des → Chaos.

Die Chaosmächte verkörpern einerseits eine Gegenwelt zur Gegenwart, denn sie gehören zur mythischen Vorzeit, in der sie schon längst von Jahwe überwunden wurden (Ps 74,13; vgl. Hi 26,13 [נָחָשׁ nāḥāš]). Das mythologische Bild von der Überwindung der Schlange dient der Rettungsgewissheit in der Gegenwart. So spielt das „Imperativgedicht“ Jes 51,9 auf die schon einmal vollzogene Rettung des Volkes aus Ägypten durch das → Meerwunder beim Exodus an. Nach Hi 7,12 hingegen muss der Tannin gegenwärtig in Schach gehalten werden, als Teil der Schöpfung unterliegt er zwar der Kontrolle Jahwes, birgt aber eine dauernde Gefahr. Nach Gen 1,21 ist er wie alle anderen Wesen von Gott geschaffen (Gen 1,21). Dementsprechend kann er wie die ganze Schöpfung zum Lob Gottes aufgefordert werden (Ps 148,7). Jes 27,1 nennt den Tannin in eschatologischem Kontext und verlegt den endgültigen Sieg Jahwes über das Chaoswesen in die Endzeit.

3.2.3. Gift und Gefährlichkeit

Dtn 32,33 benutzt das Bild der giftigen Schlangen תַּנִּין tannîn und פְּתָנִים pətānîm, um die Todesverfallenheit des von Jahwe abgefallenen Volkes zu unterstreichen. Dagegen benutzt Ps 91,13 das Bild des „Herrn der Tiere“, um dem Beter oder der Beterin umfassenden Schutz zu versprechen: In einem Parallelismus werden hier Löwe (שַׁחַל šaḥal) und Junglöwe (כְּפִיר kəfîr) sowie Giftschlange (ןפֶּתֶ pætæn) und Chaosschlange (תַּנִּין tannîn) genannt. Das Schreiten über Tiere ist als Herrschaftssymbol im Alten Orient normalerweise Göttern und Königen vorbehalten – hier wird es dem schwachen und schutzsuchenden Frommen zugesprochen.

Die Gefahr, die von der Chaosschlange ausgeht, wird metaphorisch auch im Vergleich fremder Machthaber mit dem תַּנִּין tannîn verarbeitet. Jer 51,34 setzt den babylonischen Herrscher → Nebukadnezer, der → Zion verschlungen hat, mit dem תַּנִּין tannîn gleich, Ez 29,3 und Ez 32,2 den → Pharao (textkritische Änderung von tannîm [→ Schakal] zu tannîn). Zuweilen wird hier wegen des Bezugs auf Ägypten eher an ein Krokodil als an eine Schlange oder den Chaosdrachen gedacht (Fohrer, 1955, 166; Westermann, 4. Aufl. 1999, 191).

Auch für Ps 44,20 wird vorgeschlagen, statt MT תַּנִּים tannîm besser תַּנִּין tannîn zu lesen (vgl. Ps 74,14). Jedoch ist diese Änderung nicht zwingend, da → Schakale תַּנִּים tannîm als Bewohner der menschlichen Gegenwelt ebenso gut in das Bild passen.

3.2.4. Magie

An zwei Stellen im Alten Testament stehen Tannin und → Leviatan im (magischen) Zugriffsbereich des Menschen und werden damit zu Wesen, die in die konkrete menschliche Lebenswelt hineinreichen, nämlich in Hi 3,8 und Ex 7,8-13 (Schmitt, 2004, 93-100; Loretz, 2003, 335f.475-512). Hi 3,8 berichtet von ’orərê-jôm „Tagverfluchern“, die als Schadenszauberer agieren und den → Leviatan hervorrufen können (→ Magie).

