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(erstellt: November 2007)

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„Lernen“ hat im Alten Testament zwei Brennpunkte, einen bildet das → Sprüchebuch mit seiner am alltäglich Nützlichen orientierten Sicht des Lernens. Den anderen bildet das → Deuteronomium, das dem religiösen Lernen existenzielle Bedeutung für das Gottesvolk zuspricht.

1. Lernen und seine hebräischen Äquivalente

Während die erziehungswissenschaftliche Forschung zum Thema „Lernen“ zunehmend Ergebnisse der Hirnforschung, der Verhaltensforschung, der Psychologie und anderer naturwissenschaftlicher Gebiete einbeziehen muss, können diese komplexen Zusammenhänge hier ausgeklammert bleiben. Was „Lernen“ ist, ist nicht weiter strittig (→ Erziehung, → Schule), dennoch muss um der Klarheit Willen dieses unstrittige Phänomen zuerst knapp umrissen werden: Unter „Lernen“ wird im Folgenden ein Prozess verstanden, in dessen Verlauf ein Individuum Verhaltensweisen oder Bewusstseinsinhalte qualitativ oder quantitativ ändert, d.h. Lernen bezeichnet entweder eine Veränderung im Verhalten, eine Änderung im Verstehen von Sachverhalten oder eine Vermehrung des Wissens.

Zu klären ist als Erstes, wie das Phänomen, das das Stichwort in deutscher Sprache ausdrückt, im hebräischen Text zu finden ist.

Lässt man das nur einmal belegte Verb אלף ’ālaf „mit etwas vertraut werden“ (Spr 22,25) unberücksichtigt, so ist das Wort, das am häufigsten dem deutschen Wort „lernen“ entspricht, das Verb למד lāmad „lernen“. Es wäre darüber hinaus sinnvoll, Formulierungen einzubeziehen, die etwas ausdrücken, das Lernen zur Voraussetzung oder zur Folge hat, z.B. wenn jemand etwas erkannt, verstanden oder erfragt hat. Dies würde die Verben → „erkennen“ (ידע jāda‛), „verstehen“ (בין bîn), „Einsicht haben“ (שׂכל śākal Hif.), „weise sein / werden“ (חכם chākham) und „erfragen / erforschen“ (דרשׁ dāraš) einbeziehen. Auch kennt das Alte Testament Formulierungen, die das Verb „lernen“ (למד lāmad) umschreiben, wie z.B. „(Zurecht-)Weisung annehmen“ oder „Disziplin annehmen“, die wohl eine erlernte Verhaltensänderung bezeichnen.

Für das Verständnis dessen, was „Lernen“ für die Texte des Alten Testaments bedeutet und für den Stellenwert, den das Lernen in der Geistesgeschichte des alten Israel hatte, wird es sinnvoll sein, zu beobachten, in welchen literarischen Zusammenhängen die verschiedenen Lexeme vorkommen, welches Objekt mit den Verben verbunden wird, also, was gelernt wird. Das Subjekt des Lernens gibt, sofern ein aktives (und intransitives) Verb vorliegt, darüber Auskunft, wer lernt. In diesem Zusammenhang muss auch unterschieden werden nach den Formen des hebräischen Verbs, denn im Hebräischen kann intransitives „lernen“ mit denselben Verben ausgedrückt werden wie transitives „lehren“. Bei alledem ist es wichtig, die Tatsache der verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten für „lernen“ im Auge zu behalten; Vollständigkeit der Belege dagegen ist für die Darstellung nicht erforderlich. Einige der oben aufgelisteten Wörter haben einen Bedeutungsumfang, der weit über das hier zu Verhandelnde hinausgeht – das Verb ידע jāda‛ „erkennen“ wird bekanntlich auch verwendet, um geschlechtlichen Umgang auszudrücken (z.B. Gen 4,1), was für das Thema Lernen wenig austrägt. Um einerseits dem Leser eine nachprüfbare Darstellung zu bieten, andererseits aber auch weitschweifige Diskussionen zur Relevanz einzelner Stellen zu vermeiden, wird die Darstellung sich auf exemplarische Fälle beschränken. Die drei hier einzeln betrachteten Verben vertreten die Bedeutungsbreite der verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten, sind dabei ausreichend häufig belegt und prägnant, ohne eine allzu breite Streuung der Bedeutungen aufzuweisen.

2. למד „lernen“

Das Verb למד lāmad „lernen“ ist im Alten Testament 87-mal belegt, davon 24-mal im Qal – das ist diejenige Form, in der sicher das Verb in intransitiver Bedeutung vorliegt. Das Verb begegnet in den Büchern Deuteronomium, Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Micha, Psalmen, Sprüche und 1Chronik. Hinsichtlich der Verteilung ist vor allem ein Befund besonders interessant: Das Verb begegnet im Buch Proverbia nur einmal (Spr 30,2). Das überrascht deshalb, weil gerade dieses Buch – nicht wenige Exegeten halten es für ein Schulbuch – der Tradition der → Weisheit im Alten Testament zugerechnet wird, einer Tradition, in der intellektuelle Fähigkeiten besonders geschätzt werden. Die meisten Vorkommen des Verbs למד lāmad „lernen“ finden sich im → Deuteronomium. Das Bild, das sich aus den Stellen ergibt, ist sehr homogen. Mit Ausnahme von 1Chr 5,18 und Mi 4,3 (// Jes 2,4), wo das Kriegführen Lerngegenstand ist, ist der Lernende Israel, das aufgefordert wird zu lernen oder nicht zu lernen, das betende Ich im Psalter, das offenbar als Teil Israels redet, oder die Gemeinde. Der Inhalt, der gelernt werden soll, sind die von Gott den Israeliten gegebenen Heilsordnungen, die Gebote und Satzungen (Dtn 5,1; Dtn 17,19; Jes 1,17; Jes 26,9; Ps 119,7.71.73), die Tora, kurz, Israels Tradition des Lebens vor Gott (Jer 12,16), die Gottesfurcht (Dtn 4,10; Dtn 14,23). Nicht lernen sollen sie die Lebensweise der Völker (Jer 10,2), die Gräuel der Völker (Dtn 18,9). Praktisch alles, was hier zu lernen ist, ist göttlich vermitteltes Wissen oder auch Wissen um Gott (Spr 30,3).

3. בין „verstehen“

Auch bei בין bîn „verstehen“ sind die Qal-Formen von Interesse. Die Vorkommen verteilen sich auf folgende Bücher: Deuteronomium, 1. Samuel, 2. Samuel, Jesaja, Jeremia, Hosea, Psalmen, Hiob, Sprüche, Daniel, Esra, Nehemia. Die 63 Belege sind ganz anders verteilt als die von למד lāmad „lernen“. Bei nur zwei Vorkommen im Deuteronomium, aber 14 in den Proverbien, außerdem 11 im Buch Hiob stellt hier die Weisheitsliteratur über ein Drittel der Stellen. An der Verteilung fallen weiter die recht häufigen Belege in den Psalmen (12) auf, sowie diejenigen in den spätesten Schriften des Alten Testaments, in Daniel, Esra und Nehemia (15).

Neben der Bedeutung „etwas feststellen / bemerken“ (z.B. 2Sam 12,19; Ps 19,13; Spr 7,7; Esr 8,15), die hier unberücksichtigt bleiben kann, stehen in den Prophetenschriften und im aramäischen → Danielbuch Vorkommen, bei denen das Verstehen sich auf ein Gotteswort oder eine Vision bezieht (Dan 9,2.23, Jes 6,9.10; Jes 9,11; Hos 14,10). Im → Hiobbuch ist das Verstehen oder Nichtverstehen praktisch durchgängig auf Gott und seinen Willen bzw. seine Werke gerichtet, das → Sprüchebuch (Proverbien) formuliert indirekter; dort sind Gerechtigkeit und Recht (Spr 2,9; Spr 28,5), der „Weg“ des einzelnen (Spr 20,24), Erkenntnis (Spr 29,7) und auch Gottesfurcht (Spr 2,5) Inhalte des Lernens. Trotz der unterschiedlichen Akzente im Vergleich zur Verwendung des Verbs למד lāmad „lernen“ ist auch hier das Ziel der Einsicht theologisch bestimmt. „Recht“ und „Gerechtigkeit“ sind nicht Funktionen eines profanen Staates, sondern Ausfluss des Gotteswillens – insofern sind die Stellen in den Proverbien nicht grundsätzlich von denen in den Prophetenbüchern geschieden. Wie Weltwissen und theologisches Deuten in der Verwendung dieses Verbs ineinander gehen, zeigt am deutlichsten Dtn 32,7 in seinem Kontext:

„6 Dankst du so dem HERRN, deinem Gott, du tolles und törichtes Volk? Ist er nicht dein Vater und dein Herr? Ist's nicht er allein, der dich gemacht und bereitet hat? 7 Gedenke der vorigen Zeiten und hab Acht (בין bîn) auf die Jahre von Geschlecht zu Geschlecht. Frage deinen Vater, der wird dir's verkünden, deine Ältesten, die werden dir's sagen. 8 Als der Höchste den Völkern Land zuteilte und der Menschen Kinder voneinander schied, da setzte er die Grenzen der Völker nach der Zahl der Söhne Israels. 9 Denn des HERRN Teil ist sein Volk, Jakob ist sein Erbe.“

Das Verb ist in diesem Zusammenhang sehr wohl auf Weltwissen bezogen, dennoch handelt es sich bei diesem geschichtlichen Wissen um Tatsachen, die nur um ihrer theologischen Bedeutung Willen überhaupt beachtenswert sind.

4. חכם „weise sein / werden“

Das Verb חכם chākham „weise sein / werden“ ist im Qal 20-mal belegt; alle Belege finden sich in den Sprüchen oder im Buch Kohelet. Unter den hier betrachteten Verben ist es dasjenige, das am wenigsten Lernen als religiöses Lernen fasst, und dieses Lernen auch kaum in den Zusammenhang der historischen oder rechtlichen Gemeinschaft stellt. Die Inhalte und Vorgänge, die das Weise-Werden bewirken, sind vorwiegend abstrakt formuliert. In Spr 8,33 ist es das Hören auf Zurechtweisung, in Spr 23,19 einfach nur das Hören, konkretere Inhalte werden nicht genannt.

Das Subjekt des Lernens ist im Buch → Kohelet der Redende, in den Proverbien der Angeredete, der in Spr 23,15.19 und Spr 27,11 als „mein Sohn“ bezeichnet wird, was nicht auf verwandtschaftliche Beziehungen deutet, vielmehr eine konventionelle Anrede sein dürfte. Eine solche Anrede ist z.B. auch in den ägyptischen Lebenslehren belegt, die stets als Rede eines Vaters an seinen Sohn stilisiert sind.

Die Textstellen, die Lernen mit dem Verb חכם chākham „weise sein / werden“ ausdrücken, sehen den Sinn des Lernens nicht im großen sozialen Zusammenhang, sondern verorten ihn sehr direkt in der Umgebung des Lernenden. Spr 9,12 formuliert: „Bist du weise, so bist du's dir zugut; bist du ein Spötter, so musst du's allein tragen.“ Und auch Spr 27,11 geht nicht weit über diesen sozialen Horizont hinaus: „Sei weise, mein Sohn, und erfreue mein Herz, so kann ich antworten dem, der mich schmäht.“

5. Ergebnis

Der Überblick über die drei Verben führt zu zwei unterscheidbaren Sichten auf das Lernen und seine Wertschätzung.

