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(erstellt: Februar 2016)

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Die Suche nach Wahrheit und die Verständigung über ihren Inhalt stellen elementare Herausforderungen für menschliches Denken, für Religionssysteme wie auch für verschiedene Wissenschaftsdisziplinen durch alle Epochen der Geschichte dar. Auf Wahrheit ist ein funktionsfähiges Rechtssystem angewiesen, ebenso alle Entwicklungs- und Bildungsprozesse in öffentlicher Schule. Wahrheit ist politischen Machtverhältnissen und kulturellen Bedingungen ausgesetzt. In der Gegenwart geschieht Auseinandersetzung mit der Wahrheitsfrage im Kontext konkurrierender weltanschaulicher Wahrheitsansprüche und verschärfter sozialer und kultureller Gefährdungen des Umgangs mit der Wahrheit. Aus alledem ergeben sich eminente Herausforderung für Theorie und Praxis des Religionsunterrichts.

1. Philosophische Zugänge

1.1. Wahrheitstheoretische Modelle

Die Suche nach Erkenntnis von Wahrheit stellt für die abendländische Philosophie seit ihren Ursprüngen ein zentrales und sehr komplexes Thema dar (zur Geschichte vgl. Szaif, 2006). Denn die Wahrheitsfrage wurde und wird verhandelt im Schnittpunkt von Logik, Erkenntnistheorie, Ontologie, Ethik und Semantik. Die Möglichkeit zu wahrer Erkenntnis wurde gegen das bloße Meinen, gegen den Anschein und gegen den Zweifel des radikalen Skeptizismus bereits von antiken Philosophen verteidigt, dabei wurden gleichzeitig Kriterien von Wahrheit in kritischem Denken formuliert.

Für die gegenwärtige Philosophie gilt: Wahrheit darf nicht als Eigenschaft von Gegenständen begriffen werden, sondern sie stellt eine Relation von erkennendem Subjekt und Aussagen in Form von propositionaler Rede dar. Zur genaueren Bestimmung dieser Zusammenhänge sind in der neuzeitlichen Philosophie Wahrheitstheorien entwickelt worden, welche die Geltungsbedingungen von Aussagen und methodisch reflektierte Verfahren ihrer Erstellung sowie die Möglichkeit der Verifizierung angeben.

In grober Klassifizierung kann man folgende Theoriemodelle unterscheiden:

  • die Korrespondenz- oder Adäquanztheorie verfolgt die Grundthese, dass Wahrheit in der Übereinstimmung von Sache und Bewusstsein dieser Sache bestehe (klassisch formuliert bei Thomas von Aquin „Veritas est adaequatio rei et intellectus“ Quaestiones disputatae de veritate q.1, a.1). Einen Spezialfall stellt die Abbildtheorie dar, welche von der Korrespondenz von Wirklichkeit mit Sprache ausgeht (Wittgenstein)
  • die Evidenztheorie (Spinoza; Husserl) geht davon aus, dass bestimmte Wahrnehmung zur Wahrheit führen kann, insofern der Wahrheitsgehalt gewisser Aussagen in der subjektiven Erfahrung unmittelbar einleuchtet
  • die logisch-semantische Wahrheitstheorie analytischer Philosophie geht davon aus, dass alle Wirklichkeit schon immer sprachlich verfasst ist. Wahr sind dann nur Aussagen der Meta-Sprache, deren logischen Äquivalenz zur Umgangssprache erwiesen worden ist (Tauski)
  • die Konsenstheorie geht davon aus, dass über die Berechtigung eines Wahrheitsanspruchs nicht die Evidenz von Erfahrungen entscheidet, sondern dass sich der Geltungsanspruch einer Behauptung im Gang von Argumentationen innerhalb eines Diskurses erweisen muss (Habermas, 1973)
  • die Kohärenztheorie richtet sich nicht auf Übereinstimmung von Aussage und externem Sachverhalt, sondern darauf, ob sich eine Aussage widerspruchsfrei in ein Gesamtsystem von Aussagen einordnen lässt
  • die pragmatisch-empirische Wahrheitstheorie (Peirce) nimmt die praktischen Konsequenzen aus einer Aussage als Wahrheitskriterium. Wahr ist, was sich in wissenschaftlicher Praxis bewährt hat in dem Sinne, dass Probleme gelöst worden sind.

