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(erstellt: Februar 2016)

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1. Alltägliche Verwendungszusammenhänge und aktuelle Begriffskontexte

Vorwärts und nicht vergessen, / worin unsere Stärke besteht! / Beim Hungern und beim Essen, / vorwärts und nie vergessen: / die Solidarität!

Wer in den letzten Dekaden aufmerksam durch die kulturellen und politischen Landschaften Europas flaniert ist, wird nicht versäumt haben, mit welcher Deutlichkeit und Valenz diese Vokabel immer wieder in Gespräche und Tagesgeschäfte eingespielt worden ist: Da gibt es das Solidaritäts- oder Solidarprinzip, das sich als strukturelle Basis von gesetzlicher Krankenversicherung und weiteren Sozialversicherungssegmente versteht, aber auch den Solidaritätszuschlag, der 1991 als Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer, Kapitalertragsteuer und Körperschaftsteuer in Deutschland konzipiert wurde, um sogenannte Mehrbelastungen abfangen zu können. In den späten 1980er Jahren etwa machte der Solidaritätsbegriff besonders von sich reden, als die aus einer Streikbewegung heraus entstandene polnische Gewerkschaft Solidarność, unterstützt von regimekritischen Intellektuellen und kirchlichen Würdenträgern, ihre ganz maßgeblichen Beiträge zu einer politischen Wende in Polen hatte leisten können – und sich diese wiederum auf Entspannungs- und Emanzipationsszenarien in allen sogenannten damaligen Ostblockstaaten auswirken sollten. Fernerhin, aber nicht zuletzt, hat auch das sogenannte Solidaritäts- oder Arbeiterlied von Berthold Brecht (Text) und Hanns Eisler (Musik) – um 1929/30 entstanden und verfasst vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise, dem vorangegangenen Ersten Weltkrieg und der dringlich gewordenen sozialen Frage in Deutschland – die Popularitätskonjunktur des Solidaritätsgedankens begünstigt und besagten Terminus zu einer Art gesungener und verinnerlichter Kampfparole gekürt: Proletarier aller Länder, einigt euch und ihr seid frei. / Eure großen Regimenter brechen jede Tyrannei! / Vorwärts und nicht vergessen und die Frage konkret gestellt beim Hungern und beim Essen: / Wessen Morgen ist der Morgen? Wessen Welt ist die Welt?

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gilt es längst als Standard, in Betroffenheitsplädoyers für eine gute Sache die Solidaritätsidee aufzugreifen und den Solidaritätsbegriff zu bemühen: So zeichnet sich die Entwicklung eines großen Trends ab, (z.B. im Schulterschluss mit der Bundeskanzlerin) mehr Zeichen der Solidarität einzufordern oder zu setzen, Gesten der Solidarität zu zeigen, Aspekte von Loyalität und Mitgefühl unter der Rubrik Solidarität zu subsummieren – oder nach dem Anschlag auf die französische Satirezeitung Charlie Hebdo Künstler um Solidarität mit spitzem Stift zu bitten – ganz abgesehen davon, dass man seit 1974 die politisch abgründige Zeitschrift Neue Solidarität abonnieren kann.

Aber wie verhält sich dieser inflationär gebrauchte Begriff zu seinem ursprünglichen Sinn- und Bedeutungshorizont? Offenbar muss man sich, um ihm weiter auf die Spur zu kommen, doch von allerlei Sozial- und Revolutionsromantik lösen und recht weit in die Vergangenheit reisen:

