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Interkulturalität/Ethnische Vielfalt/Minderheiten/Migration

(erstellt: Februar 2020)

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1. Interkulturelles Lernen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft

Der folgende Beitrag stellt grundlegende migrationspädagogische (→ Migration) Überlegungen und Ansätze vor, die die bildungspolitische Landschaft der Bundesrepublik Deutschland auf ihrem Weg zu einer Einwanderungsgesellschaft maßgeblich geprägt haben.

Die Bundesrepublik Deutschland gehört seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu den Industriestaaten mit der höchsten Einwanderungsquote. Für den größten Teil der Einwandernden hat sich der zunächst auf eine absehbare Zeit befristete Aufenthalt zum Aufenthalt mit unbestimmter Dauer verwandelt.

Die Frage lautet nicht länger, ob die Bundesrepublik eine multikulturelle Gesellschaft sein will, sondern ob sich ein liberales und demokratisches Verständnis von Nation durchsetzt, dass Einwandernde und Angehörige der Mehrheitsgesellschaft mit gleichen Rechten ausstattet. Mit einem solchen Schritt in die Richtung der Realisierung einer Bürgergesellschaft wären die notwendigen Bedingungen geschaffen, um die Autonomie der Individuen zu stärken, sie zu solidarischem Verhalten anzuhalten und ihnen auf der Grundlage prozeduraler Absprachen den gleichberechtigten Zugang zur Öffentlichkeit zu ermöglichen. Als Alternative deutet sich ein ethnischer Diskurs an mit dem Ziel, eine romantische Rückbesinnung auf abstammungsbedingte Gemeinsamkeiten einzuleiten und die imaginäre Einheit der einen Kulturnation mit gemeinsamer Vergangenheit zu beschwören. Die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft sollen nach diesem Konzept ihren inneren Zusammenhalt durch die Abgrenzung gegenüber anderen ethnischen Gemeinschaften gewinnen.

Die sozialwissenschaftlichen und politischen Positionen der Diskussion um die Verfasstheit der bundesdeutschen Gesellschaft als einer multikulturellen Gesellschaft haben ihren Niederschlag in der erziehungswissenschaftlichen Reflexion sich wandelnder gesellschaftlicher und kultureller Verhältnisse gefunden und Konsequenzen für die Bildungsplanung nach sich gezogen. In den siebziger Jahren richteten die Erziehungswissenschaften im Rahmen der „Ausländerpädagogik“ ihren Fokus auf die Kinder der Migrantinnen und Migranten.

Als deren Kernproblem wurde die mangelnde Beherrschung der deutschen Sprache ausgemacht, somit kam dem sprachlichen Förderunterricht eine besondere Bedeutung zu. Dieser sollte zur Reduzierung der Probleme von „In- und Ausländern“ beitragen und die Anschlussfähigkeit der Schülerinnen und Schüler an den deutschen Regelunterricht bewirken.Die didaktischen und schulorganisatorischen Maßnahmen wurden von bildungspolitischen Vorgaben geprägt, die vorsahen, die Integration der Kinder mit Migrationshintergrund in die deutsche Gesellschaft zu erleichtern und zugleich deren Rückkehrfähigkeit zu erhalten. Im Nachhinein wird erkennbar, dass das Ziel ausländerpädagogischer Handlungsansätze in der kompensatorischen und assimilatorischen Erziehung begründet war und die Bildungseinrichtungen vorrangig darum bemüht waren, die Defizite der Kinder und Jugendlichen ausländischer Herkunft auszugleichen, wobei als Maßstab die Anforderungen des deutschen Schulsystems angelegt wurden.

Das Interesse einer erziehungswissenschaftlichen Fragestellung liegt in der Analyse der Konsequenzen der pädagogischen Wende zur Kultur. Hierzu ist eine kritische Reflexion grundlegender Begriffe der Interkulturellen Pädagogik, wie Kultur, kulturelle Identität oder Ethnizität, und eine Diskussion der ihnen zugrundeliegenden Hintergrundannahmen notwendig.

Es gilt darüber hinaus der Frage nachzugehen, inwiefern die Konzeptualisierung eines pädagogischen Ansatzes als Interkulturelle Pädagogik nicht selbst zur Produktion kulturalistischer Typisierungen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs beiträgt. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass die Anforderungen pädagogischer Handlungsorientierung auf der Grundlage divergierender kultureller Deutungsmuster definiert werden.

Dieser politische und sozialpsychologische Prozess ist für die folgenden Überlegungen auch deshalb von Belang, da sie überprüft werden soll, ob die Erziehungswissenschaften zur Konstruktion ethnischer Minderheiten beitragen, insofern sie ihren eigenen Handlungsbedarf begründen oder sogar zur Legitimation von Ausgrenzungen von Migrantinnen und Migranten instrumentalisierbar werden. Es ist nicht auszuschließen, dass die Soziogenese ethnischer Minderheiten durch die interkulturelle Debatte forciert wurde. Dies wirkt im Nachhinein als ein erziehungswissenschaftliches Paradoxon, da die programmatische Absicht der Interkulturellen Pädagogik darin bestand, vor dem Hintergrund sozialer und kultureller Marginalisierung der Migrantinnen und Migranten ein Erziehungskonzept zu entwickeln, das sowohl die Akzeptanz der Vielfalt kultureller Lebensformen als auch die Einsicht in die Notwendigkeit einer für alle ethnische Gruppen verbindlichen universalistischen Moral vermitteln sollte.