Diese Theorien richten sich in unterschiedlichem Maße auf Verständlichkeit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit und Gewissheit von Aussagen. Jede dieser Theorien weist Stärken und Schwachstellen auf (zum Überblick vgl. Skirbekk, 1977). Am einflussreichsten ist die Korrespondenztheorie geworden.

Insbesondere unter neuzeitlichen Denkbedingungen besteht in der Philosophie Konsens darüber, dass Erkenntnis der Wahrheit mit begrifflicher oder gar mathematisierbarer Präzision immer nur näherungsweise gelingt. Wahrheit, modern gedacht, ist nicht mehr plausibel als gesicherter Besitz von Erkenntnissen in Form von Substanzen mit zeitlos-ewiger Gültigkeit und unangreifbarer Sicherheit. Menschlicher Zugriff auf Sachen, auf Natur nach dem Zerfall der alten metaphysischen Gewissheiten ist nicht mehr im Modell eines naiven Realismus möglich. Der Mensch ist in der Erkenntnis von Wahrheit auf Vorläufigkeit angewiesen. Auf das Problem der Begrenzung menschlicher Wahrheitsfindung sind unterschiedliche Antworten gegeben worden. Einerseits wird geltend gemacht, dass der Wahrheitsbegriff dennoch als regulative Idee oder als Ideal im Sinne der Annäherung an die Wahrheit festgehalten werden soll (Picht, 1969, 13; Kolakowski, 1977). Als gewisse Kompensation des Mangels an absoluter Wahrheitserkenntnis wird andererseits von einigen das anthropologische Vermögen des metaphorischen und gleichnishaften Begreifens geltend gemacht (Blumenberg, 1981; Heimbrock, 2012).

1.2. Zur Wahrheit des Ästhetischen

Wenn sich philosophische Wahrheitstheorien schwerpunktmäßig auf Geltung und Wahrheitswert diskursiver Aussagen richten und von einem Referenzverhältnis zwischen Aussage und ausgesagter Wirklichkeit ausgehen, stellt sich die Frage nach dem Wahrheitswert von menschlichen Gestaltungen in nicht diskursiven und nicht sprachlichen Äußerungsformen, in darstellender Kunst, Musik, Dichtung etc. Damit ist das Problem des Wahrheitswertes ästhetischer Phänomene berührt. Während die antike Philosophie (vor allem Plato) hier nur den schönen Schein der Dinge attestierte und noch Kant Kunst auf subjektiv gültige Geschmacksurteile reduzierte, gibt es in der Gegenwart neue philosophische Zugänge zum Wahrheitsproblem des Ästhetischen (vgl. insgesamt Hamburger, 1979). Über philosophische Grundkonzeptionen hinweg geht man dabei sachlich von einer gemeinsamen Grundthese aus, dass Kunst zwar nicht begriffliche Wahrheit aussagt, dass sie – bei aller Ambivalenz – gleichwohl Erkenntnis vermitteln kann und insofern wahrheitshaltig ist. Und diese Erkenntnis ist an den Zugang zur Kunst als Phänomen gebunden. Wahrheit darf nicht essentialistisch von Formen der Darstellung gelöst werden. Sinn und Bedeutung von künstlerischen Darstellungen ist sinnvoll verstehbar nur in diesem Zusammenhang. „Weder gibt es einen gestaltlosen Sinn hinter den Erscheinungen, noch ist die Erscheinung unwesentliche Einkleidung, vielmehr zeigt sich Sinn nur unter den Bedingungen einer jeweiligen Darstellung bzw. deren Medien, Artikulationsweisen und Rezeption“ (Schürmann, 2013, 304).

