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Animismus

(erstellt: März 2011)

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1. Einleitung

In der religiösen Vorstellungswelt Israels in alttestamentlicher Zeit tauchen Wesenheiten und Kräfte auf, die denen polytheistischer Religionen des Alten Orients in mancherlei Hinsicht wesensverwandt waren und in vorexilischer Zeit gesellschaftlich akzeptiert wurden. Erst die deuteronomistische Kritik (→ Deuteronomismus) der spätvorexilischen und exilischen Zeit polemisierte gegen Überzeugungen und Kulthandlungen, die einem konsequenten → Monotheismus widersprachen. Die deuteronomistische Redaktion überarbeitete die Überlieferungen im Sinne eines strikten Eingottglaubens und tilgte nach Möglichkeit anstößige Berichte und Formulierungen bzw. brandmarkte sie als „Abfall“ vom Jahweglauben. So blieben in den alttestamentlichen Schriften Hinweise auf alte religiöse Glaubensweisen und Praktiken höchstens rudimentär erhalten und können nur auf der Grundlage vereinzelter Hinweise durch religionsgeschichtliche Vergleiche rekonstruiert werden. Die wiederholten Verbote bestimmter religiöser Bräuche dürfen jedoch als Hinweise darauf verstanden werden, dass diese in der Volksreligion weiterhin lebendig waren. Tatsächlich finden sich noch in den neutestamentlichen Schriften vereinzelte Belege für religiöse Auffassungen und Handlungsweisen, die ursprünglich einem polytheistischen Kontext entsprangen.

1.1. Definition

Aus den bruchstückhaften Überlieferungen jener traditionellen bzw. volkstümlichen Glaubenswelt sollen in diesem Artikel jene Elemente untersucht werden, die einen animistischen Hintergrund erkennen lassen. Unter Animismus wird hier die Überzeugung verstanden, dass es neben der menschlichen Lebenswelt eine geistig-seelische Wirklichkeitsebene gibt, die auf das Leben der Menschen hilfreich oder schädigend einwirken kann. In dieser Parallelwelt agieren neben Naturgeistern, Totengeistern und → Dämonen die Seelen von Menschen, Tieren, Pflanzen und Gegenständen sowie unterschiedliche Mächte, die das Ergehen der Menschen zum Guten wie zum Bösen beeinflussen können. In → Träumen, → Visionen, → Auditionen, → Ekstasen, Besessenheit und ähnlichen Erfahrungen kann sich diese geistig-seelische Wirklichkeitsebene den Menschen manifestieren. Medial veranlagte Menschen können sich durch spirituelle und rituelle Kontaktaufnahmen einen Zugang zu diesem Bereich verschaffen und das Verhalten dieser Kräfte beeinflussen, an ihrem übernatürlichen Wissen partizipieren und es für das Wohlergehen oder zum Schaden von Menschen nutzbar machen.

Dabei ist in den biblischen Schriften nicht immer klar zu erkennen, ob es sich bei diesen Wesenheiten und Kräften um autonome Mächte handelt oder ob sie im Auftrag Gottes handeln. So hausen die Geister in Jes 13,21; Jes 34,12f. in einer menschenleeren und gottfernen Umgebung und die Dämonen in Lk 8,26-33 versuchen gemäß ihren eigenen Interessen und Machtansprüchen in der ihnen genehmen Umwelt zu leben, während der dämonische „Vernichter“ und Jahwe in Ex 12,22f. (s.u. 2.2) austauschbare Gestalten sind oder der „Versucher“ (→ Satan) in Hi 1,6-12 ausdrücklich im Auftrag Gottes handelt.

1.2. Theoriegeschichte

Die hier verwendete Definition des Animismus unterscheidet sich deutlich von älteren Animismus-Theorien, die auf das Werk Primitive Culture (1871) des britischen Sozialanthropologen Edward B. Tylor (1832-1917) zurückgehen. Tylor meinte, im Seelenglauben und Geisterglauben den Ursprung der Religion im Allgemeinen erkennen zu können. Ausgehend von dieser seines Erachtens einfachsten Form der Religion glaubte er, deren Entwicklung über die Vielfalt polytheistischer Glaubensvorstellungen bis zum Eingottglauben entfalten und erklären zu können. Tylor entwickelte seine Theorie in Anlehnung an das evolutionistische Weltbild seiner Zeit, das sich den Schriften des Naturforschers Charles R. Darwin (1809-1882) und des Sozialphilosophen Herbert Spencer (1820-1903) verdankte. Darwin und Spencer beschrieben die Entwicklung der natürlichen und sozialen Welt als eine Bewegung von den niederen zu den höheren Formen, vom Einfachen zum Differenzierten. Dabei war Tylor überzeugt, die Entstehung der Religion – gestützt auf reiches Feldmaterial – kausalwissenschaftlich erklären zu können. Er argumentierte damit gegen zwei andere Sichtweisen der Entstehung von Religion. Zum einen gegen die theologische Anschauung, Religion gehe auf göttliche Offenbarungen zurück. Für Tylor war der archaische Mensch ein rationales, die Ursachen ergründendes Wesen. Es waren vor allem Träume und Trancezustände, die ihn auf den Gedanken brachten, dass es in ihm etwas geben müsse, das unabhängig vom Körper existiere, eben eine Seele. Zum anderen wandte sich Tylor gegen Spencers Behauptung, der Atheismus stünde am Anfang der menschlichen Kultur und die Religion spiegele erst spätere gesellschaftliche Entwicklungen wider.

Der britische Ethnologe und Religionswissenschaftler Robert R. Marett (1866-1943), Professor am Balliol College in Oxford, versuchte in The Threshold of Religion (1909) einen noch älteren Ursprung der Religion nachzuweisen, den Prä-Animismus oder Animatismus. Nicht eine persönliche Seele, sondern eine unpersönliche und universale Kraft (Dynamismus) stehe am Anfang der Religionsgeschichte. Der Ursprung und das Wesen der Religion seien in allgemeinen Vorstellungen von Leben und Kraft zu sehen, die zunächst unpersönlich wirkend, später personalisiert und handelnd gedacht wurden. Unter den Begriffen Dynamismus und Manaismus erzielte diese Theorie eine weitreichende und die Anfänge der Religionswissenschaft prägende Wirkung.

So einflussreich Tylors und Maretts Überlegungen für die religionswissenschaftliche Theoriebildung auch waren, so wenig können die Prämissen ihrer Überlegungen heute noch Geltung beanspruchen. Der Fortgang der ethnologischen Feldforschung hat ihre Thesen nicht bewahrheitet. Die einfachsten bekannten Gesellschaften hängen nicht zwangsläufig einem Geister- oder Kraftglauben an, wohingegen höher entwickelte agrarische Gesellschaften eine große Aufgeschlossenheit für Geistervorstellungen zeigen. Der Animismus kann deswegen nicht als eine eigene Religion der menschlichen Frühgeschichte verstanden werden, sondern bildet ein Begleitphänomen vieler Religionen, das bis in die Hochreligionen hinein nachzuweisen ist.

2. Formen des Animismus

2.1. Träume

Wie in allen Zeiten und Kulturen haben die Menschen im alten Israel die Erfahrung gemacht, dass man im → Traum entlegene Orte und Landschaften besuchen, entfernt Lebenden oder Verstorbenen begegnen, Vergangenes wiedererleben und Zukünftiges vorhersehen oder sogar göttliche Botschaften empfangen kann. Auch sie mussten zu dem Schluss kommen, dass – während der Körper schläft – ein geistig-seelischer Teil des Menschen ein Eigenleben führt und in jene Parallelwelt vordringen kann, die im Wachleben unzugänglich ist. Auch in Israel konnte der Traum als Fenster zu einer geistig-seelischen Wirklichkeitsebene verstanden werden und damit als Quelle von Erkenntnissen aus einer jenseitigen Welt. Diese Erkenntnismöglichkeit stand nach Überzeugung der Israeliten allen Völkern offen: dem ägyptischen Pharao (Gen 41) und dem babylonischen König → Nebukadnezar (Dan 2-4) ebenso wie einem midianitischen Soldaten (Ri 7,13f.) oder der Frau des römischen Statthalters Pilatus (Mt 27,19).

Das Alte Testament erwähnt Träume vor allem im Zusammenhang mit der Prophetie. Programmatisch heißt es in Num 12,6: „Wenn ich Propheten zu euch sende, offenbare ich mich ihnen in Visionen und spreche zu ihnen in Träumen.“ Als → Propheten galten im alten Israel also Menschen, die durch Traumbotschaften und Traumbilder in besonderer Weise Einblicke in jene unsichtbare geistig-seelische Wirklichkeitsebene hatten, die das Verhalten und Ergehen der Menschen beeinflussen kann.

Dabei unterscheiden die biblischen Schriften zwischen Träumen, deren Bedeutung unmittelbar verstehbar ist (z.B. → Jakobs Traum in Bethel, Gen 28,10-22; die von den „Freunden“ Hiobs erwähnten Träume, Hi 4,12-21; Hi 33,15-18; die Träume Josefs, des Vaters Jesu, in Mt 1,20-23, Mt 2,13.19f.) und allegorischen Träumen, die symbolisch verschlüsselt sind und einer Deutung bedürfen (z.B. in der → Josefsgeschichte Gen 37,6-11; Gen 40,6-19; Gen 41,1-36; Paulus Traumgesicht in Apg 16,9f.). Erwähnt wird auch eine dritte Art des Traumes: die Inkubation. In ihr wird der Traum – meist in einem Heiligtum – rituell herbeigeführt, wie es in der Erzählung von dem mit Brandopfern vorbereiteten Schlaftraum → Salomos in → Gibeon berichtet wird (1Kön 3,4-15; vgl. 2Chr 1,2-13).

In der überwiegenden Mehrzahl der allegorischen Träume sagen deren Deutungen etwas über die Zukunft des Träumers aus. Die Bedeutung eines Traumes kann sich dabei auch auf überindividuelle, historische Zusammenhänge erstrecken (vgl. Gen 41,1-36; Est 1,1; Est 10,3; Sach 2,1-4). Diese Tendenz entfaltete sich im antiken Judentum in Gestalt von Apokalypsen.

Allerdings finden sich im Alten Testament auch bereits kritische Stimmen zur Traumdeutung. Jer 23,25-28a.32 und Jer 27,9f. ziehen eine deutliche Grenze zwischen Träumen und dem geoffenbarten Gotteswort. Eine harsche Polemik gegen Träume findet sich im Buch → Jesus Sirach aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert: „Narren verlassen sich auf Träume. Wer auf Träume hält, der greift nach dem Schatten und will den Wind haschen. Träume sind nichts anderes als Bilder ohne Wirklichkeit“ (Sir 34,1b-3). Die traumkritische Haltung setzte sich theologiegeschichtlich bei Johannes von Salisbury, Martin Luther und in der Aufklärung fort.

2.2. Dämonen / Geister

Als Wesen neben der menschlichen Lebenswelt stellen Dämonen und Geister im alten Israel eine wirkkräftige Realität dar, für die sich zwar kein hebräischer Allgemeinbegriff findet, die jedoch in Kollektivausdrücken und Einzelbenennungen nachweisbar ist. Dämonen und Geister scheinen in frühisraelitischer Zeit zur Alltagswirklichkeit gehört und noch nicht in einem Spannungsverhältnis zur monotheistischen Gottesidee gestanden zu haben (vgl. → Dämonen). Zu den Kollektivbezeichnungen für Geister gehören besonders die Feldgeister שְׂעִירִים śə‘îrîm. Der im Alten Testament wiederholt vorkommende Begriff שָׂעִיר śā‘îr bzw. שְׂעִירִים śə‘îrîm belegt den Glauben an Naturgeister (Jes 13,21; Jes 34,12), die in der Frühzeit Israels mit einem eigenen Kult verehrt (Lev 17,7; 2Kön 23,8; 2Chr 11,15) und wahrscheinlich als Fruchtbarkeitsgötter verstanden wurden (Lev 17,7). Zu den Kollektivbezeichnungen für Dämonen gehören besonders die Wüstendämonen צִיִּים ṣijjîm (צִיי ṣîj; צִיָּה ṣijjāh wörtlich „Trockenlandschaft / trocken“), die wie die Heuler אִיִּים ’ijjîm (אִי ’î) an der Peripherie der Zivilisation leben (z.B. in Trümmerstätten) und die Gefahren außerhalb des Kulturlandes symbolisieren (Jes 13,21f.; Jes 34,13f.; Jer 50,39). Den Menschen gefährlich werden auch Krankheitsdämonen. So wird → Saul von einem bösen Geist befallen (1Sam 11,6; 1Sam 16,14-23), nachdem der Geist Gottes ihn verlassen hat. Als Krankheitsdämonen gelten im Alten Testament דבר dævær „Krankheit / Pest“ (Hab 3,5; Ps 91,3,6; Hos 13,14; u.ö.) und קטב qæṭæv „Krankheit“ (Ps 91,3-6; Hos 13,14; Dtn 32,24; Jes 28,2; → Krankheit / Heilung). Auch Fremdgötter können seit der exilischen Zeit als Dämonen שְׂעִירִים śə‘îrîm bezeichnet werden, da sie die Ausschließlichkeit der Jahweverehrung in Frage stellen (Lev 17,7; 2Chr 11,15).

Die Überlieferungen des Alten Testaments lassen → apotropäische Riten erkennen, mit denen Dämonen abgewehrt werden sollen. Ex 12,21b-23 berichtet vom Bestreichen der Türschwellen und Pfosten mit Tierblut, wodurch der מַשְׁחִית mašchît „Vernichter“ abgehalten werden soll, die Schwelle eines Hauses zu überschreiten und Unheil in die Familie zu bringen. Auch Ex 4,24-26 setzt voraus, dass durch das Auftragen von → Blut ein übermenschlicher Angreifer abgehalten werden kann. Nach Ez 45,18-20 wurden die Pfosten des Jerusalemer Tempels und die vier Ecken seines Altars zweimal im Jahr mit Blut bestrichen. Auch dieser Brauch dürfte ursprünglich eine apotropäische Bedeutung gehabt haben.

Auch im Neuen Testament gelten Dämonen (δαιμόνια daimónia) gewöhnlich als bösartige und Unheil stiftende Geister, die in einer eigenen Sphäre existieren und nach Gelegenheiten suchen, in die Welt der Menschen schädigend einzudringen. Unter dem Einfluss der antik-hellenistischen und antik-jüdischen Dämonologie findet sich im Neue Testament die Vorstellung, dass es sich bei den Dämonen um gefallene Engel (Jud 6) handelt, deren Oberhaupt der Teufel ist (Mk 3,22 parr.; Mt 25,41; Apk 12,9). Sie verursachen Krankheiten, besonders Besessenheit und Epilepsie. Einzelnen Menschen ist es gegeben, sich in die Welt der Dämonen Zugang zu verschaffen und sie aus erkrankten Menschen durch Exorzismen (verbunden mit Bedrohung des Dämons, Namenserfragung, Ausfahrwort, Rückkehrverbot) auszutreiben. Die Überwindung von Dämonen gilt im Neuen Testament als ein Zeichen der angebrochenen Gottesherrschaft (Lk 10,18; Mk 3,27).

2.3. Ekstase

Unter → Ekstase έκστασις ékstasis (wörtlich „das Aus-sich-Heraustreten“) sind solche Erfahrungen zu verstehen, in denen die Seele aus dem Körper „austritt“, die menschliche Lebenswelt verlässt und sich auf den Weg in jene geistig-seelische Parallelwelt bzw. in eine jenseitige Region macht. Solche „Jenseitsreisen“ der Seele werden in den Überlieferungen des Alten Testaments mit Anspielung auf mesopotamische Sagenmotive (z.B. aus dem Gilgamesch-Epos) als bekannt vorausgesetzt, allerdings im → deuteronomistischen Geschichtswerk ausdrücklich verworfen (Dtn 30,11-14). Im Neuen Testament widmet sich besonders der Verfasser der Apostelgeschichte dieser Thematik. Nach Apg 10,10; Apg 11,5 geriet Petrus in Joppe „in Verzückung“ und nach Apg 11,15 sprang dieser Zustand auf drei weitere Männer über. 2Kor 12,4 erwähnt das ekstatische Erlebnis einer Himmelsreise: Paulus „wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann“. Dass ihm ekstatische Erfahrungen des Außer-sich-Seins auch ansonsten nicht unbekannt waren, belegt 2Kor 5,13.

2.4. Besessenheit

Unter Besessenheit (→ Ekstase) sind solche Erfahrungen zu verstehen, in denen eine Wesenheit bzw. Kraft aus der geistig-seelischen Wirklichkeitsebene in die menschliche Lebenswelt eintritt und von einem Menschen bzw. einer Menschengruppe „Besitz“ ergreift. So gibt es zahlreiche Berichte im Alten Testament, in denen Menschen vom → Geist Gottes ergriffen werden. Solche Besessenheitserfahrungen werden gewöhnlich mit der Formel צָלַח רוַּח ṣālach rûach beschrieben, die Luther mit den Worten „der Geist kam über XY“ wiedergibt. Wörtlich bedeutet צָלַח ṣālach „eindringen / durchdringen“ und will deutlich machen, dass der göttliche Geist vom Körper des Betroffenen Besitz ergreift und in ihn fährt. Den einem solchen „Besessen-Werden“ folgenden Erregungszustand beschreibt das Alte Testament mit dem Verb נבא nb’, das in seiner Grundbedeutung wohl als „tobend reden“ zu verstehen ist und in seiner kontextuellen Bedeutung mit „in prophetischer Begeisterung reden“ übersetzt werden kann. So wurde Saul mit den Worten berufen: „Der Geist des Herrn wird von dir Besitz ergreifen, so dass du mit ihnen (den Propheten aus „Gibea Gottes“) in prophetischer Begeisterung reden wirst. Du wirst umgewandelt und ein anderer Mensch werden“ (1Sam 10,6). In der Frühphase der Königszeit Israels traten ganze Gruppen von Besessenheitspropheten auf (Num 11,25b-29; 1Sam 10,1-13; 1Sam 19,18-24; 2Kön 2,5; 2Kön 4,38). Von einer solchen Besitzergreifung durch den Geist berichtet das Alte Testament nicht nur im Zusammenhang mit Propheten, sondern auch mit Heerführern (anschaulich in 1Sam 11,6-7). Der Geist Gottes befähigte die Ergriffenen zu Führungsaufgaben und verlieh ihnen die notwendige Begeisterungsfähigkeit für den militärischen Bündnisschluss (vgl. Ri 3,10; Ri 6,34; Ri 11,29).

Das Neue Testament kennt nur „besessen sein von einem bösen Geist“ (δαιμoνíξομαι daimonízomai). Auch ein solcher Geist ergreift von einem Menschen „Besitz“, „fährt in ihn“ und identifiziert sich mit ihm. Der Besessene steht „unter der Herrschaft“ eines unreinen Geistes (Mk 1,23; Mk 5,2) und kann über außergewöhnliche Kräfte verfügen (Mk 5,3.5). Eine solche Form der Besessenheit galt als krankhaft und bedurfte der Behandlung durch einen Exorzisten, der die Dämonen zwar nicht zu vernichten, aber in ihre Welt „auszutreiben“ vermochte (Mk 5,12f.). Jesus galt als wirkkräftiger und anerkannter Exorzist (Mt 8,16; Mk 1,27; Mk 3,11), der seine Macht an seine Jünger weitergab (Mt 10,1; Mt 17,21 u.ö.).

2.5. Divination

Die Möglichkeit des Wahrsagens setzt voraus, dass zukünftige Ereignisse auf der geistig-seelischen Wirklichkeitsebene schon bekannt sind und manche Menschen die Möglichkeit haben, auf dieses Wissen Zugriff zu gewinnen. Diese Praxis der → Divination scheint in der vorexilischen Zeit Israels weit verbreitet und akzeptiert gewesen zu sein. Das → Richterbuch spricht mit urtümlich klingenden Formulierungen von der „Eiche der Wahrsager“ (Ri 9,37) und von der „Eiche von Ofra“ (Ri 6,11.19) als damals in Israel bekannten Orakelstätten. Überall im Mittelmeerraum wie im Alten Orient galten bestimmte Bäume als Orte des Wahrsagens, an denen medial veranlagte Personen zukünftige Ereignisse vorausschauen konnten. Wahrsager genossen in der Frühzeit hohes Ansehen und gehörten zu den Führungseliten Israels (Jes 3,2f.). Die Befragung eines Orakels galt für den König geradezu als Ausweis seiner Bindung an das göttliche Gesetz: „Ein Orakel auf den Lippen des Königs, sein Mund wird dem Recht niemals untreu“ (Spr 16,10). Eine Form der Orakelbefragung durch den König dürfte die Opferschau gewesen sein. König → Ahas benutzt zu diesem Zweck den Bronzealtar im Jerusalemer Tempel (sofern לְבַקֵּֽר Pi. ləvaqqer in 2Kön 16,15 als Kultbegriff zu verstehen ist). Der Begriff לְבַקֵּֽר ləvaqqer findet sich auch im Wunsch des Tempelbesuchers in Ps 27,4, „die Freundlichkeit des Herrn zu schauen und in seinem Heiligtum Opferschau vorzunehmen“.

Eine beliebte Form der Divination war das Losorakel, dessen Praktizierung in 1Sam 14,40-42 anschaulich beschrieben wird. Es war religiös legitimiert und wurde in allen sozialen Schichten akzeptiert: „Streitigkeiten beendet das Los und zwischen Mächtigen trennt es“ (Spr 18,18). In der (historisch sicherlich unzutreffenden) Vorstellung des Buches → Josua wurde die Landverteilung nach der Einwanderung der Stämme in Kanaan mit Hilfe des Losorakels vollzogen (Jos 13-19).

Eine Sonderform des Losorakels waren die Urim und Tummim (→ Divination), vermutlich Orakelsteine, die der Hohepriester in einer Lostasche bei sich trug (Ex 28,29f.; Num 26,55f. u.ö.).

Erst in der deuteronomistischen Literatur (→ Deuteronomismus) der spätvorexilischen und exilischen Zeit gerät das Orakelwesen in die Kritik (Dtn 18,9-12; 2Kön 17,17; 2Kön 21,6). Die deuteronomistische Polemik mündet schließlich im priesterschriftlichen Verbot der Wahrsagerei im Allgemeinen (Lev 19,26). Eine Vision des Buches → Micha schildert die endzeitliche Vernichtung von Götzenbildern, Zauberern und Zeichendeutern (Mi 5,11-13).

Die ablehnende Haltung der Wahrsagerei gegenüber setzt sich im Neuen Testament fort. Die Fähigkeit des Wahrsagens wird zwar nicht bezweifelt, sie gilt jedoch als eine Form der Besessenheit durch einen unreinen (heidnischen) Geist und damit als ein pathologischer Zustand, der durch einen Exorzismus „im Namen Jesu Christi“ beendet werden muss (Apg 16,16-18).

2.6. Totenbefragung

Die zahlreichen Verbote der Totenbefragung bzw. Nekromantie (→ Divination s. 1.2.) aus deuteronomistischer Zeit (Lev 19,31; Lev 20,6.27; Dtn 18,11; 2Kön 21,6; 2Kön 23,6 u.v.a.) dürfen als Belege für die ursprüngliche weite Verbreitung dieser Praxis gesehen werden. → Sauls Verstoß gegen sein eigenes Verbot der Nekromantie (1Sam 28,3-25) lässt erahnen, wie tief verwurzelt diese Sitte in der Frühzeit Israels war. Die Erzählung lässt deutlich die Vorstellung einer Parallelwelt erkennen, aus der der verstorbene → Samuel durch die Vermittlung einer Totenbeschwörerin in die menschliche Lebenswelt „heraufgeholt“ wird, um wegen der Philistereinfälle befragt zu werden. Medial veranlagten Menschen ist es möglich die Grenzen zwischen jenen beiden Welten zu überwinden, mit Wesenheiten der Parallelwelt zu kommunizieren und – wie im Fall der Divination – aus diesen Kontakten Kenntnisse über zukünftige oder verborgene Ereignisse zu gewinnen.

2.7. Himmelsleiter

Zur Vorstellung einer geistig-seelischen Parallelwelt gehört das Motiv eines Verbindungsweges zwischen den beiden Welten. Eine solche Stelle des Übergangs bezeichnet die → Himmelsleiter in Gen 28, 10-22, wobei der Begriff סֻלָּם sullām wohl treffender mit „Himmelstreppe“ zu übersetzen ist. Diese „Treppe“ stieg von der Erde in den Himmel auf, Gottesboten bewegten sich auf ihr auf und nieder und Jahwe stand an ihrer Spitze. Daran erkannte → Jakob, dass an jenem Ort, wo er sich zur Nachtruhe gelegt hat, eine Verbindung und ein Übergang zwischen der himmlischen und der irdischen Welt bestand und Gott oberhalb seines Schlafplatzes seinen Aufenthaltsort hatte, weshalb er jenen Ort → Bethel („Haus Gottes“) nannte.

Eine vergleichbare Vorstellung liegt der Berufungsvision Jesajas im → Tempel von Jerusalem zugrunde (vgl. Jes 6). Der irdische Ort unterhalb des „Thrones Gottes“ wurde in Korrelation mit der himmlischen Sphäre gesehen und galt als gelegentlicher Aufenthaltsort Gottes und damit als Heiligtum. Religionsgeschichtlich ist damit die kosmologische Vorstellung einer vertikalen Weltenachse (→ Weltbild) verbunden, die zur theologischen Begründung altorientalischer Tempel oder auch Städte weitverbreitet war.

Auch die Wahl des Bauplatzes für den Tempel in Jerusalem wurde auf eine Selbstoffenbarung Jahwes zurückgeführt. Salomo ließ das Gotteshaus an der Stelle errichten, wo Jahwe seinem Vater David erschienen war (2Chr 3,1). Die Benennung dieses Ortes als „Berg Morija“ geht auf die Erzählung von Abrahams Opfer zurück (Gen 22,14 יהוה יִרְאֶה JHWH jir’æh „Gott sieht“). Von dieser Ortsbezeichnung leitet sich in passivischer Konstruktion der Name Morija „Gott lässt sich sehen“ ab. Der Name verweist auf einen Ort, an dem die Grenze zwischen der menschlichen und der göttlichen Ebene durchlässig wird. Er galt als Ort der Begegnung und Vermittlung und damit als idealer Kultplatz. Hier erhört Gott die Gebete der Gläubigen und nimmt ihre Opfergaben an.

Literaturverzeichnis

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