1.1. Ethnische Minderheiten in der deutschen Gesellschaft

Multikulturalität bedeutet im thematisierten Zusammenhang nicht die Reorganisation nationaler Identitäten, sondern das Zugeständnis an die Einwanderinnen und Einwanderer, ihre lebensweltliche Entfaltung nicht zu verhindern. Dieser Handlungsspielraum ist eine Bedingung für ein Zusammenwirken von Einheimischen und Zuwanderinnen und Zuwanderern im sozialen Netzwerk der Gesellschaft und bietet die Voraussetzung dafür, im politischen Diskurs Argumente und Positionen auszuhandeln.

Die Pluralität der Argumente setzt in einer zivilen Einwanderungsgesellschaft unterschiedliche Meinungen, Traditionen und Kulturen voraus. Daher schafft das Einbringen traditionsbedingter Einstellungen und ethnisch-kultureller Erfahrungen in dem politischen Diskurs einer Gesellschaft, die auf eine moralische, religiöse oder kulturelle Übereinstimmung nicht angewiesen ist, gerade wegen der konstitutiven Belanglosigkeit ethnisch-kultureller Einstellungen die Voraussetzung dafür, dass vielfältige Argumente und Positionen reflexiv zur Geltung kommen können. Die soziale Integration ermöglicht dem Einzelnen eine Existenz als soziales, sinnhaft handelndes Gesellschaftsmitglied, dem im Rahmen des politischen Diskurses ein politisches Gestaltungsrecht zuerkannt wird.

2. Von der „Ausländerpädagogik“ zur „Interkulturellen Pädagogik“. Die erziehungswissenschaftliche Rezeption interethnischer Beziehungen

Die Erziehungswissenschaft lenkte erst in den siebziger Jahren ihr Augenmerk auf die sich durch den Zuzug von ausländischen Familien verändernde Bildungslandschaft. Da die Kinder der Arbeitsmigrantinnen und -migranten der Schulpflicht unterliegen, gerieten bald die fehlenden institutionellen und bildungspolitischen Voraussetzungen zur Eingliederung der ausländischen Schülerinnen und Schüler sowie die professionellen Mängel des Lehrpersonals in den Blick und wurden öffentlich thematisiert.

Irritationen im Bildungssystem übernahmen somit die Funktion eines sen­siblen Seismographen für gesellschaftliche Veränderungen.

Die Ausländerpädagogik entwickelte sich als Folge eines Prozesses, in dessen Verlauf sich die pädagogische Praxis und die pädagogische Theoriebildung auf die durch den Migrationsprozess veränderten Anforderungen in den Bildungseinrichtungen einstellen mussten.

2.1. Der integrative Ansatz in der „Ausländerpädagogik“

Anfang der siebziger Jahre bildeten sich zahlreiche Initiativgruppen, die es sich zur Aufgabe machten, die ausländischen Kinder im Rahmen ihres schulischen und außerschulischen Integrationsprozesses zu betreuen. Als Träger solcher Initiativen traten neben den Wohlfahrtsverbänden, wie der Caritas, dem Diakonischen Werk und der Arbeiterwohlfahrt, Kirchengemeinden, Studentengruppen oder unabhängige Organisationen in Erscheinung (Akpinar/Lopez-Blasco/Vink, 1977, 109f.).

Die Initiativgruppen, die sich aus vorwiegend ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zusammensetzten, konnten bestenfalls damit rechnen, dass ihnen für ihre Arbeit von den jeweiligen Trägern oder mit Hilfe kommunaler Vereine begrenzte finanzielle Mittel und Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt wurden.

Erklärtes Ziel der unterschiedlichen Projekte war es, die als sozialisationsbedingt erkannten und definierten Lernschwierigkeiten der ausländischen Schülerinnen und Schüler zu mindern und deren schulische Leistungen verbessern zu helfen (Kowalski, 1974, 137).

Akpinar unterscheidet hierbei zwischen schulorientierten und bedürfnisorientierten Initiativgruppen (Akpinar/Lopez-Blasco/Vink, 1977, 167). Der schulorientierte Ansatz verfolgte das Ziel der Sprachförderung und der Hausaufgabenhilfe, um die Motivation der jungen Migrantinnen und Migranten am Schulunterricht zu partizipieren, zu erhöhen und deren sozialen und schulischen Benachteiligungen entgegenzuwirken.

Die Arbeit der bedürfnisorientierten Gruppen bezog sich in geringerem Maße auf die schulischen Leistungen als vielmehr auf die allgemeinen Lebensbedingungen der ausländischen Kinder und Jugendlichen. Kritiker des schulorientierten Ansatzes bemängelten, dass mit der ausschließlichen Hinwendung auf die Probleme im schulischen Umfeld die allgemeine Lebenssituation der Migrantinnen und Migranten ausgeblendet werde. Dagegen befürworteten sie ein Konzept zur Förderung der Persönlichkeitsbildung ausländischer Kinder (Kowalski, 1974, 140). Durch diesen Perspektivwechsel wurden die Defizite der ausländischen Kinder im schulischen Umfeld auch vor dem Hintergrund ihrer politischen und juristischen Situation bewertet. Demzufolge lag es nahe, den Schwerpunkt der Arbeit auf die Ausbildung von Grundqualifikationen „wie Kritikfähigkeit, Ausdrucksfähigkeit, Vermittlung von Erfolgserlebnissen, Abbauen von Misstrauen, [und] Ich-Stärke“ zu verlagern (Akpinar/Lopez-Blasco/Vink, 1977, 165).