In der Kritischen Theorie Adornos wird der Wahrheitsgehalt der Kunst in die unversöhnliche Polarität von Wahrheit und Wirklichkeit, von Affirmation und Transzendenz gespannt. „Wahr ist nur, was nicht in diese Welt passt.“ Wahrheit in künstlerischer Produktion wird dann als die Fähigkeit zur Kritik des Bestehenden identifiziert, eine Kritik, die die Wirklichkeit als unversöhnte zur Erscheinung bringt. Aber: Kunstwerke sagen die Wahrheit über die Gesellschaft in einer anderen Sprache als die kritische Gesellschaftstheorie. Und darin liegt das rätselhafte Moment ihrer Wahrheit. „In ihrer Bewegung auf Wahrheit hin bedürfen die Kunstwerke des Begriffs, den sie um der Wahrheit willen von sich fernhalten“ (Adorno, 1970, 201).

Eher der hermeneutischen Reflexion nahestehende philosophische Konzepte thematisieren die Wahrheitsfähigkeit von Kunst im Kontext ästhetischer Rezeption und Produktion künstlerischer Werke. Gadamer knüpft in seiner fundamentalhermeneutischen Reflexion den Wahrheitsanspruch von Kunst als Ausdruckshandeln ohne Referenz in der äußeren Realität an das Besondere ästhetischer Erfahrung (Gadamer, 1972, 77-96).

Sachlich in engem Zusammenhang zum Wahrheitswert des Ästhetischen steht das Problem der Wahrheit des Fiktionalen. Nimmt man Fiktion als bloßes erdachtes Hirngespinst im Gegensatz zur Wirklichkeit, so kann ihr keine Wahrheit zukommen. Geht man hingegen davon aus, dass Fiktionen dichterisch das Mögliche entwerfen (so schon Aristoteles), dann dient künstlerische Fiktion dazu, Erprobungsräume für eine realitätsüberschreitende Beschreibungen der Welt zu bieten. Der Fiktion kommt dann eine wichtige Funktion für Wahrheitserkenntnis zu, insofern sie es ermöglichen kann, sich mit einer anderen Welt auseinanderzusetzen und realitätsbezogene Beschreibungen auf ihre Angemessenheit kritisch zu befragen. In diesem Zusammenhang kommt der Neuverständigung über den Zusammenhang von Wahrheit und Metapher theoretisch eine Schlüsselstellung zu (Ricoeur, 1986).

2. Theologische Reflexion christlicher Wahrheitserfahrung

Auch christliche Theologie als Reflexion von Offenbarung und Glauben ist von Beginn an immer wieder auf die Wahrheitsfrage bezogen. Sie hat im Laufe der Geschichte vielfältig Fragestellungen und Denkmodelle philosophischer Wahrheitsreflexion aufgenommen, um den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens zu explizieren. Gleichwohl behauptet christliche Theologie gegenüber der Philosophie im Kern ein anderes Verständnis von Wahrheit. Im Horizont der Denk- und Erfahrungsbedingungen der Gegenwart lassen sich – in holzschnittartiger Zusammenfassung – folgende Charakteristika festhalten:

