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(erstellt: September 2015)

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Blut; → Blutrache; → Ethik; → Recht

1. Gewaltsam vergossenes Blut und Blutschuld

Die Wortkombination „Blutschuld“, die im Deutschen die Schuld am gewaltsamen Tod eines Menschen meint, bringt im Alten Testament den Gedanken zum Ausdruck, dass gewaltsam vergossenem Blut, wie Blut generell, eine Wirkmächtigkeit inhärent ist. Sie wirft zugleich die Frage der Schuld auf. Im Hebräischen wird Blutschuld mit demselben Begriff wie Blut (דָּם dām) bezeichnet. Hebräisch דָּם dām „Blut“ kennt dabei sowohl eine Singular- als auch eine Pluralform, wobei Letztere vor allem gewaltsam vergossenes Blut meint.

Der Materie Blut ist eine immaterielle Kraft inhärent, sie ist gleichsam beseelt. In der älteren Forschungsgeschichte wurde dies als animistische Auffassung bezeichnet (Reventlow). In kulturanthropologischer Perspektive lässt sich dies innerhalb des Symbolsystems der Befleckung und der Reinigung deuten (Erbele-Küster 2011; Hartenstein). Die dahinterliegende Annahme ist, dass im Blut das Leben (hebr. נֶפֶשׁ næfæš) einer Person bzw. eines Tieres ist (Gen 9,4; Lev 17,11.14; Dtn 12,23). Das → Heiligkeitsgesetz in Lev 17,11.14 formuliert dies in äußerster Verdichtung mit der Gleichung: „Le­ben ist Blut“, daher ist der Verzehr von Blut verboten. Nach der → Sintflut (Gen 9,6) wird das Verbot, menschliches Blut zu vergießen, zugleich mit Rückgriff auf die → Gottebenbildlichkeitsaussage der Schöpfungserzählung in Gen 1,26ff begründet. „Blut (Sing. / Pl.) vergießen“, heißt entsprechend Leben gewaltsam beenden, gewaltsam töten (Gen 9,16; Num 35,33; Ez 16,38; Ez 18,10 u.ö.). Nach Lev 17,4 ist es sogar eine Bluttat, wenn man bei einer → Schlachtung das Blut eines Tieres vergießt, ohne es am Altar zu versprengen, d.h. Gott darzubringen.

Das „freigesetzte“ Blut wird dem Tierschlächter als Blut bzw. als Blutschuld angerechnet. Auch ein Tier kann Blutschuld auf sich laden ( Ex 21,28-32).

In der Gerichtsrede in Ez 22,1-13 werden unter der Wendung „Blut (vergießen)“ unterschiedliche soziale und kultische Vergehen subsumiert, und nicht nur Blutvergießen im eigentlichen Sinne (Ez 22,3.9.12). Zugleich wird „Blut“ im Sinne von Blutschuld verwendet (Ez 22,1.13).

Das auf die Erde vergossene Menschenblut schreit zum Himmel (

Gen 4,9; Koch) bzw., in priesterschriftlichem Gedankengut ausgedrückt (→ Priesterschrift), das Land wird durch Blut bzw. Blutschuld verunreinigt (Num 35,33.34). Gewaltsam vergossenes Blut kann entsprechend nicht einfach „ausgeräumt“, „abgewischt“ oder „durch Lösegeld gesühnt“ werden, sondern haftet am Gewalttäter, an dessen Kopf (1Kön 2,33 u.ö.), Händen (Jes 1,15) oder Schuhen (1Kön 2,5), an der Familie des Getöteten oder am Land. Die Ernsthaftigkeit der Auffassung vom vergossenen Blut bildet sich darin ab, dass ein Entsühnungs-Ritual (→ Sühne) für die Gemeinschaft eingesetzt wird, falls ein Mörder nicht ausfindig gemacht werden kann (Dtn 21,1-9; Eberhardt; Olson), oder dass die Auslösung eines Mörders mit einem Geldwert abgewiesen wird (Dtn 29,21; Num 35,31f). Blut wird somit auch rituell zur Reinigung von Blutschuld vergossen (vgl. Lev 16).

Der Gedanke der Blutschuld wird mittels einer in Variationen vorliegenden Formel ausgedrückt: „sein Blut auf ihm“ (דָּמָיו בּוֹ; in Lev 20 und in dem davon beeinflussten Text Ez 18,13) bzw. „sein Blut auf seinem Haupt“ (דָּמוֹ בְרֹאשׁוֹ; Jos 2,19; 1Kön 2,32.37; Ez 33,4) und in Dtn 19,10 „Blut über ihm“ (עָלֶיךָ דָּמִים). In Dtn 22,8 ist davon die Rede, dass „Blut auf dein Haus“ (דָּמִים בְּבֵיתֶךָ) kommt, d.h. auf das Haus des nachlässigen Besitzers und seiner Familie.