Die Angebotspalette umfasste Beratungsgespräche, Freizeitunternehmungen und Sportveranstaltungen für die ausländischen Jugendlichen. Da sich die Ausländerarbeit durch die beschriebene Entwicklung in verschiedene Bereiche ausdifferenzierte und eine wachsende Akzeptanz unter den ausländischen Familien fand, nahm die Bedeutung des Qualifikationsniveaus der deutschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Initiativgruppen zu. Dieser Prozess führte zur Finanzierung von Modellprojekten zur Qualifizierung der Mitarbeitenden und schließlich zu einer institutionellen Anbindungdi­verser Projekte sowie zur Professionalisierung des pädagogischen Perso­nals. Darüber hinaus begann die Erziehungswissenschaft ihr Interesse auf einen Bereich zu lenken, der bis dahin nicht zu ihrem Gegenstand zählte.

Parallel dazu führte die schnell wachsende Zahl ausländischer Schülerinnen und Schüler in den siebziger Jahren zu mehreren, für die schulische Eingliederung der jungen Ausländerinnen und Ausländer bildungspolitisch folgenreichen Entscheidungen. So beschloss die Kultusminister-Konferenz (KMK) im Jahre 1971 die flächendeckende Einrichtung von Vorbereitungsklassen und die Einführung des muttersprachlichen Unterrichts. Als Zielsetzung der genannten Maßnahmen wurden die Erleichterung der „Integration“ der Ausländerinnen und Ausländer in das für sie neue soziale Umfeld und die „Erhaltung der Verbindung der Schüler zur Sprache und Kultur ihrer Heimat“ (KMK-Beschluss, 1971, 14) zum Zwecke der Wahrung ihrer sprachlich-kulturellen Identität angeführt, womit deren „Rückkehrfähigkeit“ gewährleistet bleiben sollte.

Die ausländerpädagogische Diskussion setzte zu einem Zeitpunkt ein, als die Umsetzung der KMK-Beschlüsse im Rahmen der Schulorganisation und der Fort- und Weiterbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer bevorstand. So wurden neben schulpädagogischen Konzepten zum Abbau sprachlicher Defizite erste sozialpädagogische und sozialisationstheoretische Erklärungsansätze und Deutungsmuster entwickelt, die sich mit Sozialisationsbedingungen ausländischer Kinder und Jugendlicher befassten.

Das erziehungswissenschaftliche Interesse an der Lebenswelt der Migrantinnen und Migranten sowie ihrer Kinder führte zur Einführung und Begründung der „Ausländerpädagogik“ als einer neuen pädagogischen Subdisziplin.

Ausländerpädagogische Fragestellungen suchten den soziokulturellen und sozioökonomischen Hintergrund ausländischer Jugendlicher zu beleuchten, die familialen Normenauffassungen in den Herkunftsländern darzustellen sowie die Identitätsentwicklung bikultureller Persönlichkeiten und deren Sozialisationskonflikte zu beschreiben (Boos-Nünning, 1983b, 3-7). Im pädagogisch-didaktischen Feld wurden Forschungsarbeiten zu den Themen Zweitsprachenerwerb und Deutsch als Fremdsprache gefördert.

Der Schwerpunkt des Interesses zielte bei dem Großteil der praktischen wie theoretischen Bemühungen auf die Erleichterung der sozialen Eingliederung der jugendlichen Migrantinnen und Migranten in die bestehenden Bildungsinstitutionen und auf die Konzeptualisierung eines Identitätsentwurfs von Migrantinnen und Migranten, der im schulischen wie außerschulischen Umfeld Akzeptanz finden sollte. Darüber hinaus verstand die Ausländerpädagogik ihr Wirken als einen Beitrag zur Minderung von Konflikten zwischen Deutschen und Ausländerinnen und Ausländern. Sie ging von der Annahme aus, dass durch die Aufklärung der Mehrheitsgesellschaft über die Lebenslage junger Migrantinnen und Migranten, der vermeintliche Kulturkonflikt gemildert und ihr eingeschränkter politischer Status öffentlich problematisiert würde.

An mehreren Fachhochschulen und Universitäten wurden Studiengänge oder zumindest Studienschwerpunkte im Bereich Ausländerpädagogik zur Ausbildung zukünftiger sozial- bzw. schulpädagogischer Fachkräfte eingerichtet.

Die Einführung ausländerpädagogischer Projekte und Maßnahmen wurde von der Pädagogik als Chance gewertet, innovativ und gestaltend in den gesellschaftlichen Prozess des Zusammenlebens von In- und Ausländerinnen und Ausländern einzugreifen. Da die Anwesenheit von ausländischen Kindern und Jugendlichen in Bildungsinstitutionen zu Problemen in der pädagogischen Praxis führte und viele Lehrerinnen und Lehrer überforderte, wurde ihnen eine überwiegend handlungsbezogene Aus- und Weiterbildung angeboten, die von gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen und wissenschaftstheoretischen Fragestellungen weitgehend absah. Wenn gesellschaftlich relevante Themen aufgegriffen wurden, dann in Form einer Gegenüberstellung von Sozialisations- und Lebensbedingungen sowie der Schulsysteme im Herkunfts- und im Aufnahmeland.

Ihre Rechtfertigung als pädagogische Spezialdisziplin erhielt die Ausländerpädagogik aus ihren für Ausländerinnen und Ausländer bestimmten Integrationshilfen. Der Integrationsprozess wurde in diesem Zusammenhang als einseitiger Vorgang verstanden, bei dem Ausländerinnen und Ausländer von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft Unterstützung erwarten sollten und konnten.