  • Theologie verweist darauf, dass christlicher Glaube nicht auf theoretische Wahrheit gerichtet ist und deshalb die Gewissheit ihrer Wahrheitserschließung nicht primär an logisch korrekter Aussageform festmacht. Theologie fragt nach Inhalten und Formen lebensbedeutsamer Wahrheit. Nicht die Sicherheit des gedanklichen Für-Wahr-Haltens, sondern das Wagnis der existenziellen Wahr-Nehmung gilt als menschliche Entsprechung zur Wahrheit Gottes. Entsprechend hat Paul Tillich die Praxis-Struktur christlicher Wahrheit beschrieben (Tillich, 1978; vgl. auch Link, 1982).
  • Der skeptischen Frage des Pilatus „Was ist Wahrheit?“ wird im biblischen Zeugnis keine andere theoretische Wahrheitsschau gegenübergestellt, sondern das Zeugnis des johanneischen Christus: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Wahrheit christlich formuliert richtet sich weniger auf ein Was? als auf ein Wer?. Für sie gilt unabdingbar der Zusammenhang von Wahrheit und Person (vgl. schon das hebräische Äquivalent emet zum Begriff Wahrheit, das sich vor allem auf Vertrauen richtet). Und deshalb ist das Moment der existenziellen Wahrheit-für-mich hier unverzichtbar. Entsprechend hat Emil Brunner Wahrheit als personale Begegnung des Menschen mit Gott beschrieben (Brunner, 1938). Das Moment der „lebendigen Wahrheit“ (Bonhoeffer, 1966, 388) bestimmt auch die spezifisch Perspektive theologischer Ethik im Umgang mit Wahrheit und Lüge.
  • Für modernes, nach-metaphysisches Verständnis der Theologie gilt Wahrheit nicht mehr perfektivisch und statisch (so noch Thomas von Aquin „Gott ist die reine Wahrheit“, Thomas Summa contra gentiles I, cap 61), sondern als ein Prozess. Wahrheit ist nicht, sie wird, ihr kommt Ereignischarakter zu, sie erweist sich in der Zukunft. Die Geschichtlichkeit der Wahrheit gilt in einem Entsprechungsverhältnis für die Wahrheit Gottes (vgl. die Selbstprädikation Jahwes 2Mos 3,14) wie auch für die Wahrheit jedes Menschen. „Gott ist wahr, indem er das Leben von Personen wahr macht“ (Dalferth, 2004, 321).
  • Vom christlichen Zeugnis her, dass Gott als Wahrheit gerade im gekreuzigten Christus offenbar wird, akzentuiert Theologie in ihrem Wahrheitsverständnis gegen philosophische Identitätskonzepte (etwa Heidegger) Differenz und Fremdheit als Grundmoment und betont das Nicht-Identische und das absolute Paradoxon im Wahrheitsverständnis.
  • Neuere exegetische, sprachtheologische wie systematische theologische Reflexionen haben im Rekurs auf biblische Sprachformen herausgearbeitet, dass religiöse Rede ihre Wahrheit nur unter Zuhilfenahme von Metaphern zum Ausdruck bringt. Der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens richtet sich im Unterschied zur philosophischen Korrespondenztheorie (s.o. 1) darauf, der Wirklichkeit ein „mehr“ zuzusprechen (Jüngel, 1980).
  • Integraler Bestandteil aller Religionen ist neben der sinnstiftenden Orientierung über Welt und der ethischen Orientierung unabdingbar das Element der Feier als zweckfrei spielerisch-dramatischem Handeln. Auch im Ritual des christlichen Gottesdienstes und der Kasualfeiern kann sich für Menschen Wahrheit ihres Lebens vor Gott dort eröffnen, wo sie gerade auf verfügendes Handeln verzichten. Theologisch entscheidend für die Wahrheit des Rituals bleibt dabei dessen Verständnis und Vollzug ohne Verdinglichung des Unbedingten in den rituellen Ausdrucksformen (Plüss, 2010).
  • Was als theologische Wahrheit Geltung beanspruchen kann, bestimmt nicht ein Mensch und bestimmt kein Mensch ein für alle Mal. Vielmehr kann dies immer nur (vorläufiges) Resultat eines Verständigungsprozesses sein. Darin liegt ihr kommunikatives oder konziliares Charakteristikum. Wahrheit ist hier dialogfähig und dialogbedürftig.
  • In der Situation des radikalen weltanschaulichen Pluralismus der Gegenwart ist das Erfordernis zum Dialog über Wahrheit besonders virulent. Immer drängender wird deshalb auch für christliche Theologie die Frage, wie sich der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens jenseits überlebter Absolutheitsansprüche gleichwohl als ein universaler Anspruch heute denkerisch, lebenspraktisch und politisch einbringen lässt, ohne in Relativismus oder Fundamentalismus abzugleiten. Hierzu sind verschiedene religionstheoretische Modelle entwickelt worden (exklusivistisch, inklustivistisch, perspektivisch). Weitgehend konsensfähig ist dabei zunächst, dass nur noch gewaltfreie Formen der Vertretung der Wahrheit des Glaubens in Betracht kommen können (wie Zeugnis, Dialog und Lebensgestaltung). Ferner gilt, dass Wahrheit des Glaubens nicht universalistisch oberhalb von Religionssystemen, sondern als „positioneller Pluralismus“ (Härle, 1998) zu entfalten ist, was mit der Achtung vor den Wahrheitsansprüchen anderer Religionen zu vereinen ist. Schließlich wird dafür plädiert, dass die empirisch vorfindliche Pluralität „des Wahrheitsbewußtseins aus der Perspektive des Glaubens zu ertragen (Toleranz) und zu glauben“ ist (Schwöbel, 2003, 57).

