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Erlassjahr

(erstellt: Februar 2009)

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1. Die Bestimmung von Dtn 15,1-11

Das Erlassjahr, wie es Dtn 15,1-11 konzipiert, ist aus dem Brachjahr (→ Brache / Brachjahr) des → Bundesbuches (Ex 23,10f) hervorgegangen und wird im → Jobeljahr des → Heiligkeitsgesetzes (Lev 25) fortentwickelt. Nach Ex 23,10f sieht das Brachjahr eine agrarische Brache für Felder, Weinberge und Ölpflanzungen nach sieben Jahren vor. Sie wurde wahrscheinlich individuell für jedes Grundstück berechnet, sodass immer ein Siebtel des Landes brach lag. Dtn 15,1-11 macht daraus einen allgemeinen Schuldenerlass, der zu einem feststehenden Termin im Siebenjahresrhythmus erfolgt. Dtn 15,1-3 enthält die eigentliche Gesetzesbestimmung. Danach ist der Erlass „am Ende von sieben Jahren“ zu halten (Dtn 15,1). Er besteht darin, dass der Gläubiger das, was er bei seinem Nachbarn und seinem Bruder ausstehen hat, „loslässt“ oder „erlässt“ (Wurzel šmṭ), weshalb von einem „Erlass / Erlassjahr für JHWH“ (šemiṭṭah) gesprochen wird (Dtn 15,2). Vom Erlass ausgenommen sind Ausländer (Dtn 15,3). Das hängt damit zusammen, dass es sich bei ihren Krediten nicht um Notdarlehen, wie beim Nachbarn und Bruder, handelt, sondern um reine Handelskredite zum Erzielen von Gewinn. Sie werden ohnehin nur zurückgezahlt, wenn die gemeinsame Unternehmung gelingt; in diesem Fall ist aber auch nicht einzusehen, warum die Rückzahlung wegen einer Regelung in sozialer Absicht unterbleiben sollte.

Nach einem Einschub in Dtn 15,4-6, der für den Fall des umfassenden Toragehorsams das Ende der Armut im Land verspricht, kehrt Dtn 15,7-11 in die harte Realität zurück. Hier wird der nahe liegende Fall ins Auge gefasst, dass beim Herannahen des Erlassjahres die Neigung zur Vergabe von Krediten zum Erliegen kommt. Dagegen helfen keine gesetzlichen Regelungen mehr. Deshalb geht Dtn 15,7-11 in appellativen Predigtstil mit Anrede in der 2. Person über. Eindringlich wird ermahnt, auch bei herannahendem Erlassjahr großzügig Kredite zu vergeben. Untermauert wird die Mahnung durch den Verweis auf den Notschrei des Armen, der zur Sünde beim hartherzigen Kreditverweigerer wird (Dtn 15,9), sowie auf den Segen, der bei großzügigem Tun von JHWH ausgeht (Dtn 15,10).

Historisch greift die Erlassjahrkonzeption auf die Praxis von Schuldenerlassen altorientalischer Herrscher zurück. Diese wurden gelegentlich, wohl besonders anlässlich von Thronwechseln, verfügt, um das soziale Gleichgewicht im Land wieder herzustellen. Wie das Edikt des altbabylonischen Königs Ammi-ṣaduqa zeigt, konnte auch dabei wie in Dtn 15,1-3 zwischen Notkrediten, die zu erlassen waren, und Handelskrediten, bei denen die Tafel mit dem Schuldvertrag „nicht zerbrochen“ werden musste (§§ 6 und 7 des Edikts), unterschieden werden. Der von → Nehemia in Jerusalem Mitte des 5. Jh.s verfügte Schuldenerlass (Neh 5,1-13) liegt ganz auf der Linie solcher herrscherlicher Eingriffe. Das Neue der → deuteronomischen Konzeption ist demgegenüber die Verstetigung im Siebenjahresrhythmus und damit die Berechenbarkeit für Schuldner und Gläubiger.

2. Die Erlassjahrpraxis in der Zeit des zweiten Tempels

Erwähnungen von Steuerbefreiungen im siebten Jahr wegen dann nicht vorhandener Ernten und von Lebensmittelmangel aufgrund des Brachjahres, der u.a. die jüdischen Verteidiger bei Belagerungen schwächt (Josephus, Antiquitates Judaicae XI, 8,5; XII, 9,5; XIV, 10,6; XV, 1,2; 1Makk 6,49.53; → Brache / Brachjahr), weisen darauf hin, dass im Judentum der hellenistisch-römischen Zeit das siebte Jahr als Brachjahr gehalten wurde. War es aber auch das Jahr eines allgemeinen Schuldenerlasses? Die in Neh 10 überlieferte gemeindliche Selbstverpflichtung sieht es jedenfalls vor, wenn sie für das siebte Jahr fordert, jede Schuld zu erlassen (Neh 10,32, in sprachlicher Anlehnung an Dtn 15,2). Dafür, dass dies zumindest in römischer Zeit umgesetzt wurde, gibt es sichere sowohl direkte als auch indirekte Belege. So wird auf einem Schuldvertrag aus dem Wādī Murabba‘āt aus der Mitte des 1. Jh.s n. Chr. ausdrücklich das Erlassjahr erwähnt (mit dem Terminus šemiṭṭah). Indirekt vorausgesetzt wird die Erlassjahrpraxis durch den so genannten Prosbol, den Rabbi Hillel, ein Zeitgenosse Jesu, einführt. Er ermöglicht durch Hinterlegung des Schuldvertrags bei einem Gericht die Umgehung des Erlasses, eine Maßnahme, die Hillel zugesteht, um die in Not geratenen Menschen seiner Zeit überhaupt noch an Kredite kommen zu lassen, die sie zum Überleben brauchen. Dass dieser Ausweg nicht unumstritten ist, zeigt ein Dokument aus der Jesusbewegung des 1. Jh.s. Lk 6,35 fordert nämlich, in strenger Anwendung der Mahnung von Dtn 15,7-11: „Leiht denen, von denen ihr nichts zu hoffen habt!“

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007

2. Weitere Literatur

  • Groß, W., 2000, Die alttestamentlichen Gesetze zu Brache-, Sabbat-, Erlaß- und Jubeljahr und das Zinsverbot, ThQ 180, 1-15
  • Horst, F., 1961, Das Privilegrecht Jahwes. Rechtsgeschichtliche Untersuchungen zum Deuteronomium, in: ders., Gottes Recht. Gesammelte Studien zum Recht im Alten Testament (ThB 12), München, 17-154
  • Kraus, F.R., 1958, Ein Edikt des Königs Ammi-ṣaduqa von Babylon (SDIO 5), Leiden
  • Lemche, N.P., 1976, The Manumission of Slaves – The Fallow Year – The Sabbatical Year – The Jobel Year, VT 26, 35-59
  • Wacholder, Ben Zion, 1973, The Calendar of Sabbatical Cycles During the Second Temple and the Early Rabbinic Period, HUCA 44, 153-196

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