Zu Beginn der ausländerpädagogischen Debatte wurde der Begriff Integration in einer Reihe theoretischer Grundlagentexte erörtert und in unterschiedlicher Form definiert (Esser, 1980). So wird einmal Integration mit einer Strategie der Mehrheitsgesellschaft gleichgesetzt, die die angenommene und vorausgesetzte Rückständigkeit der Migrantinnen und Migranten an die Normen der deutschen Gesellschaft angleichen solle (Tsiakalos, 1983, 112f.), zum anderen wird der Integrationsverlauf als eine weitgehende Partizipation der Einwanderinnen und Einwanderer am Vergesellschaftungsprozess verstanden (Hohmann, 1982, 158f.). Daneben setzt sich ein Verständnis einer prozesshaft verlaufenden Integration durch, die die Möglichkeiten einer pädagogischen Begleitung und Einwirkung vergrößert. So sollten mit Hohmann die Migrantinnen und Migranten zwar zunächst in Sprache, Kultur und Gesellschaft des Aufnahmelandes eingeführt werden, das generelle Ziel der Integration sollte jedoch ihre Partizipation an den verschiedenen Lebensbereichen sein (Hohmann, 1982, 160).

Es lassen sich zwei integrationstheoretische Ansätze benennen, die für die Fundierung und Begründung der Ausländerpädagogik von herausragender Bedeutung waren:

Hohmann unterscheidet in seinem Integrationsansatz zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Sphären und Voraussetzungen, in die sich Zuwanderinnen und Zuwanderer inte­grieren können (Hohmann, 1976a, 133f.). Er bezieht sich auf verschiedene soziale Orte, an denen integrative Prozesse stattfinden. Im Einzelnen benennt er Bildungseinrichtungen, die Öffentlichkeit, nachbarschaftliche oder berufliche Kontakte sowie Beziehungen in Freundesgruppen (Hohmann, 1976b, 89-93). Die soziale Vernetzung der Migrantinnen und Migranten öffnet ihnen den Zugang zu verschiedenen für sie relevanten Sozialisationsinstanzen, ermöglicht die Erweiterung individueller und kommunikativer Kompetenzen und fördert den Erwerb von Status- und Qualifikationsmerkmalen.

1. Hohmann stellt einen Zusammenhang zwischen ökonomischen, politischen und kulturellen Potentialen der Migrantinnen und Migranten, ihren beruflichen Fähigkeiten, dem Grad ihrer Ambiguitätstoleranz und ihren Dispositionen, an den genannten Integrationsfeldern erfolgreich teilzuhaben und teilzunehmen, fest.

Integrationsprozesse finden in unterschiedlicher Intensität in jedem der lebensweltlich relevanten Bereiche statt und können Auskunft über den Verlauf des Integrationsprozesses geben.

Dabei differenziert Hohmann zwischen drei Eingliederungsabschnitten: die Eingangs-, Aufbau- und Abschlussphase der Integration. In der ersten Phase werden die materiellen Rahmenbedingungen im Aufnahmeland sichergestellt. In der zweiten Phase geht es darum, die verschiedenen und oft gegensätzlichen Erwartungen auszubalancieren, die soziale Integration weiterzuentwickeln und die soziale Position in der Aufnahmegesellschaft zu definieren. In der abschließenden Phase ist die soziale Integriertheit der Migrantin oder des Migranten so weit stabilisiert, dass „der einzelne [...] systemisch wie sozial in den Gesellschaftsalltag eingebunden (wird)“ (Bukow, 1993, 37).

2. Bingemer/Meistermann-Seeger (Bingemer/Meistermann-Seeger, 1970, 17-24) unterscheiden drei Integrationsvarianten: die monistische, die pluralistische und die interaktionistische Integrationsebene.

  • Die monistische Integration sieht die Assimilation der Migrantinnen und Migranten in die Mehrheitsgesellschaft vor; diese verändert ihre Sozialstruktur oder das bestehende normative System trotz der demographischen Veränderungen nicht (Bingemer/Meistermann-Seeger, 1970, 19).
  • Unter pluralistischer Integration verstehen die Autoren die Koexistenz verschiedener ethnischer Gruppen in einer Gesellschaft unter Aufrechterhaltung ihrer sozialen und kulturellen Unterschiede. Im Rahmen des Konzepts bleiben die Interaktionen zwischen den Gruppen auf ein Minimum reduziert (Bingemer/Meistermann-Seeger, 1970, 20).
  • Die interaktionistische Integrationsform sieht die gegenseitige soziale und kulturelle Durchdringung der verschiedenen Gruppen vor, wodurch eine weitgehende Veränderung im soziokulturellen Regelsystem von Mehrheit und Minderheit zu erwarten ist.

Bingemer/Meistermann-Seeger verstehen ihre Überlegungen als Darstellung verschiedener Optionen für das Zusammenleben von Einheimischen und Zuwanderinnen und Zuwanderern, wobei sie die sozialpsychologische Fundierung der Einstellungsmuster betroffener Individuen oder Kollektive herausstellen.

3. Interkulturelle Pädagogik

Im Gegensatz zu dem kompensatorischen Ansatz der Ausländerpädagogik, wendet sich die Interkulturelle Pädagogik gleichermaßen an deutsche wie ausländische Schülerinnen und Schüler. Sie versteht sich als pädagogische Antwort auf die durch Zuwanderung multikulturell gewordene Gesellschaft, die „die Vielfalt der Kulturen nicht als Belastung, als Problem, als Konfliktpotential [...], sondern als Bereicherung des gesellschaftlichen wie des individuellen Lebens“ begreift (Nieke, 1991, 4).

Pommerin benennt programmatisch die Zielsetzungen der Interkulturellen Erziehung.

„Interkulturelle Erziehung ist die pädagogische Antwort auf die Realität der multikulturellen Gesellschaft. Sie nimmt gesellschaftliche Veränderungen wahr und leitet ihrerseits Innovationsprozesse ein. Sie ist ein Beitrag zur Friedenserziehung durch Konfliktlösung. Sie basiert auf kindzentrierter Pädagogik, verstanden als Lebensnähe, Selbsttätigkeit, Spontaneität und Berücksichtigung individueller Unterschiedlichkeit. Sie geht von einem erweiterten Kulturbegriff aus, sowie von flexiblen Kultur- und Sprachkapazitäten deutscher und ausländischer Kinder. Interkulturelle Erziehung versucht eine sinnvolle Koordination von Muttersprach- und Zweitsprachenunterrricht. Sie ist stadtteilbezogen, handlungsorientiert und erfahrungsoffen" (Pommerin, 1984, 41-44).

Entsprechend äußern sich auch andere Vertreter des interkulturellen Ansatzes (Hohmann, 1983, 4-8; Sandfuchs, 1986, 1147-1152; Zimmer, 1982, 378-382).

Die Konzeptualisierung der genannten pädagogischen Grundsätze stellte die Erziehungswissenschaft vor neue Aufgaben: Die zugewanderten Kinder und Jugendlichen sollten nicht länger den Akkulturationserwartungen der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt werden, da jeder von ihnen „Anspruch auf Anerkennung seiner Individualität in seiner Besonderheit [hat]; daraus folgt die Anerkennung seines spezifischen So-Seins und die Förderung der jeweiligen Tradition und Sprache“ (Hamburger, 1989, 32).

Der Blick auf die Entwicklung in klassischen Einwanderungsländern stärkte die Positionen derer, die sich gegen eine Pädagogik der Assimilierung der Minderheiten an die Mehrheitskultur einsetzten. Gerade in diesen Gesellschaften werde die „Erhaltung der kulturellen, ethnischen Identität bei gleichzeiti­ger Handlungsfähigkeit im durch die Majorität dominierten und definierten öffentlichen Alltagsleben“ (Nieke, 1991, 464) angestrebt.

Hohmann meint an der Entwicklung in Ländern mit Einwanderungstraditionen zwei pädagogische Richtungen zu erkennen: Zum einen die „Pädagogik der Begegnung“, die im Rahmen einer pluralen und multikulturellen Gesellschaft Prozesse des interkulturellen Austauschs und der interkulturellen Bereicherung zwischen den verschiedenen Ethnien fördert, und daneben die „konfliktorientierte Interkulturelle Erziehung“, die es als ihre Aufgabe betrachtet, gegen Rassismus, Ethnozentrismus und Ausländerfeindlichkeit pädagogisch vorzugehen und sich für die Rechtsgleichheit aller Mitgliederinnen und Mitglieder der Gesellschaft einzusetzen (Hohmann, 1987, 103). Sie plädiert für die Bearbeitung der entstehenden interkulturellen Konflikte durch alle an den Konflikten beteiligten Gruppen; ein solcher Prozess lässt sich dann einleiten, wenn die Bewusstmachung der Konfliktmuster gelingt.

3.1. Ansätze der Interkulturellen Pädagogik

Im Folgenden sollen einige der Ansätze Interkultureller Erziehung dargestellt werden, die im und für den Prozess der Theoriebildung der Interkulturellen Erziehung als pädagogischer Teildisziplin Bedeutung erlangten.

Hohmann geht auf die Konsequenzen ein, die für die Schulpädagogik in einer multikulturellen Gesellschaft entstehen (Hohmann, 1982, 158-161). Die Schule habe die pädagogische Aufgabe, ihre Schülerschaft auf eine soziale Existenz in einer multiethnisch geprägten Lebenswelt vorzubereiten. Nach einer Förderpädagogik für Migrantinnen und Migranten gelte es, eine Pädagogik zu entwickeln, die auch für Angehörige der Mehrheitsgesellschaft bestimmt sei und die dazu beitrage, dass die „Heterogenität der Lebensformen nicht als Problem des Unterrichts betrachtet wird, sondern die in ihr liegenden Chancen zur Gewinnung neuer Lebensmöglichkeiten genutzt werden“ (Hohmann, 1983, 6). Zugleich setzt sich Hohmann für eine Neubewertung der Migrantenkultur durch ihre Anerkennung ein, da sie Folge besonderer sozialer Beziehungen und Lebensäußerungen sei.

Werden erst einmal die durch die Zuwanderung einsetzenden sozialen und kulturellen Veränderungen als irreversibel konstatiert, wird die Aufnahmegesellschaft Folgerungen für alle am Bildungs- und Erziehungsprozess beteiligten und interessierten Gruppen ziehen und neben Toleranz und gegenseitiger Verständigungsbereitschaft auch die Kritik am Ethnozentrismus als Lern­ziel deklarieren.

Nach Hohmann sollten sich die Ansätze Interkultureller Erziehung mit der Frage befassen, wie sich sowohl die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung als auch die pädagogische Praxis dahingehend verändern lassen, dass ausländische Jugendliche ihr Recht auf Bildung wahrnehmen können (Hohmann, 1983, 4-8). In dieser Herausforderung sieht Hohmann eine Bewährungsprobe für das Bildungssystem des Aufnahmelandes, das den Charakter seiner Bildungseinrichtungen so gestalten muss, dass sich die Schule gegenüber der multikulturellen sozialen Umgebung öffnet und diese Umgebung in den Unterricht hineingeholt wird (Hohmann/Reich, 1989, 14).

Boos-Nünning (Boos-Nünning/Hohmann, 1977, 284f.) plädiert zunächst dafür, die Sozialisationserfahrungen aus­ländischer Kinder und Jugendlicher im Aufnahmeland auszuwerten und die Lehrkräfte zu befähigen, gegebenenfalls kompensatorische Fördermaßnahmen zu ihrer Unterstützung im Unterricht einzusetzen. In ihren späteren Veröffentlichungen nimmt sie Bezug auf die Multikulturalität der Gesellschaft und deren Einfluss auf den Schulalltag. Im Unterricht müssten nach Boos-Nünning neben Elementen des Unterrichts der Herkunftsländer, Aspekte der Migrationsgeschichte und der Migrantenkultur und Themen zur Situation der ausländischen Kinder in der deutschen Gesellschaft vorgesehen sein (Boos-Nünning, 1981, 8). An anderer Stelle diskutiert sie die Herausforderung, die durch die multikulturelle Situation für die deutschen Lehrkräfte und die deutsche Schulorganisation entstehe, da sowohl die Pädagoginnen und Pädagogen als auch die Bildungsinstitutionen „umlernen“ müssten (Boos-Nünning, 1983c, 11f.).

Aus einer solchen interkulturellen Perspektive ergebe sich die Notwendigkeit, dass das in der Schule vermittelte kulturelle Normensystem durch eine kritische Revision der Lehrinhalte auf seine nationalkulturellen Aussagen überprüft werden müsste.

Boos-Nünning leitet daraus ein Vier-Stufen-Modell zur Durchsetzung der Interkulturellen Erziehung ab (Boos-Nünning, 1991, 117):

In der ersten Stufe sollen Traditionen sowie kulturbedingte Einstellungen von Angehörigen anderer ethnischer Gruppen zur Kenntnis genommen und die Relativierung der eigenen Standpunkte vorgenommen werden.

In der zweiten Stufe wird Toleranz gegenüber anderen Kulturen und die Anerkennung von deren Sinnhaftigkeit eingeübt, auch wenn die kulturellen Deutungsmuster der anderen den eigenen Vorstellungen entgegenstehen, bedrohlich wirken oder unberechenbar erscheinen.

In der dritten Stufe ist der interkulturelle Lernprozess so weit gediehen, daß mit der Bereitschaft gerechnet werden kann, die jeweils anderen Kulturen als gleichwertig anzusehen.

In der vierten Stufe setzt ein Prozess ein, den Hohmann als „interkulturelle Bereicherung“ (Hohmann/Reich, 1989, 15) bezeichnet, da Elemente anderer Kulturen in die eigene einbe­zogen werden.

In ihrer „interkulturellen Hypothese“ entwerfen Boos-Nünning, Hohmann, Reich und Wittek (Boos-Nünning, 1983b) Grundzüge eines Unterrichts, in dem Schülerinnen und Schüler multikulturell zusammengesetzter Klassen Kulturkonflikte auszutragen lernen, die in der Konfrontation unterschiedlicher Erfahrungen und Deutungsmuster zum Ausdruck kommen. Es müsste gewährleistet sein, dass ein solcher Unterricht

„Äußerungschancen für alle Beteiligten anbietet (...). Sein affektives Ziel, Interesse und Empathie für andere Lebensformen zu wecken, wird so ergänzt um die Ziele, zum Einverständnis mit der eigenen Biographie zu finden und Mut zu bewussten Entscheidungen zu haben“ (Boos-Nünning, 1983a, 361).

Die vielfältigen Ansätze der Interkulturellen Pädagogik lassen sich nach theoretischen Grundannahmen, pädagogischen Prinzipien und methodisch-didaktischen Gesichtspunkten differenzieren und wie folgt bündeln (Kämper, 1992, 18-20):

1. Konzeptionen, die aus humanistischen Motiven die Ideen der Toleranz und Empathie befürworten und bei den Lernenden durch Förderung der interkulturellen Begegnung und gemeinsame Bearbeitung problematischer Situationen Aufgeschlossenheit für Alternativen und wechselseitiges Verständnis wecken wollen (Diekopp, Essinger, Hohmann, Vink u.a.).

2. Konzeptionen, die davon ausgehen, dass Kultur und Identität gesellschaftlich bedingt und historisch veränderbar sind. Die zentrale Aufgabe Interkultureller Erziehung wird darin gesehen, Migrantenkinder bei der Entwicklung einer neuen Migrantenkultur bzw. -identität zu unterstützen und sie zu befähigen, in der Migrantensituation widersprüchliche kulturelle Einflüsse auszuhalten (Akpinar, Klemm u.a.).

3. Konzeptionen, die sich an der europäischen Aufklärungsphilosophie orientieren und Kultur mit historisch-gesellschaftlich vermittelter Denkerfahrung gleichsetzen. Kulturelle Besonderheiten stellen vor diesem Hintergrund keinen Wert „an und für sich“ dar. Interkulturelle Erziehung soll dazu beitragen, die kulturellen Befangenheiten zu erkennen und sich aus ihnen zu befreien (Borrelli, Pommerin, Ruhloff u.a.).

4. Konzeptionen, deren Ziel es ist, die Handlungskompetenzen junger Migrantinnen und Migranten dadurch zu erweitern, dass ihre Minderheitenkultur in den pädagogischen Prozess einbezogen wird. Die Förderung der Bikulturalität soll den Zuwanderinnen und Zuwanderern die Möglichkeit öffnen, eine reflektierte ethnische Identität zu bilden, die sich von der Kultur des Herkunfts- und der des Aufnahmelandes abgrenzt (Auernheimer, Boos-Nünning u.a.).

3.2 Normative Zielvorstellungen der Interkulturellen Pädagogik

Fragen zur Multikulturalität gingen im Bildungsbereich zunächst von der in den fünfziger Jahren einsetzenden Arbeitsmigration aus und bezogen sich auf das Engagement einzelner Initiativgruppen. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde auch die Zielsetzung schulischer und außerschulischer Kinder- und Jugendarbeit im Rahmen ausländerpädagogischer Überlegungen diskutiert.

Die ausländerpädagogischen Konzepte gingen entweder von einer sicheren Rückkehr der Jugendlichen nach einem mehrjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik, ihrer dauerhaften Niederlassung im Aufnahmeland oder aber von beiden Optionen aus. Daher wurde zum einen der muttersprachliche Unterricht eingeführt, der der Schülerschaft die Geschichte und Kultur ihres Herkunftslandes näherbringen sollte (Klemm, 1984, 92-95), zum anderen wurden zeitlich befristete Vorbereitungsklassen eingerichtet, die den Jugendlichen den Übergang in den Regelunterricht erleichtern sollten.

Erkennbar ist auch, dass die kulturelle Realitätsverarbeitung der Migrantinnen und Migranten in zunehmendem Maß zum Gegenstand pädagogischen Interesses wurde, wodurch das Verhältnis zwischen der Mehrheitskultur und den verschiedenen Herkunftskulturen sich als Thema pädagogischer Reflexion anbot. Das ausländerpädagogische Konzept wurde daraufhin zugunsten einer neuen pädagogischen Subdisziplin, der „Interkulturellen Pädagogik“ (Ruhloff, 1983), revidiert.

In ihrem Selbstverständnis ist das Spektrum der Interkulturellen Pädagogik weit gespannt: So wird sie einmal als „politische Pädagogik“ (Essinger, 1986, 74) bezeichnet, an anderer Stelle wird sie mit Pädagogik (Borrelli, 1986, 24f.) schlechthin gleichgesetzt, dann wird sie als kritische Wissenschaft, „als ideologiekritische Instanz“ (Borrelli, 1988, 3) konzipiert oder es wird dafür plädiert, Interkulturelle Erziehung als „allgemeines Prinzip, das durchgängig in allen Bereichen unseres Bildungssystems zur Geltung gebracht werden muss“ (Hegele, 1986, 158) anzuerkennen. Sie formuliert dabei vor dem Hintergrund der genannten Konzeptionen die folgenden Zielsetzungen für die pädagogische Praxis (Nieke, 1992, 47-50):

1. Kontakt und Information zum Abbau von Unkenntnis und daraus resultierender Distanz

Dieser Aspekt begründet die Konflikte zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den zugewanderten ethnischen Gruppen in deren mangelnden Kenntnissen voneinander und plädiert für pädagogisch angeleitete Begegnungen zum Abbau bestehender Wissensdefizite.

2. Kulturelle Bereicherung

Diese Dimension konzentriert sich auf die Darstellung kulturspezifischer Ausdrucksformen der Gruppen untereinander, die die gegenseitige Wertschätzung fördert und für die Übernahme von Elementen der fremden Kultur in die eigene Alltagskultur optiert.

3. Vernünftiger Umgang mit der Befremdung

Diese Forderung geht von der These aus, dass die Gründe der ausländerfeindlichen Haltung bei beträchtlichen Teilen der Mehrheitsgesellschaft in dem Erlebnis der Befremdung zu suchen seien.

Die Begegnung mit Angehörigen anderer Kulturkreise löst Irritationen aus, da die eigenen Deutungen und Orientierungsmuster von diesen in Frage gestellt werden. Auf derlei Verunsicherungen lassen sich unterschiedliche Reaktionen beobachten: Entweder Interesse am Unbekannten in Verbindung mit dem Wunsch nach Auseinandersetzung mit der fremden Kultur oder Abwehr der Fremden, deren traditionelle lebensweltliche Sinnstrukturen als bedrohlich wahrgenommen werden. Die Majorität reagiert auf die Verunsicherung mit dem Wunsch nach Anpassung der Fremden oder mit der Forderung nach deren Remigration. Eine weitere Konsequenz des Fremdheitsgefühls ist der Wunsch nach Segregation der verschiedenen ethnischen Gruppen durch abgetrennte Wohngebiete.

Interkulturelle Erziehung sollte diesen Befremdungserfahrungen durch Konzepte gegen Rassismus oder Ethnozentrismus entgegentreten, sich also vorrangig mit den Identitätsproblemen der Mehrheitsgesellschaft befassen.

4. Verantwortlicher Umgang mit ethnischen Minoritäten

Dieser Leitgedanke begnügt sich nicht damit, die psychologische Ebene des Verhältnisses zwischen Deutschen und Ausländerinnen und Ausländern zu thematisieren, sondern greift zusätzlich die soziale und politische Lage der Zuwanderinnen und Zuwanderer auf. Aufgabe der Interkulturellen Erziehung ist demnach die Erziehung zur Solidarität mit den ethnischen Minderheiten, die ihre Forderungen nach größerer politischer Teilhabe und die Herausbildung einer politisch fundierten Ethnizität unterstützt.

Des Weiteren soll die Interkulturelle Pädagogik die Besetzung von Positionen im Bildungsbereich mit hoher sozialer Wertschätzung durch Migrantinnen und Migranten dadurch fördern, dass sie versucht Rahmenbedingungen für deren gezielte berufliche Qualifizierung zu schaffen.

5. Überwindung von Ethnozentrismus

Angehörige unterschiedlicher Ethnien beziehen sich in Kommunikationsprozessen auf ihre verschiedenen kulturbedingten Deutungsmuster. Als Folge stellen sich Verständigungsprobleme und Missverständnisse ein. Die Aufgabe der Interkulturellen Erziehung ist es, sowohl divergierende kulturzentrische Interpretationen von Alltagshandlungen bewusst zu machen, als auch die kulturelle Befangenheit der jeweiligen Einstellungen zu verdeutlichen.

Diese pädagogische Intervention zielt nicht auf die Aufhebung bestehender emotionaler oder kognitiver lebensweltlicher Verankerungen, sondern auf die Herausbildung einer interkulturellen Kompetenz auf der Grundlage eines aufgeklärten Ethnozentrismus. Das soll zu einem sensiblen Umgang mit unterschiedlichen kulturellen Deutungen befähigen, ohne diejenigen Perspektiven, die von der eigenen Sichtweise abweichen, zu entwerten.

6. Umgang mit Fremdheit

Die Interkulturelle Erziehung weiß um den hohen Grad der Verunsicherung, die eintritt, wenn im Alltag Angehörige unterschiedlicher ethnischer Gruppen aufeinandertreffen. Abwehr und Aggression gegenüber Fremden sind oft die Folge der Infragestellung eigener Orientierungen. Wissensvermittlung über andere Kulturen verstärkt nicht selten bestehende Vorbehalte, sodass Lernkonstellationen geschaffen werden müssen, die eine emotionale Auseinandersetzung mit Fremderfahrungen ermöglichen, ohne sogleich Abwehr und das Gefühl der Bedrohung hervorzurufen.

7. Lernziel: Toleranz

Toleranz gegenüber der Lebenspraxis und den Wertüberzeugungen von Angehörigen anderer ethnischer Gruppen sollten im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaftsordnung unstrittig sein, solange ein allgemeiner Konsens über die verfassungsrechtlichen Grundregeln des Zusammenlebens besteht und befolgt wird.

8. Akzeptanz von Ethnizität

Angehörige ethnischer Gruppen haben das Recht, ihre kulturellen Traditionen zu pflegen. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher kultureller Muster fördert eine Auseinandersetzung mit anderen Kulturen, in deren Verlauf die jedem kulturellen System innewohnenden ethnozentrischen Züge problematisiert werden.

9. Solidarität

Die Solidarität der Minderheitengruppen untereinander soll ebenso gefördert werden wie die Solidarität zwischen Mehrheitsgesellschaft und den Minderheiten, da diese bei ihren Bemühungen um die Ausweitung ihrer politischen Rechte und der Erhaltung ihrer kulturellen Identität auf Unterstützung und Schutz angewiesen sind.

10. Umgang mit Kulturkonflikten

Die Multikulturalität einer Gesellschaft zieht notwendigerweise kulturell bedingte Konflikte nach sich. Es gilt deshalb, Regelungen und Schlichtungsverfahren einzuführen, auf die sich die unterschiedlichen ethnischen Parteien verständigen und die im Konfliktfall zur Anwendung kommen.

11. Gegenseitige kulturelle Bereicherung

Im Rahmen der Interkulturellen Erziehung soll jede Teilkultur angeregt werden, Elemente fremder kultureller Traditionen in die eigene Kultur aufzunehmen.

Ziel aller migrationspädagogischen Überlegungen ist es, eine pädagogische Antwort auf die Migrationssituation zu entwickeln, die dem Umstand Rechnung trägt, dass das Bildungswesen der Bundesrepublik sich auf Angehörige unterschiedlicher ethnischer Gruppen einstellen muss.

Die Konzeptualisierung der Interkulturellen Erziehung wirft zentrale Fragen auf, die sich um das dialektische Spannungsverhältnis von Gleichheit und Differenz bewegen. Die kontroversen Positionen lassen sich an unterschiedlichen politischen und anthropologischen Grundannahmen ebenso festmachen wie an der Bandbreite theoretischer Ansätze, die assimilativen, integrativen, universalistischen oder auch kulturrelativistischen Überlegungen folgen (Krüger-Potratz, 1987, 116-127).

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Weiterführende Lektüre zu migrationspädagogischen Aspekten (Auswahl):

  • Auernheimer, Georg, Einführung in die Interkulturelle Pädagogik, Darmstadt 8. Aufl. 2016.
  • Gogolin, Ingrid (Hg. u.a.), Handbuch Interkulturelle Pädagogik, Bad Heilbrunn 2017.
  • Hamburger, Franz, Abschied von der Interkulturellen Pädagogik. Plädoyer für einen Wandel sozialpädagogischer Konzepte, Weinheim/Basel 3. Aufl. 2018.
  • Meceril, Paul (Hg.), Handbuch Migrationspädagogik, Weinheim/Basel 2016.

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