3. Veränderte Kontexte der Wahrheitsfindung in der Medienkultur

Wenn philosophische wie theologische Zugänge zur Wahrheit stets mit einem so oder so gefassten Bezug auf Wirklichkeit entwickelt werden, dann sind diejenigen Veränderungen an der Wahrnehmung der Wirklichkeit für ein kulturell herrschendes Verständnis von Wahrheit erheblich, die durch das Vordringen und systematische Steuerung einer von elektronisch erzeugten Bildern beherrschten Kultur im Verlauf der jüngeren Kulturgeschichte in Gang gesetzt worden sind (Faßler, 2009). Diesen Mechanismen und ihren medienanthropologischen Kontexten in unserer Lebenswelt nachzugehen, ist erforderlich, weil dabei gleichzeitig wichtige Bedingungen auch aller Bildungsprozesse und der religionspädagogischen Praxis im Umgang mit der Wahrheitsfrage angesprochen sind.

Generell gilt, dass Medien gleichzeitig als Informationstechnologie und als kulturelle Form zu verstehen sind. Die technische Inszenierung von Wirklichkeit in Spielarten medial erzeugter virtueller Realität tritt mit dem Aufkommen digitaler Medientechnologien wie Internet, Soziale Online-Netzwerke und mobile Kommunikationstechnologien nicht mehr als bloßer Schein auf wie in der Philosophie Platos oder als Gegenwelt literarischer Fiktion, sondern mit dem Anspruch des Faktischen. Der französische Soziologe Baudrillard hat die Veränderungen der Wirklichkeitswahrnehmung durch extensive Herrschaft des medialSimulativen mit dem Begriff Hyperrealismus näher gefasst (Baudrillard, 1978). Medientechnik führt dazu, dass es in der Wahrnehmung tendenziell keinen Unterschied mehr gibt zwischen der Realität und ihrer symbolischen Abbildung, dass damit die Unterscheidung zwischen Wissen über das Reale und über das Imaginäre hinfällig wird, dass wahr und falsch nicht mehr unterscheidbar sind. Als wahr gilt, was im Bild ist (McLuhan), und dies gerade auch in Formen des photographischen oder filmischen „Dokumentarismus“ etwa in der Kriegsberichterstattung.

Wenn wissenssoziologisch generell gilt, dass Denkformen sich nicht naturwüchsig entwickeln, sondern dass jede Gesellschaft die in ihr als plausibel geltenden Wissensformen kontrolliert, dann geht es im Blick auf das Wahrheitsproblem speziell darum, wie die Produktion von Wahrheit immer schon von gesellschaftlichen Machtverhältnissen gelenkt wird. Michel Foucault spricht dies als Programm einer „Politik der Wahrheit“ an (Foucault, 1978). Wahrheit zeigt sich in ihrer Qualität als Deutungsmacht (Stoellger, 2015). Neil Postman hat die Einwirkungen dieser Mechanismen auf die Schule ausführlich thematisiert (Postman, 1995). Auch die Folgerungen für Medienethik sind inzwischen thematisiert worden (Wunden, 1996).