Auf spätantiken aramäischen Beschwörungsschalen, die den Leviatan für einen Gegenzauber anrufen, wird dieser als Tannin bezeichnet: „Ich beschwöre dich mit der Beschwörung des Meeres und der Beschwörung des Leviatan, des ‚tnn-Ungeheuers’“ (Schmitt, 2004, 96; vgl. Isbell, 1975, 19f. [Text Nr. 2,4.6]; 31-33 [Text Nr. 7,7.9]; Naveh / Shaked, 1993, 118-120 [Bowl 16,4]). Chaosmächte und Schadenszauber auf der einen sowie ihre Überwindung durch Jahwe auf der anderen Seite besaßen demnach sowohl in Gebet als auch im Ritus eine konkret-reale Bedeutung.

Die → Priesterschrift macht in Ex 7,8-13 ihre Konzeption religiös-magischer Handlungen deutlich: Der Priester → Aaron verfügt über die ritualtechnischen Fähigkeiten, Chaosmächte zu evozieren und seinen Stab in die Chaosschlange Tannin zu verwandeln. Vielleicht handelt es sich hier um einen literarischen Rückgriff auf aus Ägypten, Mesopotamien und Israel bekannte Darstellungen von Schlangenapotropaika, die teilweise auch auf Stäben angebracht waren und wohl der Abwehr chaotischer Schlangenmächte dienten. Zwar ermöglicht die Macht Jahwes auch den ägyptischen Magiern, dass sich ihre Stäbe in die von Jahwe selbst geschaffenen (vgl. Gen 1,21) Tannin-Schlangen verwandeln, ihre Unterlegenheit unter die göttliche Macht Aarons zeigt sich aber daran, dass ihre Tannin-Schlangen von derjenigen Aarons verschlungen werden.

Während nach Ex 4,3 die direkt von Jahwe veranlasste Verwandlung des Stabs des → Mose in eine Schlange (נָחָשׁ nāḥāš) als Zeichen dafür gilt, dass Jahwe sich Mose tatsächlich offenbart hat, wird die von Aaron ausgeübte göttliche Macht – vermittelt über den prophetischen Gesetzesvermittler Mose – in der Priesterschrift zum Zeichen der Macht Jahwes über die Mächte des Chaos gegenüber dem Pharao (Schmitt, 2004, 389f.; vgl. Bauks, 2003, 239-253).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Paulys Real-Encyclopädie der classischen Alterthumswissenschaft, Stuttgart 1894-1972
  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
  • Biblisches Tierlexikon (Bibel – Kirche – Gemeinde 4), Konstanz 1969
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Biblisches Reallexikon, 2. Aufl., Tübingen 1977
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
  • Bibeltheologisches Wörterbuch, Graz 1994
  • New International Dictionary of Old Testament Theology and Exegesis, Grand Rapids 1997
  • Dictionary of Deities and Demons in the Bible, 2. Aufl., Leiden 1999
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
  • Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006