Die ältere Forschung erklärte die Wendungen als Formel, die der Bluträcher zur Abwendung von Schuld gesagt haben soll, und verstand sie als Ausdruck dafür, dass Gott im Vollzug der Blutrache der Handelnde ist (vgl. Dtn 32,43; 2Kön 9,7 „am Blut seiner Diener“; s. 3.3.1.). Allerdings werden die Formulierungen („sein Blut auf seinem Haupt“ etc.) im Alten Testament nicht dem Bluträcher in den Mund gelegt; im narrativen Kontext in 1Kön 2,32.33.37 etwa verwendet sie der Auftraggeber der Blutrache.

Klaus Koch bestreitet, dass die Wendung einen Rechtssatz darstellt. Er spricht im Rahmen seiner Theorie der „schicksalwirkenden Tatsphäre“ (→ Tun-Ergehen-Zusammenhang) mit Blick auf das gewaltsam vergossene Blut von „Blutsphäre“ (Koch 1962) und meint damit eine dingliche raumerfüllende Substanz der Tat um den Täter. Der Gedanke, dass ein Verschulden „auf das eigene Haupt zurückfällt“, wird in 1Kön 2,33 zusätzlich mit der analogen Wendung „seine Bosheit komme auf sein Haupt“ (1Kön 2,44) ausgedrückt.

Die in Variationen überlieferte Wendung impliziert ein mehrfaches: 1. Der Vollstrecker der Todesstrafe bleibt schuldlos, weil das Blut auf dem zu Recht gestraften Täter bleibt. 2. Das Blut, das (unschuldig) vergossen wurde, fällt auf den Täter zurück, so dass auch dessen Blut vergossen wird, jedoch ist das Umfeld des Getöteten vom Blut befreit. In der Forschung wird dabei zu selten beachtet, dass sich diese doppelte Bedeutung in den unterschiedlichen Aussagen darüber spiegelt, wessen Blut auf die Person zurückkommt: das des Getöteten (1.) oder das des Täters (2.).

So stehen in der Erzählung in 1Kön 2,26-35 die beiden Vorstellungen nebeneinander: In 1Kön 2,33 heißt es, das Blut der unschuldig Getöteten komme auf das Haupt des Täters zurück, und in 1Kön 2,32, das Blut des Täters, das in der Todesstrafe vergossen wird, laste auf ihm selbst und seinen Nachkommen und nicht auf dem Vollstrecker. In freier Abwandlung der Wendung in dem spät-nachexilischen Gerichtswort spricht Zion zu Babel (Jer 51,35): „mein Blut [sei/komme] zu ihm“. Das Blut, das die Chaldäer vergossen haben, und all ihre Unrechtstaten fallen gleichsam auf sie zurück.

Eine dritte Bedeutungsnuance (3.) findet sich in Jos 2,19: → Rahab erhält von den Leuten → Josuas die Zusage, dass ihr und ihrer Familie bei der Einnahme → Jerichos nichts geschehe. Zur Bekräftigung dessen steht die Formel zweimal: mit Blick auf den Getöteten und mit Blick auf den Mörder bzw. sein Umfeld. Falls nämlich jemand aus dem Haus geht und getötet wird, soll sein eigenes Blut über ihn kommen, d.h. er ist an seiner Ermordung selbst schuld. Falls er jedoch im Haus getötet wird, tragen Josuas Leute die Blutschuld. Der Vers macht damit die Alternative auf, dass Blutschuld entweder auf den Täter oder auf den Getöteten selbst kommen kann.

Bereits der Überblick macht deutlich, dass wir es mit einer Variationsbreite der Formel “sein Blut auf ihm bzw. seinem Haupt“ sowie ihrer Verwendungskontexte zu tun haben.

2. Zur Rechtsgeschichte

Der Blutschuldgedanke berührt unterschiedliche Rechtsfragen und machte eine rechtshistorische Entwicklung durch, die anhand der alttestamentlichen Rechtstexte nachgezeichnet werden soll (2.2.). Damit einher gehen literaturgeschichtliche Fragestellungen (s. 3.). Gepaart mit dem Gedanken der Blutschuld ist das Institut der Blutauslösung (2.1.).

2.1. Das Institut der Blutauslösung

Auf gewaltsames Vergießen von Blut reagiert die Familie des Getöteten mit → Blutrache. Eckart Otto (2014) versteht diese als eine unmittelbare Rechtsreaktion der geschädigten Familie. Die hinter dem Blutrecht liegende Idee, so die Rechtssoziologie, ist, dass es um eine rechtlich geregelte Eindämmung der Gewalt und der Wiederherstellung der verletzten Rechtsordnung geht. Dies wird durch mehrere alttestamentliche Rechtstexte geregelt, wobei im Lauf der Zeit die Strafkompetenz von der Familie auf die Gemeinschaft bzw. eine Rechtsinstitution verlagert wurde. Vereinzelt wird jedoch bestritten, dass es sich bei der intergentilen Blutauslösung um ein Rechtsinstitut handle (Koch 1962).