In Betracht zu ziehen ist allerdings nicht nur die Gefährdung der Wahrheitsfindung durch Deformation des Wirklichkeitssinnes durch gesellschaftliche und kulturelle Trends,sondern zugleich eine spezifische Möglichkeit medialer Kommunikation zur Aufdeckung der Deformation von Wahrheit (vgl. etwa den Film „Truemanshow“; vgl. zur Medienanthropologie sowie insgesamt Pirner/Rath, 2003.)

Die theologische Antwort auf solche kulturellen Entwicklungen muss allerdings differenziert ausfallen und darf elektronischen Medien nicht pauschalen Realitätsverlust im Namen einer „wahren“ Wirklichkeit Gottes attestieren. Das ließe nämlich außer Acht, dass auch jede religiöse Wirklichkeit nur medial darstellbar ist.

4. Religionspädagogische Horizonte des Themas

Religionspädagogik versucht, im Rückbezug auf die skizzierten Beiträge zur Wahrheitsfrage pädagogische, bildungstheoretische und didaktische Orientierung zu formulieren.

4.1. Religionsunterricht im Bezug auf die Wahrheitsfrage

Christlicher Religionsunterricht in der öffentlichen Schule muss von seiner theologischen Orientierung her wie auch im Blick auf die Zielsetzung der Bildung die Auseinandersetzung mit der Wahrheitsfrage fördern und einüben. Das schließt kognitive, ästhetische wie ethische Aspekte von Bildungsprozessen ein. Er ist auch insoweit Teil des gesamten kirchlichen Bildungshandelns, das über Werteerziehung hinausgeht. Mit der EKD-Denkschrift „Kirche und Bildung“ gilt: „Nach evangelischem Verständnis geht […] mit dem Bezug auf Gott die Wahrheitsfrage allen Werten voraus“ (Kirchenamt der EKD, 2010, 50).

In kognitiver Hinsicht gilt, dass unter Berücksichtigung der sich bei Kindern entwickelnden Zugänge zur Wahrheit altersgemäß in die Eigenart religiöser Verständigung über Wahrheit im existenziellen Bezug, d.h. nicht abstrakt, sondern in konkreten Lebensbezügen eingeführt wird (→ Entwicklungspsychologie). Dabei sind die entsprechenden Fragen der Kinder behutsam aufzunehmen (Büttner, 2014). Sie spiegeln auf elementare Weise die das philosophische Denken bestimmenden Zugänge zur Wahrheit (Gaarder, 2001; s.o. 1) und dürfen im Unterricht keinesfalls in Konkurrenz zu theologischer Verständigung über die personal bestimmte Wahrheit im christlichen Glauben geraten. Erforderlich ist dazu im Bereich ästhetischer Bildung insbesondere die Anbahnung von Einsicht in die spezifischen Ausdrucksformen religiöser Sprache jenseits der Beschreibung von Fakten (Metaphern, Zeugnisse usw.). Nur so kann auch eine falsche Konkurrenz zu naturwissenschaftlich bestimmter Wahrheit von Tatsachenbeschreibungen vermieden werden.

Unter gesellschaftlichen Bedingungen des radikalen Pluralismus wird als Ziel eines konfessionsgebundenen Religionsunterrichts in der öffentlichen Schule die Einübung in pluralitätsfähige Wahrheitsfindung im Sinne eines „starken Pluralismus“ (Nipkow, 1988) gesehen, welcher junge Menschen zu begründeter eigener Wahl befähigt. Wird die Wahl zwischen unterschiedlichen Glaubenssystemen nicht mehr öffentlich diskutabel, vielmehr zur puren Angelegenheit der persönlichen Präferenz deklariert, so steht am Ende des Respekts vor allen Wahrheiten der Indifferentismus und der Agnostizismus als Folge des Religionsunterrichts. Auch in einem auf den interreligiösen Dialog bezogenen Religionsunterricht darf die Wahrheitsfrage also nicht dauerhaft ausgeklammert bleiben (Schlag, 2012).

In Hinsicht auf ethische Bildung liegt der Beitrag des Religionsunterrichts darin, entsprechend dem personalen Charakter von christlichem Wahrheitsverständnis nicht allein auf abstrakte Geltung des Gebots „Du sollst nicht lügen!“ abzustellen, sondern jenseits legalistischer Begründungen für den lebensdienlichen Zusammenhang von Wahrheit und Beziehung zu sensibilisieren (Heimbrock-Stratmann, 1993).

4.2. „Wahrheitskompetenz“ der Lehrkräfte

Solche vielfältige Bezugnahme des Religionsunterrichts auf der Wahrheitsfrage setzt auf Seiten der Lehrkräfte des Religionsunterrichts die professionsspezifische Fähigkeit zur eigenen Positionierung im Sinne „gelebter Konfessionalität“ (Heimbrock/Kerntke, 2015) voraus. Diese „Wahrheitskompetenz“ lässt sich so umschreiben: „Zu ihrer Professionalität gehört es, Religion über das im Unterricht zur Geltung kommende reflektierte Urteil hinaus auch im Modus von Gewissheit und stilsicherem Umgang zu zeigen, um den Schülern das eigene Urteil in der Weise zu ermöglichen, dass es der Entwicklung und Vertiefung einer eigenen Gewissheit nicht entgegensteht “ (Dressler, 2007, 174).

4.3. Neue Fragestellungen der Medienerziehung

Aus den veränderten Wirklichkeitszugängen in der von elektronischen Medien geprägten Alltagskultur (s.o. 3) ergeben sich jenseits der unterrichtstechnischen Nutzung neuer Medien prinzipielle Herausforderungen an die Religionspädagogik. Wenn diese Medien und Kommunikationsformen religionsähnliche Funktionen bekommen und ihr Anteil an der Vermittlung von Weltbildern und Sinnstiftungen empirisch nachweislich wächst, dann wird kritische Medienerziehung im Sinne einer Medienethik auch Teil religionspädagogischer Lernprozesse in Sachen Wahrheit (Pirner, 2006). Die Realisierung dieser Aufgabenstellung setzt zudem auf Seiten der Lehrkräfte Information über Mediensozialisation der Schüler voraus (Pirner, 2012).

4.4. Theologische Wahrheitsfindung als Kriteriologie für Lernwege

Insbesondere aus den theologischen Bestimmungen christlicher Wahrheitserfahrung ergeben sich wichtige Einsichten in das Verständnis des Zusammenhangs von Glauben und Lernen. Der pädagogischen Frage nach angemessenen Wegen des Lernens entspricht diejenige nach dem Weg zur Wahrheit des christlichen Glaubens in mehrfacher Hinsicht. Die Spezifika theologischer Wahrheitsfindung können deshalb als Kriteriologie für die Gestaltung humaner Lernprozesse generell eingebracht werden (Heimbrock, 1984, 78-82). Regulative menschlichen Lernens von da aus sind etwa dialogisch-kommunikative Aushandlung von Wahrheit und Förderung kommunikativer Kompetenz, die Einübung imaginativer Distanz, Relativierung und Transzendierung von Realität durch ein auf Metaphern bezogenes Lernen sowie eine Entsprechung personal orientierter Wahrheitsfindung in Lernwegen, die berücksichtigen, „was ein Kind selbst sein kann und sein will“ (Maurer, 1981, 111).

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