2. Weitere Literatur

  • Aistleitner, J., Wörterbuch der ugaritischen Sprache (Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Philologisch-Historische Klasse 106,3), 3., durchges. u. erg. Aufl. 1967, Berlin
  • Bauks, M., 2001, „Chaos“ als Metapher für die Gefährdung der Weltordnung, in: B. Janowski (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte (FAT 32), Tübingen, 431-464
  • Bauks, M., 2003, Das Dämonische im Menschen. Einige Anmerkungen zur priesterschriftlichen Theologie (Ex 7-14), in: Lange, A. / Lichtenberger, H. / Römheld, K.F.D. (Hg.), Die Dämonen. Die Dämonologie der israelitisch-jüdischen und frühchristlichen Literatur im Kontext ihrer Umwelt – Demons. The demonology of Israelite-Jewish and early Christian literature in context of their environment, Tübingen, 239-253
  • Cansdale, C., 1970, Animals of Bible Lands, Exeter
  • Buren, E.D. van, 1939, The Fauna of Ancient Mesopotamia as Represented in Art (AnOr 18), Rom
  • Feliks, J., 1962, The Animal World of the Bible, Tel Aviv
  • Fohrer, G., 2. Aufl. 1955, Ezechiel (HAT 1/13), Tübingen
  • Fohrer, G., 2. Aufl. 1988, Das Buch Hiob (KAT XVI), Gütersloh
  • Frevel, C., 1995, Aschera und der Ausschließlichkeitsanspruch YHWHs (BBB 94), Weinheim
  • Görg, M., 1981, Die „Sünde“ Salomos. Zeitkritische Aspekte der jahwistischen Sündenfallerzählung, BN 16, 42-59
  • Görg, M., 2001, „Schreiten über Löwen und Otter“. Beobachtungen zur Bildsprache in Ps 91,13a, in: J. Frühwald-König (Hg.), Steht nicht geschrieben? Studien zur Bibel und ihrer Wirkungsgeschichte (FS G. Schmuttermayr), Regensburg, 37-48
  • Görg, M., 2001, Art. Schlange, in: NBL III, 482-484
  • Hedinger, H., 1993, Die Schlangen, in: Grzimek, B. u.a. (Hg.), Grzimeks Tierleben. Enzyklopädie des Tierreichs, Bd. 6: Kriechtiere, München, 346-361
  • Herrmann, C., 1994, Ägyptische Amulette aus Palästina / Israel. Mit einem Ausblick auf ihre Rezeption durch das Alte Testament (OBO 138), Freiburg (Schweiz) / Göttingen
  • Janowski, B. u.a. (Hgg.), 1993, Gefährten und Feinde des Menschen. Das Tier in der Lebenswelt des alten Israel, Neukirchen-Vluyn
  • Keel, O., 1992, Das Recht der Bilder gesehen zu werden. Drei Fallstudien zur Methode der Interpretation altorientalischer Bilder, Freiburg / Schweiz
  • Keel, O., 1997, Corpus der Stempelsiegel-Amulette aus Palästina/Israel. Katalog Band 1: Von Tell Abu Faraǧ bis ‘Atlit (OBO.SA 13), Freiburg (Schweiz) / Göttingen
  • Keel, O. / Uehlinger, C., 5. Aufl. 2001, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen (QD 134), Freiburg i.B. / Basel / Wien
  • Keel, O. / Küchler, M. / Uehlinger, C., 1984, Orte und Landschaften der Bibel, Bd.1: Geographisch-geschichtliche Landeskunde, Zürich u.a.
  • Keller, O., 1909-1913 / 1963, Die antike Tierwelt II, Leipzig / Hildesheim
  • Landsberger, B., 1934, Die Fauna des alten Mesopotamien nach der 14. Tafel der Serie CHAR-RA = CHUBULLU (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse 42/6), Leipzig
  • Pinney, R., 1964, The Animals of the Bible, Philadelphia
  • Riede, P., 2002, „Ein Spinnenhaus ist sein Vertrauen“ (Hi 8,14). Tiere in der Bildsprache der Hiobdialoge Teil II: Der Frevler und sein Geschick, in: ders., Im Spiegel der Tiere. Studien zum Verhältnis von Mensch und Tier im alten Israel (OBO 187), Freiburg (Schweiz) / Göttingen, 133-152
  • Riede, P., 2000, Im Netz des Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen (WMANT 85), Neukirchen-Vluyn
  • Schmitt, R., 2004, Magie im Alten Testament (AOAT 313), Münster
  • Westermann, C., 4. Aufl. 1999, Genesis 1-3 (BK I/1.1), Neukirchen-Vluyn

Abbildungsverzeichnis

PDF-Archiv

Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download:

Abbildungen

Unser besonderer Dank gilt allen Personen und Institutionen, die für WiBiLex Abbildungen zur Verfügung gestellt bzw. deren Verwendung in WiBiLex gestattet haben, insbesondere der Stiftung BIBEL+ORIENT (Freiburg/Schweiz) und ihrem Präsidenten Othmar Keel.

VG Wort Zählmarke
die-Bibel.dev.4.17.10
Folgen Sie uns auf: