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Seniorenarbeit/Altenbildung

(erstellt: Februar 2016)

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1. Das dynamische Feld der Altenbildung

Es mag paradox erscheinen, aber kaum ein Bereich der → Gemeindepädagogik bzw. der religionspädagogischen Bildungsreflexion ist so dynamisch im Aufbruch begriffen wie der der Seniorenarbeit bzw. der der Altenbildung, wobei selbst schon signifikant ist, dass der Begriff Altenbildung den der Alten- oder Seniorenarbeit tendenziell ablöst (Rogall-Adam, 2008, 448). Diese Entwicklung verdankt sich den soziokulturellen Umstellungsprozessen im Kontext des demographischen Wandels, der auch die Ausrichtung kirchlicher Bildungsarbeit betrifft. Insbesondere die Herausbildung einer neuen Lebensphase, die des nach Peter Laslett sogenannten ressourcenorientierten dritten Lebensalters, meist etwa zwischen 60 und 80 Jahren, die für viele jenseits der Erwerbstätigkeit noch bei relativ guter Gesundheit aktiv und kreativ zu gestalten ist, verbindet sich elementar mit Fragen der Sinnstiftung, mit dem Ausloten der eigenen Möglichkeiten vor dem Horizont der eigenen Lebensgeschichte und dem Entdecken neuer Partizipations- und Gestaltungsräume. Wollen die Gemeinden diese zahlenmäßig breit in ihnen vertretene Gruppe nicht verlieren, müssen sie die in diesem Bereich lange vorherrschende Fürsorge- und Betreuungsmentalität um neue Haltungen ergänzen, denn die Menschen wollen diese neu gewonnene Lebensphase – je nach Milieu differenziert – selbst gestalten, nicht zuletzt im (gemeindlichen) ehrenamtlichen Engagement, und entsprechend als selbsttätige Subjekte in Bildungsprozessen auch in diesem Alter angesprochen werden (vgl. zu den Spannungen zwischen den Wahrnehmungen und Einstellungen der Hauptamtlichen und den Erwartungen der älteren Menschen die EKD-Denkschrift „Im Alter neu werden können“, 2009, 74f.). Kirchliche Bildungsräume müssen dementsprechend einerseits Kontakte und Vernetzungsmöglichkeiten für dieses Engagement bieten und andererseits in religionshermeneutischer, spiritueller und biographischer Perspektive die Lebensthemen dieses Alters aufnehmen. Zugleich ist selbstverständlich auch die Phase der Hochaltrigkeit mit ihren spezifischen Fragestellungen eines Umgangs mit einer möglichen verdichteten Form der Multimorbidität, der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit und einer Abschiedskultur weiterhin differenziert zu bedenken. Um dies adäquat leisten zu können, ist es unerlässlich, die individuellen, gesellschaftlichen und vor allem religionsbezogenen Bildungsvoraussetzungen im Prozess des Alterns zu reflektieren. Zugleich ist im Blick zu behalten, dass Altenbildung und die (religionspädagogische) → Bildung der heute noch (relativ) Jungen mit Blick auf die Herausforderungen des demographischen Wandels in vielen Bereichen der Gesellschaft zusammen bedacht werden müssen. Denn stets sind die Dimensionen des Lernens und der Bildung „im Alter, zum Altern und zum Umgang mit Älteren gleichermaßen zu beachten“ (Bubolz-Lutz/Gösken/Kriechelhoff/Schramek, 2010, 11).

2. Ambivalente Leitbilder des Alterns als Herausforderung der Altenbildung

Bildungsprozesse vollziehen sich in einem vielfältigen lebensweltlichen Bedingungsgefüge und selbstreflexiv angelegte Aneignungsprozesse von Bildungsgehalten hängen nicht unwesentlich von der Vorstellungskraft und Deutungsmacht bestimmter Möglichkeitshorizonte und Zielvorstellungen ab. Von daher bedingen sich Leitbilder der Kindheit, der Jugend wie auch des späteren Erwachsenenalters und Bildungsangebote für diese Zielgruppen wechselseitig. Gerade die gesellschaftlich vermittelten Leitbilder des Alters mit ihren spezifischen Einstellungen und Erwartungshaltungen sind jedoch einem nicht unerheblichen Wandel unterworfen (Schmitt, 2004). Sie sind dabei vielfältig medial konstruiert und inszeniert. Nicht selten ist eine funktionale Dimension involviert, weil Altersbilder gesellschaftspolitische, wirtschaftliche oder wissenschaftliche Interessen spiegeln und für deren Durchsetzung in den Dienst genommen werden können. Dies zeigen auch die gegenwärtigen Diskurse zum aktiven, erfolgreichen, produktiven oder kompetenten Altern deutlich, die Idealbilder vom best ager entwerfen, der bis ins hohe Alter verschiedenste Gestaltungsoptionen hat und seine Möglichkeiten zu nutzen weiß (Kade, 2009, 17). Nicht zuletzt die Werbung entwirft und vermittelt solche neuen Bilder des attraktiven Alters und aktiven Alterns (Thimm, 2009). Diese Bilder und Vorstellungen lösen die früheren Disengagementtheorien oder Defizitmodelle des Alterns ab, nach denen vor allem die Mängel des Alterns verarbeitet und kompensiert werden sollten. Das jetzige Aktivierungsparadigma setzt dagegen auf Empowermentstrategien und auf die Potentiale und Ressourcen der älteren Menschen. Die angestrebte Aktivität bis ins hohe Alter soll einerseits dem Wohlbefinden des Individuums durch gesellschaftliche Teilhabe dienen als auch Erfordernisse der → Gesellschaft erfüllen.

In diesem Kontext kommt es zu emphatischer Betonung der Bedeutung von Bildungsangeboten. Wie im Kontext des Bologna-Prozesses wird unter dieser Maßgabe Bildung allerdings nicht selten mit Aus- bzw. Fort- und Weiterbildung identifiziert (Sandkaulen, 2009, 22), indem es im Sinne → „lebenslangen Lernens“ vorrangig darum gehen soll, bei schrumpfender Arbeitsmarktbeteiligung „bisher nicht oder noch wenig genutzte Arbeitskräftepotentiale zu erschließen“ (Staudinger/Heidemeier, 2009, 12). Es wird ein neuer „Generationenvertrag des Lernens“ (Köster, 2007, 84) gefordert, der Altenbildung selbst als Ressource begreift, damit ältere Menschen auf Dauer an der Gestaltung gesellschaftlicher Aufgaben partizipieren können. Es soll zu einer normativen Vorstellung von Bildungsbiographien kommen, „in der kontinuierliches Lernen fest verankert ist“ (Staudinger/Heidemeier, 2009, 13). Diese deutlich erkennbare Zweckorientierung und der explizit normative Anspruch können jedoch sehr ambivalent wahrgenommen werden. Denn die Verheißung, lebenslang lernen zu können und vor allem auch zu sollen, kann ebenso als Zwang und eine Form des Leistungsdrucks bis ins hohe Alter verstanden werden.

Unbenommen aller positiven Signale, die sich mit einer an den Ressourcen orientierten neuen „altersfreundlichen Kultur“ (Kruse, 2009, 76) verbinden, bleibt zu konstatieren, dass es bestimmte propagierte Formen des „aktiven Alterns“ gibt, die „den Charakter eines anstrengenden Kampfes gegen die Realität haben“ (Herms, 2014, 243). Dabei gilt es gerade im Kontext christlich geprägter Kommunikation darauf zu achten, nicht neue Formen der Exklusion zu befördern, indem unter der notwendigen Affirmation der Umstellungsprozesse im demographischen Wandel diejenigen aus dem Blick geraten, die nun doch aus den verschiedensten Gründen den Idealen der Best-Ager nicht entsprechen können (oder wollen). Es gilt eine differenzierte Wahrnehmungskompetenz für verschiedenste Ausgangslagen im Alter auszubilden. Dazu gehört die Differenzierung nach Geschlecht – Frauen und Männern altern jeweils anders – und quer dazu nach Milieu und Lebensverläufen. Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen und Lebensorientierungen im Kontext der Spätmoderne gelten auch für das dritte und vierte Lebensalter. Zudem sind die Dimensionen des Abschieds und des Loslassens nicht nur weiterhin im Kontext der Hochaltrigkeit zu berücksichtigen, sondern über die ganze Spanne des (alternden) Lebens (Buchen, 2008) zu beachten und in religiöser Hinsicht ist der Sinn für die „Letztperspektive“ (Herms, 2014, 247) permanent wachzuhalten. Dabei spielt ein differenzierendes Ambivalenz-Konzept, das die grundlegenden Antinomien des Lebens, die im Alter deutlicher hervortreten, zur Darstellung bringen kann, eine bedeutende Rolle (Kunz, 2015, 3). Es ermutigt dazu, „das Mitten, Ausgleichen und Aushalten von Spannungen“ (Kunz, 2015, 2) in narrativen und (religiös) bildenden Kontexten zu erproben.

Dabei lohnt es sich, immer wieder an die Wurzeln des humanistischen Bildungsbegriffes im 19. Jahrhundert zu erinnern, wonach Bildung als lebenslang unabschließbarer Prozess der Selbstbildung im Umgang mit der Welt als Möglichkeit der Generierung und Beförderung humaner Freiheit verstanden wird (Sandkaulen, 2009, 24). Das heißt, auch Bildungsprozesse im Alter setzen die Freiheit der Bildungssubjekte voraus. Sie vertragen keinen Zwang und sind zudem von jeder Form der Eindimensionalität freizuhalten, d.h., sie sind möglichst multiperspektivisch anzulegen, indem Dimensionen des Ästhetischen (→ Ästhetische Bildung), Atmosphärischen und Emotiven die verschiedensten Formen kognitiv-thematischer Angebote begleiten und unter Umständen auch kritisch kontrastieren. Man könnte sogar die These wagen, im Zuge der Altenbildung komme Bildung in besonderer Weise zu sich selbst, indem sie von Zweckrationalität möglichst weitgehend befreit werde und die Übernützlichkeit (Dressler, 2011) von Bildung exemplarisch ansichtig werden lasse.

Es ist also immer wieder eine → ideologiekritische Auseinandersetzung mit den leitenden Altersbildern angesagt. Dies gilt sowohl für die Bildung im Alter als Form der Selbstvergewisserung eigener Leitbilder als auch für die Bildung auf das Alter hin, die nach den Wahrnehmungs- und Beurteilungsmustern dieser Lebensphase fragt, die auch Verhaltensformen im Umgang mit alten Menschen steuern. Im Rahmen einer religiösen Bildung ist dabei stets auf die (kritischen) Potentiale und Ressourcen Bezug zu nehmen, die sich im Kontext christlicher Religion für die Deutung des Alterns anbieten.

3. Religiosität, Lebenskunst und biblische Traditionen als Deutungshorizonte der Bildungsarbeit im Alter

Religionspädagogisch ist es geboten, Formen religiöser Entwicklung (→ religiöse Entwicklung) und Sozialisation, die sich für eine bestimmte Altersgruppe in quantitativen und qualitativen empirischen Zugängen erheben lassen, in die Grundsatzreflexion adäquater Bildungsangebote einfließen zu lassen. Obwohl die religionsempirische Erforschung für das dritte und vierte Lebensalter gerade in qualitativer Hinsicht noch weiterer differenzierter Forschung bedarf, sind doch interessante Ergebnisse zu berücksichtigen. Im Folgenden werden vor allem solche dargestellt, die unmittelbaren Einfluss auf religiöse Bildungsangebote haben können.

Die klischeehaft sprichwörtliche Zuschreibung „im Alter kommt der Psalter“ bildet in dieser eindimensionalen Schlichtheit in keiner Weise die gegenwärtige Realität des Verhältnisses älterer Menschen zur (christlichen) Religion bzw. gar ihr konkretes Partizipationsverhalten am kirchlichen Leben ab, deutet jedoch in einer offenen und übertragenen Lesart durchaus zutreffend auf Anforderungen im Prozess des Älterwerdens hin, die sich mit Fragen der Lebensorientierung und Ressourcen der Sinnstiftung in besonderer Weise verbinden können (Ahrens, 2011). „Die Suche nach individuellen oder überindividuellen Zugangsmöglichkeiten zu nachhaltiger Selbstbesinnung und meditativer Grundhaltung wird in einem erfüllungsorientierten ‚verlängerten Leben’ nicht fehlen dürfen. […] Selbstreferentielle und soziale Achtsamkeit sind Suchhilfen für einen solchen Weg. […] Die Stärkung und Steigerung der subjektiven Handlungs- und Gestaltungsbereitschaft dient Selbstveränderungen […] im langen Leben“ (Rosenmayr, 2003, 314). Die These, dass die Senioren des dritten Alters – je nach → Milieu und Biographie ausdifferenziert – tendenziell eine Lebensbewegung von materiellen zu immateriellen Wertsetzungen vollziehen können, teilt auch der Erziehungswissenschaftler Opaschowski aufgrund seiner empirischen Studien: „Die Senioren haben sich zugleich weitgehend vom bloßen ‚Immer-Mehr’ verabschiedet. Im Vergleich zur Ruhestandsgeneration der achtziger Jahre geht es jetzt um Fragen der Intensivierung des Lebens sowie um die stärkere Einbeziehung der Sinndimension […] Nicht ihren Lebensstandard wollen sie verbessern, sondern ihre Lebensqualität. Sie wollen eine Antwort auf die Frage haben, wofür sie leben“ (Opaschowski, 2000, 397).

Die postulierte Offenheit für Fragen der Sinngebung verlangt jedoch mit Blick auf das konkrete Verhältnis der älteren Menschen zu Fragen der Religiosität einen differenzierten Blick, der nicht nur die Formen der Partizipation an institutioneller Religion berücksichtigt, denn grundsätzlich zeigt sich auch in diesem Bereich, dass die Senioren „nicht mehr die alten“ sind (Fürst u.a., 2003).

Um die Bedeutung von Religion über die funktionale Engführung im Sinne eines Coping-Stils hinaus für ältere Menschen in den Blick zu nehmen, bietet sich der → Religionsmonitor von 2008 an, der auf die Frage, ob Menschen mit dem Alter frömmer werden, mit einem „eindeutigen ‚Jein!‘“ (Charbonnier, 2014, 146) antwortet. Dabei wurden verschiedene Dimensionen von Religiosität nach Glock erfragt, und zwar öffentliche religiöse Praxis, private religiöse Praxis, die Erfahrungsdimension (→ Erfahrung), die Dimension ethischer Konsequenzen für die Lebensführung, die sogenannte intellektuelle Dimension und die dogmatische oder ideologische. Signifikant erweist sich in diesem Kontext die Konstellation, dass ältere Menschen zwar ein deutlich höheres Interesse an religiös anschlussfähigen Fragen und Themen als jüngere zeigen, aber noch weniger als diese bereit sind, den als dogmatisch korrekt angesehenenGlaubensaussagen (→ Glaube) einfach zuzustimmen, d.h., dass sich eben auch die älteren Menschen skeptisch zu den dogmatischen Glaubensaussagen ihrer eigenen Religion verhalten. Lars Charbonnier hält in seiner Auswertung korrespondierend fest: „[…] das Vorgegebene, das der Erfahrung nicht entspricht, wird abgelehnt, aber nichts Neues zur produktiven Aneignung gefunden“ (Charbonnier, 2014, 148). Stefan Huber fordert entsprechend, es komme in zukünftigen gerontologischen Studien vorrangig darauf an, herauszufinden, über welche religiösen Themen sich ältere Menschen unabhängig von geprägten Glaubensformen Gedanken machen, um sie mit ihrem Interesse nicht allein zu lassen und die Anschlussstellen für eine religiöse Begleitung und ansprechende Angebote religiöser Bildung in dieser Lebensphase zu finden (Huber, 2007, 55).

Dieses Ergebnis korreliert in sehr interessanter Weise mit der EKD-Studie „Uns geht’s gut“ (Ahrens, 2011), wonach festzuhalten ist, dass sich die ältere Generation heute in ihrem Partizipationsverhalten wenig von den anderen Altersgruppen in der Kirche unterscheidet, mit Ausnahme der Hochaltrigen, die noch immer eine tendenziell stärkere Verbundenheit erkennen lassen. Ansonsten werden sich auch bei den nachwachsenden Alten voraussichtlich die Formen distanzierter Kirchlichkeit mit einem allenfalls punktuellen gemeindlichen Engagement weiter verstärken. Dies ist freilich umso mehr ein Grund, sich wenigstens mit den Voraussetzungen für ein bleibendes Interesse an Religion und Kirche genauer auseinanderzusetzen. Zunächst zeigt sich auch hier die Tendenz der Coping-orientierten Untersuchungen, dass Religiosität sich mit Lebenszufriedenheit verbindet. „Darüber hinaus koppelt die Religiosität an positive beziehungsweise aktive Altersbilder an. Mit zunehmender Religiosität wächst der Zuspruch zu den Vorstellungen, dass man selbst mit dem Älterwerden an innerer Stärke gewinnt und sich die eigenen Fähigkeiten erweitern, dass ältere Menschen Alterungsprozesse aktiv hinauszuzögern versuchen und weise werden“ (Ahrens, 2011, 5). Die Befragten stellen demnach eine interessante Verbindung zwischen Religiosität, → Lebenskunst- bzw. Weisheitskonzepten und einem daraus erwachsenden positiven Selbstbild her. Allerdings ergibt sich zugleich ein merkwürdiger Parallelbefund dergestalt, dass sich die Frage nach dem Sinn des Lebens eher mit einem negativen Lebensgefühl verbindet, d.h., dass sie offenbar eng mit Verlusterfahrung und dem Zugehen auf das Lebensende korreliert wird (Ahrens, 2011, 75). Die Sinnfrage wird demnach explizit im Sinne einer „Gerotrans-zendenz“ (Charbonnier, 2014, 126f.) dann als unausweichlich empfunden, wenn es um Kontingenzbewältigung im Kontext von Leid und Tod geht. Es gehört von daher zu den zentralen Aufgaben religiöser Begleitung und Bildung, dies einerseits weiterhin ernst zu nehmen und andererseits dem Verhältnis von Religiosität und Sinnfragen in dieser Alterskohorte über diesen signifikanten Befund hinaus weiter nachzugehen und gerade auch die Sinnpotentiale zu heben und einer bewussten Thematisierung zugänglich zu machen, die sich hinter den Aussagen: Älterwerden bedeutet, dass „ich mich selbst genauer kennen und einschätzen lerne“, „ich genauer weiß, was ich will“ und „sich meine Fähigkeiten erweitern“ implizit verbergen (Ahrens, 2011, 40). Offenbar gehen jedenfalls die eigenen Verknüpfungen von Sinnfrage, Religion und Alter über das hinaus, was ihnen Philosophen und Theologen im Sinne der Radikalisierung der geschöpflichen Grundsituation zuschreiben und eben doch stark mit der Verarbeitung von Verlusterfahrungen verbinden (Rensch, 2014; Mulia, 2011, 69-75). Die Erfahrungen der Radikalisierung, Verdichtung und Intensivierung müssen sich nicht nur auf Dimensionen des Verlustes richten, sondern können auch andere Aspekte des Geschöpfseins im Alter noch einmal besonders bewusst werden lassen, wie z.B.: Dankbarkeit und die Erfahrung des Sich-Verdankens; die Wahrnehmung geschenkter Zeit, die zur aktiven Gestaltung verbleibt; Zugewinn an Gelassenheit, die eine Konzentration auf das für das eigene Leben Wesentliche erlaubt.

Hier klingen zentrale Motive von Weisheitskonzepten und → Lebenskunst an, die befördert werden können, ohne jedoch intentional verfolgt werden zu können. Weisheit ist immer nur von außen zuschreibbar. Im Wissen um diese Unterscheidung geht es im Kontext der Seniorenarbeit und der Altenbildung um das Eruieren von alternsadäquaten Lebensformen und -stilen im Spannungsfeld von Selbstbestimmung/Selbstsorge und Fürsorge. „Es ist die kritische Weisheit, die als Zentralperspektive der gerontologisch engagierten Praktischen Theologie die Ebenen der Diskussionen verknüpft. Denn Ziel der Verknüpfung ist es, die Chancen und Grenzen der Rede von der Weisheit aus theologischer Sicht mit Blick auf das Altern zu reflektieren. Von einer Perspektive ist zu reden, weil das Weisheitliche die Handlungen, die besonnen ans Werk geht, auf ein Ziel ausrichtet und zugleich am Anfang der Wahrnehmung des Alter(n)s steht. Die Weisheit wird nicht definiert, aber bestimmt durch den Geist der Liebe“ (Kunz, 2009, 202; vgl. dazu auch Bauer/Colditz, 2015).

In diesem Zusammenhang ist auch die biblische Tradition mit ihrer vielstimmigen Rede vom Altern in den so bestimmten Dialog mit den älteren Menschen und ihren Vorstellungen vom guten Leben einzubringen. Dabei kann es sich als Stärke erweisen, dass gerade die biblischen Texte von einer deutungsoffenen Ambivalenz in der Wahrnehmung des Alterns – über die kulturellen Differenzen hinweg – zeugen, die anregend bleiben. So finden sich eine Fülle von Anschlussstellen für die gegenwärtige Lebensdeutung im Alter, von denen nur einige genannt seien: die Kennzeichnung des Alters als Segen und Geschenk, als eines der höchsten Güter angesichts der Endlichkeit von Leben, damit verbunden die Ehrung und Wertschätzung des Alters (→ Lev 19,32; → Ex 20,12), die metaphorische Verarbeitung der Lasten des Alterns in der Weisheit Kohelets (→ Koh 12,1-7), die Abwägung von Dank und Klage, Verlust und Gewinn des Alters im Kontext einer sich wandelnden Gottesbeziehung in → Ps 71, die spezifische Ermutigung, im Alter neu werden zu können bei Abraham und Sara (→ Gen 18) und das Motiv der Erfüllung im Alter bei Simeon und Hanna (→ Lk 2).

4. Themenfelder und Gestaltungsoptionen von Seniorenarbeit und Altenbildung

Das Handlungsfeld der Seniorenarbeit und der Altenbildung partizipiert an den wesentlichen Grundüberlegungen der gegenwärtigen → Gemeindepädagogik, wonach sich Prozesse der Regionalisierung und Spezialisierung von Angeboten angesichts der Ressourcen- und Interessenlagen ebenso abzeichnen wie auch die Ergänzung von vorrangig kontinuierlichen Angeboten durch projektbezogene Angebote auf Zeit, die dem Partizipationsverhalten der Menschen im dritten Alter unter Umständen eher entgegenkommen (Blasberg-Kuhnke/Wittrahm, 2007; Mulia, 2011). Dazu gehört der kommunikative und möglicherweise auch strukturelle Austausch mit anderen übergemeindlichen Bildungsaktivitäten und -trägern im Kontext der offenen Altenarbeit, die Verknüpfung von Gemeindeaktivitäten und bürgerschaftlichem Engagement im nachbarschaftlichen Sozialraum bis hin zur Beteiligung an Community-Care-Konzepten (Dörner, 2007 und zu den Einzelaspekten auch Blasberg-Kuhnke/Wittrahm, 2007; Mulia, 2011).

Gilt die Bedeutsamkeit erfahrungsbasierten Lernens (→ Erfahrung) für alle Lebensalter inzwischen als didaktischer common sense, spitzt sich jedoch die Bedeutung des Erfahrungsbezugs für Bildungsprozesse im Alter noch einmal zu, denn Erfahrung und Interesse sind jetzt nicht nur Basis und Anknüpfungspunkt für Neues, sondern ein scharfes Selektionsinstrument hinsichtlich der Relevanz von Lerninhalten. Dem einzelnen muss vor dem Horizont seines Erfahrungswissens die Sinnhaftigkeit von Bildungsangeboten unmittelbar einleuchten, damit sie seine Aufmerksamkeit finden.