Die eine Sicht wird vom Buch der Sprüche repräsentiert. Dort ist das Verb למד lāmad „lernen“ (das Verb scheint den Begriff am deutlichsten zu übersetzen) nur einmal belegt, dazu an einer Stelle, die nach allgemeiner Ansicht innerhalb des Buches einer späten Sammlung angehört und die auch formal wie inhaltlich im Sprüchebuch eine Sonderstellung einnimmt. „Lernen“ verbindet sich an dieser Stelle mit religiösen Inhalten („Kenntnis der heiligen Dinge“ in Parallele zu „Weisheit“). Solche Inhalte werden im Sprüchebuch sonst nur indirekt angesprochen. Mit dem Verb בין bîn „verstehen“ verbunden tauchen Inhalte auf, die, weil sie im Zusammenhang einer altorientalischen Gesellschaft verstanden werden müssen, nicht in derselben Weise „profan“ verstanden werden dürfen, wie es z.B. auf die Begriffe „Recht“ und „Gerechtigkeit“ in modernen Gesellschaften zutreffen würde.

Allerdings zeigt die Verwendung des Verbs חכם chākham „weise sein / werden“, dass auch die Texte des Alten Testaments ein nicht-religiöses Lernen kennen, das dem Nutzen des Lernenden dient und ohne transzendente Perspektive auskommt.

Anders die Sicht, die besonders im Buch Deuteronomium, aber auch in den prophetischen Schriften zur Sprache kommt. Inhalt dessen, was dort verstanden (בין bîn) werden soll (oder vom Volk nicht verstanden wird), sind ganz überwiegend die Geschichtstaten Gottes und seine Worte. Auch der Protagonist des weisheitlichen Hiobbuchs ringt um die Möglichkeit, die Welt, die er erlebt, auf dem Hintergrund göttlichen Handelns verstehen zu können. Umgekehrt wird in den Textstellen, die das lernend-verstehende Zugehen auf die Welt mit dem Verb בין bîn ausdrücken, das Verstehen zur Aufgabe, ja zur Pflicht des Gottesvolkes, das sich schuldig macht, wenn es nicht versteht: „ein Volk, das nicht versteht, geht zugrunde“ (Hos 4,14). Diese Pflicht, etwas zu lernen, formuliert das Deuteronomium auch direkt in Dtn 5,1, verwendet dabei aber das Verb למד lāmad „lernen“: „Und Mose rief ganz Israel zusammen und sprach zu ihnen: Höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich heute vor euren Ohren rede, und lernt sie und bewahrt sie, dass ihr danach tut!“. Für das Deuteronomium sind diese Traditionen Israels unaufgebbare Lerninhalte. Wo sie vergessen werden, droht dem Volk der Verlust des Landes (Dtn 18,12). Die Stellen bei den Propheten (besonders → Jesaja und → Jeremia) nuancieren dieses Bild, ändern es aber nicht.

Auf die nachbiblische Geistesgeschichte, in der die Texte in unterschiedlichen Gemeinden weitertradiert wurden, hat das Lernen theologischer Inhalte die stärksten Auswirkungen gehabt. Die Bedeutung des Lernens für die jüdischen Gemeinden kann nicht überschätzt werden. Aber auch die christliche Tradition hat im Gefolge dieser Tradition von den Gemeindemitgliedern immer Wissen verlangt, auch wenn man die Kenntnis des Glaubensbekenntnisses – als Minimalforderung – für gering halten mag im Vergleich zur Kenntnis der Tora mit ihren zahlreichen Bestimmungen.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Weitere Literatur

  • Finsterbusch, K., 2005, Weisung für Israel. Studien zu religiösem Lehren und Lernen im Deuteronomium und seinem Umfeld, Tübingen
  • Gesenius, W., 1962, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Heidelberg
  • Hausmann, J. 1995, Studien zum Menschenbild der älteren Weisheit, Tübingen
  • Kapelrud, A., 1984, Art.למד, in: ThWAT IV, Stuttgart u.a. 576-582
  • Rollett, B., 1976, Art. Lernen, in: Roth, Leo (Hg.), Handlexikon zur Erziehungswissenschaft, München, 282-286

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