Anders als in der Forschungsliteratur und in der Rezeptionsgeschichte, wo mehrheitlich von Blutrache gesprochen wird, spricht das Alte Testament selbst bei menschlichem Subjekt vom „ Auslösen des Blutes“; ausschließlich wo Gott als Handelnder beschrieben wird, ist vom „Rächen des vergossenen Blutes“ die Rede – dann mit Blick auf ein Kollektiv (Dtn 32,43; in der Prophezeiung des Prophetenjüngers an → Jehu 2Kön 9,7). Entsprechend plädiert Walter Dietrich (2002) gegen die Angleichung an den deutschen Sprachgebrauch mit der Verwendung des Begriffs Bluträcher, da es nicht um Rache gehe, auch wenn Dtn 19,6 durchaus mit dem Aufflammen von Emotionen im Herzen des Blutauslösers rechnet, und auch die hebräische Wortverbindung einen sachlichen Ausdruck wählt, indem sie vom Auslösen, Freikaufen des Blutes spricht (Num 35,19.21.24.25.27; Dtn 19,6.12; Jos 20,3.5.9; 2Sam 14,11). Er übersetzt entsprechend mit „Blutauslöser“. Otto verwendet neben „Blutrache“ auch „Blutrecht“ und betont damit den rechtlichen Aspekt.

In poetischen und paränetischen Texten bzw. in Rechtsbegründungen in narrativem Kontext werden für den Vollzug der Blutrache Verbindungen „wie Blut aufsuchen bzw. einfordern“ verwendet ( Gen 9,5; 2Sam 4,11; Ez 3,18.20; Ez 33,6; Ps 9,13). Die dahinterliegende Idee ist, dass das Blut des Getöteten beim Mörder und seinem Umkreis bzw. einem Dritten, der keine Warnung aussprach, aufgesucht wird, um es von dort zurückzuholen. Darauf verweist → David gegenüber den Mördern → Eschbaals, bevor er sie umbringen lässt (1Kön 2,33). Das → Ezechielbuch verschärft den Gedanken, indem es die Idee entwickelt, dass das Blut aus der Hand des vermeintlich unbeteiligten Dritten, der den Bluttäter nicht gewarnt hat, eingefordert wird.

Doch welche Schlüsse sind von diesen nicht legislativen Verwendungskontexten, in denen vielfach Gott das Subjekt bzw. der Garant der Einforderung des Blutes ist, für ein Rechtsinstitut zu ziehen? In dem in die Erzählung eingebundenen Tötungsverbot in Gen 9,5f wird Gott als Subjekt des Blutrechts gedacht: Gott selbst fordert das Blut zurück und sucht es auf beim Einzelnen (vgl. Ez 33,6). Ähnlich wird Gott im Psalmgebet als derjenige beschrieben, der den Notschrei hört und die Blutschuld einfordert (Ps 9,13).

Rechtstexte, wie Ex 21,11-14 oder Dtn 19,1-13, sprechen von der Rolle der Ortsgerichtsbarkeit und der Schaffung von Asylorten (→ Asyl), die einem weiteren Blutvergießen entgegen wirken können. Die Erzählung in 2Sam 14 setzt die Praxis der Blutrache durch Mitglieder der Sippe voraus und argumentiert gleichzeitig mit der vermittelnden Rolle des Königs in dieser Sache.

Die legislativen Texte, so Eckart Otto, lassen die funktionale und strafrechtliche Bedeutung des Instituts der Blutauslösung im Antiken Israel, das der Prävention dient sowie die Rechtserwartung regelt, erkennen (Otto 2014). Wie das familiengebundene Recht der Blutrache an die örtliche Gerichtsbarkeit übertragen und mit dem Gedanken des kommunalen Asyls verbunden wurde (Wagner 2009), soll nun entfaltet werden (s. 2.2.).

2.2. Rechtshistorische Entwicklung der Körperverletzung mit Todesfolge

Durch die Kombination von rechtshistorischen mit literaturgeschichtlichen Analysen des Penta- bzw. Hexateuchs wird eine Entwicklung des biblischen Strafrechts mit Blick auf die „Blutrache“ vorgenommen (Otto 1994; 2014; Ruwe 2000). Folgende Texte sind dabei in den Blick zu nehmen: Ex 21,11-14; Num 35; Dtn 19,1-13; Jos 20,1-9.

2.2.1. Ex 21,11-14. Am Anfang steht der todesrechtliche Rechtssatz im → Bundesbuch in Ex 21. Er versucht, die Bluttat in der gentilen Rechtsgemeinschaft durch die Generalprävention der Todessanktion zu verhindern: „Wer einen Menschen schlägt, so dass er stirbt, muss getötet werden“ (Ex 21,12). Die nachfolgenden Verse eröffnen die Möglichkeit der Zuflucht zum Altar. Entsprechend haben wir es mit einem Zusammenwirken von kultischen und rechtlichen Instanzen zu tun (Crüsemann 1992; vgl. 1Kön 2). Ex 21,13-14 verlagert den Todesfall an die Ortsgerichtsbarkeit, wodurch eine Unterscheidung zwischen Mord und Körperverletzung mit Todesfolge eingeführt wird (Otto 2012a). Die Ortsgerichtsbarkeit soll darüber entscheiden, ob der Täter schuldig ist; solange kann er am Altar → Zuflucht suchen. Darüber hinaus wird diese Differenzierung zwischen Mord und Körperverletzung mit Todesfolge durch die Rechtsfiktion ermöglicht, dass im Falle der versehentlichen Tat Gott der Urheber der Tat sei (Otto 1994). Damit treibt eine gesellschaftlich-soziologische und theologische Differenzierung die Entwicklung des Strafrechts der Blutrache voran. Ähnlich kann in hethitischen und altrömischen Gesetzen die Schuldhaftung des Täters reduziert werden, indem die Waffe oder Hand als Subjekt gesehen und für die Tat verantwortlich gemacht wird (Otto 1994).