Eingedenk dieser Rahmenbedingungen schlägt Mulia für den Kernbereich der kirchlichen Altenbildung in Anlehnung an Kade vier umfassende thematische Felder vor: Biografie; Produktivität/freiwilliges Engagement und Zivilgesellschaft; Kultur, Kunst und Ästhetik (→ Bildung, ästhetische); → Körper, Gesundheit, Reisen und → Spiritualität. Obwohl es so aussieht, als ob nur im vierten Feld über die Spiritualität die religiöse Dimension ins Spiel käme, zeigt die Durchführung bei Mulia jedoch eine durchgängige Verknüpfung von existentiellen Fragestellungen, religionshermeneutischen und theologischen Perspektiven, die es nachdrücklich zu unterstreichen gilt und die sich quer durch alle thematischen Felder bewähren muss.

In einem besonderen Fokus stehen dabei die Bemühungen, die im Kontext biographiebezogenen Lernens im Alter die Aspekte der Ausbildung narrativer Identität, Selbstreflexion und (religiöser) Sinnorientierung zu verbinden erlauben (Evers, 2003; Mulia, 2011; Blasberg-Kuhnke/Wittrahm, 2007; Kumlehn, 2009; 2012; 2014). In der Altenbildung könnte eine religiös-hermeneutische Lebenskunst im Zentrum stehen, die mit den älteren Menschen im Ausgang von der eigenen Tradition und den Erfahrungen der eigenen Lebensgeschichte eine Wahrnehmungs-, Frage- und Vergewisserungskultur pflegt. Den Fragen nach dem Selbst, den Erfahrungen seines Gewordenseins, den Suchbewegungen und den damit verbundenen Hoffnungen und Erwartungen für die verbleibende Zeit ist dabei vorrangig Raum zu geben. Im christlichen Kontext müssen diesbezüglich die Spannungsfelder von → Freiheit und Abhängigkeit, Aktivität und Passivität, Neuaufbruch und Beheimatung, schöpferischen Potentialen und zunehmender Verletzlichkeit, Entwicklungsmöglichkeiten und Entwicklungsgrenzen ausgelotet werden. Diese spezifische Erschließung der Möglichkeitsräume individueller Alterungsprozesse und ihrer Deutung im immer neuen Aufbau narrativer, also erzählerischer, Identität, inklusive einer intensiven Erinnerungskultur, schließt selbstverständlich die Auseinandersetzung mit Schuld, Fragmentarität und Vergebung ein.

Im Sinne der grundlegenden Einsichten in die Weisen der Selbstbildung ist dann genauer zu fragen, welche Problem- und Themenstellungen für die noch aktiven Alten zu Katalysatoren der Frage nach dem Selbst und seinen Quellen werden können und anhand welcher biblischer Traditionen bzw. anderer geeigneter narrativer Stoffe diese Fragen aufgenommen, verfremdet und vertieft werden können. Eine religions- und kulturhermeneutisch sensibilisierte Theologie kann sich noch sehr viel differenzierter auf die Lebenswelt der Älteren einstellen und bisher eher randständige Phänomene als Auslöser für Prozesse der Selbstvergewisserung interessant werden lassen. Neben den spirituellen Sehnsüchten, die sich mit dem Reisen verbinden, der Reflexion von Krankheit und Gesundheit und veränderten Erfahrungen der eigenen → Leiblichkeit gehören dazu auch die Zeitwahrnehmung, das Generationenverhältnis bzw. die Bedeutung der → Familie, die eigenen Orte, wie z.B. der Garten, oder auch das Verhältnis von → Medien und Alter. Dabei sind kulturelle Erkundungen und ihre vertiefende, kontrastierende, irritierende Deutung mit ungewohnten Perspektiven christlicher Lebenskunst jeweils zu verschränken. Ein besonderes Potential ist in diesbezüglichen Projekten zum intergenerationalen Lernen zu entdecken, das z.B. in Erzählcafés Fragen nachgeht, die generationenübergreifend von Interesse sind, die Zeitzeugenschaft und religiöse Reflexion gleichermaßen herausfordern. Hochaktuell wären da Projekte zu Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Möglichkeiten der Neubeheimatung.

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