2.2.2. Dtn 19,1-13. Dieser Text spricht im Unterschied zu Ex 21 nicht vom Heiligtumsasyl (→ Asyl), sondern von der Notwendigkeit, dass je nach Größe des Landes drei bzw. sechs Städte als Asylorte bestimmt werden. Durch die angeordnete Einrichtung von Asylstädten für den Verursacher einer Körperverletzung mit Todesfolge soll verhindert werden, dass weiteres unschuldiges Blut vergossen und Blutschuld angehäuft wird. Das angesprochene männliche Du, das am Totschläger die Todesstrafe vollziehen will, würde laut Dtn 19,10 wieder Blut auf sich bringen. In der Verwendung des Ausdrucks wird die sogenannte Schutzformel in Dtn 19 damit umgedreht: Derjenige, der das Blut des Mörders vergießen würde, würde ebenfalls Blutschuld auf sich laden.

2.2.3. Num 35. War mit Ex 21,13f eine generelle Differenzierung zwischen absichtlicher Tötung und Körperverletzung mit Todesfolge eingeführt, so versucht Num 35 Kriterien der Unterscheidung zu finden, v.a. mit Blick auf die Mordwaffe. Ruwe (2000) betont, dass Num 35 gegenüber Dtn 19 die Gewichtung auf die Sanktionierung der Menschentötung lege. Das Vergießen von Blut greift schwerwiegend in die Kosmologie ein – so das Denken der priesterschriftlichen Kreise (vgl. Gen 6,11; Gen 9,5f; → Priesterschrift), einem Literaturbereich, aus dem auch der nachexilische Text in Num 35 (wohl 4. Jh. v. Chr.) Gedankengut wie die Heiligkeit des Lebens aufgenommen hat (Otto 2012a).

Mit Blick auf das Rechtswesen erhält in Num 35 die Gemeindeversammlung eine vermittelnde Funktion zwischen Täter und Blutauslöser (anders als in Dtn 19, wo es die Ältesten sind). Der Text setzt die Institution der Asylstädte voraus, wobei diese mit den Levitenstädten identifiziert werden. Der Totschläger, der in einer Stadt Zuflucht gefunden hat, kann nach dem Tod des Hohepriesters zu seinem Grundbesitz zurückkehren ( Num 35,25.28). Damit ist die grundsätzliche Möglichkeit der sozialen und wirtschaftlichen Reintegration des Täters gegeben.

2.2.4. Jos 20,1-9. Im Kontext der Landnahme werden die Bestimmungen über die Möglichkeit, Asylstädte im Falle eines Tötungsdelikts zum Schutz vor Bluträchern aufzusuchen in einer Gottesrede an → Josua, die er an die Nachkommen Israels weitergeben soll, wiederholt (vgl. Jos 20,1-9). Den Ältesten der Stadt wird der Fall am Stadttor vorgelegt und sie gewähren dem Totschläger vorläufig Schutz. Letztlich entscheidet den Fall jedoch wie in Num 35 die Gemeindeversammlung. Damit stellt Jos 20 eine Ausdifferenzierung des Rechtswesens in Anlehnung an Num 35 dar.

In der rekonstruierten literaturgeschichtlichen Entwicklung der Rechtstexte, ihrer programmatischen Ausdifferenzierung und möglicherweise utopischen Einrichtung von Asylorten, lässt sich das gesellschaftliche und rechtstheoretische Ringen um die angemessene Bewältigung eines Tötungsdeliktes (inklusive der nicht fahrlässigen Tötung etwa bei einem Unfall) ablesen.

3. Das literarische Genre und die literaturgeschichtliche Einordnung der Vorstellung der Blutschuld

Die Vorstellung der Blutschuld hat jenseits von Gesetzestexten Eingang gefunden in narrative sowie prophetisch-poetische Texte. Innerhalb der sog. legislativen Texte kann nochmals unterschieden werden zwischen den unter 2.2. diskutierten Strafrechtsbestimmungen (Ex 21; Dtn 19; Num 35; Jos 20) und Lev 20, einem Text, der unterschiedliche Verletzungen der sozialen und kultischen Ordnung wie Inzest unter Todesstrafe stellt. Lev 20 regelt entsprechend nicht den Konflikt zwischen Täter und Blutauslöser wie die anderen Texte.

Wird angenommen, dass sich im Genre und seiner rhetorischen Kommunikationssituation jeweils eine spezifische Ausprägung des Rechtsethos spiegelt, werden folgende Fragen aufgeworfen (→ Ethik): Wie verhalten sich die unterschiedlichen Gattungen bzw. rhetorischen Kommunikationssituationen zueinander? In welchem Genre bzw. in welchem außerliterarischen Kontext liegt der Ursprung der Formel „sein Blut komme über ihn“ (s. 1.)? Handelt es sich überhaupt um eine feststehende Formel, wie es in der Literatur häufig behauptet wurde, oder eher um einen Motivkomplex, der in einer Variationsbreite in unterschiedlichen literarischen Genres vorkommt? Im Folgenden wird diesen Fragen nachgegangen, um zu sehen, ob das jeweilige Genre Zeugnis einer literaturgeschichtlichen Entwicklung ist bzw. ob sich in dem jeweiligen literarischen Umgang mit dem Gedanken der Blutschuld konkurrierende Vorstellungen erkennen lassen.

3.1. Narrativer Kontext

3.1.1. 1Kön 2. In der Erzählung in 1Kön 2 wird gleich dreimal mit jeweils unterschiedlichen Wendungen und Bedeutungen im Mund → Salomos der Gedanke der Blutschuld verwendet. Diskutiert wird, ob die Wendung in der Erzählung als Fluchformel dient (Reventlow) oder als Unschuldsbeteuerung bzw. gar als Rechtfertigung des Mordauftrags fungiert (Würthwein 1977). Der König beruft sich mehrfach auf den Gedanken der Blutschuld gegenüber Benaja, dem er aufgetragen hatte, → Joab, der mit Kriegsblut den Frieden belastet hat (1Kön 2,5), zu töten. Der narrativ entfaltete Normenkonflikt, in dem sich Benaja sieht, besteht zwischen dem Asylrecht (2.2.), dem Schutz, den Joab im Heiligtum an den Hörnern des Altars gesucht hat, und dem Blutauslöserecht (2.1.). In 1Kön 2,31-33 spricht König Salomo drei Mal davon, dass das vergossene Blut bzw. die Blutschuld auf den Täter zurückkommt, um sich und den von ihm Beauftragten zu entlasten. Dabei findet sich auch die Vorstellung, dass das Blut der unschuldig Getöteten auf den Mörder zurückfällt (1Kön 2,32). So soll das durch Joab, der im Dienst Davids stand, grundlos vergossene Blut vom Hause Davids weggenommen werden (1Kön 2,31). Außerdem wird die Wendung mit Blick auf den Vollstrecker der Auslösung des Blutes des Mörders gebraucht (1Kön 2,33), so dass dieser frei von Blutschuld bleibt.

Letztlich ist es laut 1Kön 2,32 Gott, der die Blutschuld auf das Haupt des Täters (Joab) zurückbringt. Salomo betont, dass durch den Tod dessen, der unschuldiges Blut vergossen hat (1Kön 2,31), dieses von Davids Haus weggenommen wird (1Kön 2,32).

Die Erzählung argumentiert weder mit einem Rechtsinstitut, dem der König voransteht, noch mit einem Rechtssatz. Die unterschiedliche Verwendung der „Blutschuld-Formel“ in dieser Erzählung gibt Zeugnis von der Breite des Gedankens.

3.1.2. 2Sam 14. Anders scheint es in 2Sam 14 zu sein, obschon es dort um einen fiktiven Rechtsfall geht und die gesamte Geschichte als paradigmatische Erzählung stilisiert ist (→ Narrativität; Camp 1981). Die namenlose Frau aus → Tekoa, die von Joab beauftragt ist, legt König David einen Rechtsfall vor, der das Institut der intergentilen Blutrache problematisiert. Die Aufgabe des Königs, so die als weise charakterisierte Frau, sei es Gewalt einzudämmen, indem der Blutauslöser daran gehindert wird, auch ihren zweiten Sohn, den Mörder ihres anderen Sohnes, zu töten (2Sam 14,11). Sie verweist damit wohl weniger auf die Funktion einer vermittelnden Instanz, wie sie in den Rechtstexten zur Auslösung eines Mordes der Ortsgerichtsbarkeit zugeschrieben wird, als allgemein auf die Rolle des Königs als einer gerechtigkeitsschaffenden Instanz. Dies wird verstärkt durch das Genre der paradigmatischen Erzählung mit ethischer Funktion (→ Ethik). Die Frau von Tekoa argumentiert gegenüber dem König weisheitlich, wenn sie anführt, dass die Blutrache (der Freikauf des Blutes) durchbrochen werden soll (s. 3.4.).

Blutschuld kann auch eine kollektive Dimension annehmen. Vermittelt durch die Stimme der Propheten führt das Königebuch die → Zerstörung Jerusalems auf das Blutvergießen Manasses zurück, der das Volk verführt habe (2Kön 21,10-16).

Es lässt sich festhalten, dass sich in Erzählungen kein formelhafter Gebrauch der Formel im Munde des Bluträchers zu dessen Schutz finden lässt.

3.2. Rechtsbestimmungen als Paränese in Lev 20

Die Kurzformel „sein Blut auf ihm“ (דָּמָיו בּוֹ bzw. Pl. דְּמֵיהֶם בָּם), die sich nur in Lev 20 (5-mal) und in Abhängigkeit davon in Ez 18,13 und Ez 32,5 findet, dient in Lev 20 wohl der Bekräftigung der Todesstrafe, die bereits mit der mot-jumat-Formel (→ Recht) zum Ausdruck gebracht wird.

Das Spezifische der Verbotsreihen z.B. bezüglich des Inzests (vgl. bereits Lev 18) in Lev 20 (gegenüber Lev 18) kommt in den Strafbestimmungen zum Ausdruck (Erbele-Küster 2013). Auffällig ist, dass die einzelnen Verbote häufig nicht nur mit einer Straffolge versehen sind, sondern ihnen Begründungen und Wertungen folgen. In Lev 20,9.11.12.13.16 steht der mot-jumat-Formel nachgeordnet noch die Aussage „sein Blut auf ihm / ihnen“. Es handelt sich dabei um das Verfluchen von Vater und Mutter, um den Beischlaf mit der Frau des Vaters, der Schwiegertochter oder einem anderen Mann sowie um Sodomie.

Es ist strittig, ob die Aussage „sein Blut auf ihm“ eine Strafaussage oder eine Erklärung der Strafe darstellt. Da die mot-jumat-Formel jedoch eine eigene Rechtsgattung darstellt (Gerstenberger 1993), die bereits die Sanktion regelt, scheint es eher, dass der Zusatz im Rahmen des Kultrechts eine Begründungsstruktur aus der familiengebundenen Gerichtsbarkeit mit aufnimmt.

Laut Reventlow handelt es sich in Lev 20 um eine kultrechtliche, deklaratorische Formel der Priester mit selbstwirkender Folge. Die Parallelaussagen in Lev 20,17.19.20 sprechen von „Schuld tragen“. Die konkrete Straffolgebedeutung dieser Formel liegt damit auch nicht im menschlichen Strafvollzug. Koch (1962) hingegen betont, dass es sich um eine Schutzformel handelt, die den Vollzieher der Todesstrafe vor der „Blutschuld“ schützen soll. Die Formel solle also verhindern, dass sich durch neues Vergießen von Blut weiter Schuld ausbreitet. Koch schlägt daher als Übersetzung vor: „Sein Blut bleibe auf ihm“.

Das Kapitel stellt allerdings, nicht zuletzt aufgrund seiner ausschweifenden Rhetorik und seiner Stellung in der Gesamtkomposition des Buches bzw. der Kapitel 18 bis 20 kein Strafrecht im juristischen Sinne dar. Es hat paränetische Funktion (→ Paränese) und konnte sekundär so der Prävention dienen, jedoch nicht der direkten Anwendung in der Jurisdiktion. Es scheint, dass die Formel hier weniger eine Schutzformel für den Vollzieher der Todesstrafe ist; dann wäre auch zu fragen, warum bei den anderen Todesurteilen in Lev 20, die Formel nicht steht und ob jene Vollstrecker der Todesurteile nicht auch geschützt werden? Der Fokus ist vielmehr auf die Heiligkeit des Landes und die eindringliche Ermahnung dessen, was nicht getan werden soll, gerichtet. Der Gebrauch der Wendung in Lev 20 setzt die legislative Verwendung in Ex 21 voraus, allerdings erhält der Blutschuldgedanke hier eine andere Pointe in der Paränese des Täters.

3.3. Poetische Texte

3.3.1. Das Lied des Mose (Dtn 32)

Das Abschiedslied des → Mose in Dtn 32, das Mose zugleich als Urtypus eines Propheten darstellt, markiert das Ende des → Deuteronomiums bzw. Pentateuchs. Dabei verbindet die weisheitliche Lehre (Dtn 32,2) des späten Gedichts alle drei Kanonteile (Otto 2012b). Die Textcollage ist durchzogen von Kriegsbildern. In dem zitierten Selbstgespräch Gottes ist gleich mehrmals davon die Rede, dass Gott Vergeltung üben will (Dtn 32,35.41.43).

Gepaart geht dies mit Blutrausch: Gottes Pfeile sind trunken von Blut und sein Schwert frisst das Fleisch der Unterlegenen und Gefangenen ( Dtn 32,42). Das Blut seines Volkes, derer, die ihm dienen, wird Gott rächen (Dtn 32,43). Damit verortet der poetische Text das Institut der Blutauslösung in der Gewalt Gottes (Ebach 1993). Der letzte Teil von Vers 43 nimmt den Gedanken auf, dass die Erde blutgetränkt ist und davon befreit werden soll. Wird an anderen Stellen betont, dass dies unmöglich erscheint (etwa Num 35,33), so wird versöhnende Reinigung des Landes im Handeln Gottes möglich.

Der Blutschuldgedanke wird, wenn er sich darauf bezieht, dass Gott das Blut seines Volkes oder seiner Feinde vergießt, zum Blutrachegedanken. Dieser setzt konkrete Gewalterfahrung durch Fremdvölker bzw. das Exil voraus.

3.3.2. Ez 18

Die prophetische Kritik nimmt den Gedanken der Blutschuld auf. Ez 18 setzt sich in Form eines → „ Disputationswortes“ (Zimmerli 1969), das sich sakralrechtlicher Sprache aus Lev 18 und 20 bedient, mit der Frage der generationenübergreifenden Schuldverhaftung für Unrechtstaten auseinander. Es ist ein Plädoyer dafür, dass derjenige, der „Abscheulichkeiten“ tut, wie den Elenden und Armen zu unterdrücken, zu rauben, fremden Kultpraktiken zu folgen, mit der Diktion von Lev 20 formuliert, „unbedingt getötet werden muss und sein Blut auf ihm bleibe“ (Ez 18,13).

Angesichts der Exilssituation, die als Strafe gedeutet wurde, wendet sich Ez 18 dagegen, dass die schlechten Taten zur Schuldverhaftung der nachfolgenden Generation dienen. Das Kapitel ist ein Aufruf zur Umkehr. Im Fokus ist die angesprochene Generation, und innerhalb dieser der Einzelne und dessen Ergehen als Folge seiner guten bzw. schlechten Taten. Ezechiel geht es hier um den Täter und dessen individuelle Schuldverhaftung und nicht um den Strafvollzieher, der vor Blutschuld geschützt werden soll.

Der Blutschuldgedanke wird in der prophetisch-weisheitlichen Auseinandersetzung in Ez 18 verschärft: Soziale Ungerechtigkeit und kultische Verbrechen haben den Tod als Folge, so die Rhetorik der Paränese. Es handelt sich damit um eine innovative Fortführung der kultrechtlichen Terminologie aus Leviticus jenseits eines juridischen Kontexts, die zur Betonung des Subjekts und dessen Verantwortung für seine Taten führt (Fishbane 1985).

3.3.3. Weisheitliche Reflexion

In der weisheitlichen Durchdringung des Problems wird der Strafvollzug der Blutschuld im innerweltlichen Tun-Ergehen-Zusammenhang aufgehoben. Das Blut einer Person lastet auf einem Menschenleben und bringt ihn ins Grab, wobei von außen keine Unterstützung kommen soll, wie das Sprichwort in Spr 28,17 formuliert (vgl. Koch: schicksalwirkende Tatsphäre).

Schließlich findet sich auch eine implizite weisheitliche Kritik am Gedanken der Blutrache in einem narrativen Text wie 1Sam 25 (vgl. 2Sam 14) und eine prophetische Kritik in Ez 3. Die Texte sind Ausdruck weisheitlicher Verinnerlichung und konsequente Schlussfolgerung aus der Einsicht, dass wenn der Grundgedanke, dass vergossenes Blut Lebenskraft enthält und immer neues Blutvergießen nach sich zieht, stimmt, es zu einem unendlichen Kreislauf des Blutvergießens d.h. der Gewalt kommt. Der Gedanke, dass das Blut dem gewaltsamen Mörder anhaftet, schützt letztlich den in erster Instanz unschuldigen Bluträcher bzw. Blutfreikäufer nicht davor, dass selbst er Blutschuld auf sich zieht.

1Sam 25 erzählt von → Abigajil, die mit ihrem weisen Rat, → David von dem im common sense möglicherweise gerechtfertigten Racheakt an → Nabal abhält. Der wohlhabende Herdenbesitzer Nabal wollte David kein Schutzgeld für dessen Verschonung seiner Herde im unbesiedelten Gebiet bezahlen. Die Blutrache würde jedoch David mit Nabal, einem Mann der Torheit, gleich machen, so das Argument von Abigajil, Nabals Frau. Konstatierend formuliert Abigajil, dass Gott David daran gehindert habe, Blut(schuld) auf sich zu laden (1Sam 25,26). Nach Dietrich (2015) greift sie damit auf eine geprägte Wendung aus dem „Sprachschatz des höfischen Erzählers“ zurück, deren Verwendung in Abigajils Mund als weisheitliche Kritik am Rechtsinstitut verstanden werden kann, so dass sie zu einem literarischen Modell der Personifizierung von Weisheit wird (Camp 1985).

Auf diese Intervention Abigajils hin sieht David in der Tat vom Mord an seinem Gegenspieler Nabal ab und lädt so kein Blut bzw., wie die meisten Übersetzungen sagen, keine Blutschuld auf sich ( 1Sam 25,33). Der Ausgang der Geschichte bekräftigt in einem Kommentar, der David in den Mund gelegt wird, die Gültigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, der Nabal hat sterben lassen ohne eigenmächtiges Handeln Davids. In Davids Wahrnehmung hat Gott die böse Tat Nabals auf sein Haupt zurückfallen lassen, ohne dass David selbst eigenwillig gehandelt hätte und so seine Hände schuldig gemacht hätte (1Sam 25,39).

In den Gerichtsworten Gottes über Israel in Ez 3 wird ebenfalls deutlich, dass letztlich gewaltsam vergossenes Blut an einer Gemeinschaft immer hängen bleibt, egal ob der „Erstverursacher“, der ungerechte Mörder bestraft wurde oder nicht. Das Umfeld des Ungerechten muss für das vergossene Blut einstehen, wenn es diesen nicht gewarnt hat.

4. Anthropologie, Theologie und Rechtsethos

Der Gedanke der Blutschuld betont die Einzigartigkeit des einzelnen Lebens. Der hebräische Begriff „Blut“ hält dabei zusammen, was für den Menschen in der Moderne nicht zwingend zusammen gedacht wird: die Tat und deren Folge, die Substanz und ihre Wirkmächtigkeit – ein Gedanke, der sich von den frühen Belegen bis zu dem nachexilischen Gerichtswort Ez 35,6 zieht: „Du hast keine Scheu gezeigt vor Blut(vergießen), deshalb wird dich Blut(schuld) verfolgen!“. Die in unterschiedlichen Formulierungen und Genres belegte Vorstellung zeugt von einer konsequenten Durchdringung des Problems, dass gewaltsam vergossenes Blut nicht einfach ausgeräumt werden kann. Eine direkte Abhängigkeit der Verwendung in narrativen Kontexten von den Gesetzestexten lässt sich jedoch nicht ausmachen – allerdings auch nicht umgekehrt.

Auch dort, wo Blut „ausgelöst“ wird, d.h. wo am Täter die Blutrache, die Todesstrafe vollzogen wird, wird erneut Blut vergossen, im Falle einer versehentlichen Tötung bei einem Unfall möglicherweise unschuldiges. Ein Problem, das in der weisheitlichen Literatur diskutiert wird und in der rechtsgeschichtlichen Ausdifferenzierung Nachhall gefunden hat.

Literaturgeschichtlich und rechtshistorisch lässt sich folgende Abfolge der Rechtstexte, die das Institut der Blutauslösung regeln, plausibilisieren: Ex 21 ist der älteste Text, Dtn 19 bildet die nächste Stufe und Num 35 die jüngste.

Der ursprüngliche Sitz im Leben für den in der Forschungsliteratur als Schutzformel bezeichneten Ausdruck „sein Blut komme bzw. bleibe auf ihm“ kann jedoch nicht rekonstruiert werden bzw. mit einem juridischen identifiziert werden: Denn im Gesetzestext in Dtn 19,10 dient die Formel gerade nicht dem Schutz des Bluträchers. In dem literaturgeschichtlich gesprochen späten Text Num 35, der die Rechtsinstitution des Blutauslösens in nachexilischer Zeit angesichts des theologischen Problems neu entwirft, versucht die Formel den Kreislauf der Blutschuld zu unterbrechen.

Die Annahme, dass der fiktive Rechtsfall, den die Frau aus Tekoa dem König vorlegt (1Sam 14), die Rechtspraxis spiegle, dass der König im Fall der Blutrache auch über das bereits in der Sippe gesprochene Recht urteilen kann, wirft die Frage auf, wie sich die Rechtsprechung durch den König zur älteren durch die Sippenältesten verhält (Crüsemann 1992). Zugleich wird deutlich, dass jenseits der Rechtstexte in einer Narration der Gedanke der Blutschuld diskutiert wird.

Der Befund der sog. Blutschuldformel in seiner Variationsbreite sowie seinen formgeschichtlichen bzw. rhetorisch unterschiedlichen Funktionen machte deutlich, dass es schwierig ist, von einem feststehenden Formular zu reden. Auch ist kein (ursprünglich) juridischer Kontext als Schutzformel belegt. Im Laufe der rechtsgeschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung wurde eine außerfamiliäre Machtinstanz beauftragt, in Sachen Blutauslösung eindämmend tätig zu sein: Laut Dtn 19 sind es die Ältesten der Stadt, in die der Mörder geflohen ist; in Num 35 soll dann bei unvorsätzlicher Tötung die Gemeinschaft Recht sprechen.

Ist der Gedanke der Blutschuld bzw. des Instituts des Blutrechts ursprünglich in einer gentilen Gemeinschaft verwurzelt, in der der Einzelne eingebunden ist und die für ihn handelt (d.h. die Bluttat rächt), so wird für Ezechiel die Blutschuld eines Ungerechten zur Sache eines jeden Gerechten der Gemeinschaft (Ez 3; 33). In nachexilischer Zeit führt er im Rahmen einer metaethischen Reflexion in Ez 18 zur Profilierung des Konzept eines aus dem Generationenverband herausgehobenen Individuums und dessen Eigenverantwortlichkeit (→ Ethik).

Im Konzept der „Blutschuld“ werden in den alttestamentlichen Texten Anthropologie, Theologie und Rechtsethos miteinander verbunden. Der in der Anthropologie verankerte Gedanke, dass im Blut die Persönlichkeit, d.h. die Lebenskraft des Menschen, ihren Sitz hat, hat die rechtliche und ethische Folge, dass Blut nicht vergossen werden darf. Theologisch argumentiert: Das Leben, d.h. das Blut des Menschen, darf nicht vergossen werden, denn der Mensch ist Ebenbild Gottes ( Gen 9,6). Falls es dennoch geschieht, hat es zur Konsequenz: Blutvergießen führt zu erneutem Blutvergießen – der Tötung des Täters (Gen 9,5).

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