2. Begriffs- und Sinngeschichte

2.1. Vom römischen Solidare zur französischen Solidarité

Das lateinische Verb solido (inf.: solidare, für: verdichten, fest machen, verstärken), vermutlich hergeleitet von solidus (-a, -um; adj. für hart, fest, stark, massiv, umfassend), stellt nicht nur die Sprachwurzeln für entwickelte Termini wie Solidität (lat.: soliditas), Saldo (evtl. vulgärlateinisch-italienisch von saldare: festmachen, begleichen, abrechnen), und Sold bzw. Soldat (über das dichterische bzw. spätlateinische soldus: Münze als Entgelt für Kriegsdienste), sondern spielt insbesondere in der römischen Rechtssprache eine maßgebliche Rolle: Hier nämlich wurde unter der Wendung obligatio in solidum eine besondere Form der Haftung erfasst, die man so zu verstehen hat, dass alle in einem Haftungsverbund zusammengeschlossenen Beteiligten verpflichtet waren, eine jeweils geschuldete Leistung vollständig zu erbringen. Das Besondere freilich bestand darin, dass nicht der Rechtsverbund in Summe, sondern eben jede einzelne Rechtsperson für die abzugleichende Gesamtschuld persönlich und in solidum (in Gänze) haftete, der Gläubiger sie aber nur einmal fordern durfte. Dieser Rechtsgedanke findet sich – eben unter Verwendung der Solidaritätsvokabel für den Begriff der Gesamtschuld – noch in Teilen der heutigen Gesetz- und Rechtsprechung bewahrt; so heißt es z.B. zur persönlichen Haftung von GmbH-Geschäftsführern in dem bekannten § 43 (Abs. 2) des GmbH-Gesetzes: „Geschäftsführer, welche ihre Obliegenheiten verletzen, haften der Gesellschaft solidarisch für den entstandenen Schaden.“

Ein Bedeutungs- und Sinnwandel kommt auf, indem sich besagte Haftungsfrage verschiebt – und man die Einzelperson von ihrer Haftung für das unterbestimmte Ganze suspendiert, um ihr nunmehr die Verantwortung für das bestimmbare Andere bzw. den konkreten Anderen zu übertragen. Aus der juristischen wird quasi eine moralisch-ethische Kategorie, die sich nicht auf wirtschaftlichen, sondern auf sozialen Plateaus zu realisieren hat: So machte etwa der französische Sozialreformer Claude Hélène Hippolyte Renaud (1803-1874) – von ihm stammt das erste Buch, das den Titel Solidarité führt – auf die schlichten Prinzipien moderner Wohlstandssysteme aufmerksam, die auf allzu vereinfachte Konzepte von Besitz und Eigentum zulaufen und gewisse Tendenzen zu Ausbeutung und Verantwortungslosigkeit in sich tragen. Im Anschluss an die Theorien des Utopischen Sozialismus, insbesondere die Einwürfe von François Marie Charles Fourier (1772-1837), stellt sich Renauds Lösungsvorschlag freilich nicht als Variation kommunistischer oder egalitaristischer Modelle dar, die eine Neuverteilung oder einen Ausgleich von Gütern anstreben, sondern versteht sich – im Sinne einer Gleichwertschätzung von Ressourcen, Gaben und Investitionen – als Plädoyer für ein organisch-harmonisches Gleichgewicht aller Beteiligten, deutlicher: für eine organische Solidarité. Gedacht war offenbar an eine Art von Verbundenheit der Menschheitsgemeinschaft. Sie sollte auf personaler Ebene dahingehend zum Ausdruck kommen, dass jedes Eigentum respektiert und gewährleistet bleiben konnte, solange dessen Sicherung nicht eine Einschränkung der Freiheit der Anderen – z.B. in Prozessen von Gestaltung des Wirtschaftslebens – mit sich bringt. Sollte das Eigentum des Einen jedoch die Freiheit des Anderen beschränken, und sollte damit die organische Verbundenheit der Menschheitsgemeinschaft in ein Ungleichgewicht gebracht werden, sei eben das Prinzip der Solidarité außer Kraft gesetzt. Dazu freilich dürfte es nicht kommen, solange man sich auf das zunehmend etablierte – und z.B. von Pierre Henri Leroux (1797-1871) verstärkte – Bild von einem Organismus fokussiert; in diesem Bild nämlich hatte man letzten Endes die Grundüberzeugung veranschaulichen wollen, dass sich eigentlich alle Menschen, zumal sie ja auf nahezu allen Gebieten des Lebens voneinander abhängig sind, die Notwendigkeit der Zusammenarbeit erschließen können und ein Gefühl der Verpflichtung, auch für das Gemeinwohl, empfinden müssten.

2.2. Solidarismus – und Solidarität als Streitprinzip

De facto hat sich der im juristischen Solidaritätsbegriff enthaltene Gedanke, dass alle Mitglieder einer Schuldnergemeinschaft in summa et pars pro toto gegenüber dem Gläubiger haften, progressiv zu der neuen Grundidee des sog. Solidarismus entwickelt, wonach die Mitglieder der Menschheitsgemeinschaft zugleich Mitglieder einer besonderen Schuldnergemeinschaft sind, weil sie eben nicht allein einem möglichen Gläubiger, sondern gerade auch untereinander haften, indem sie sich füreinander verantwortlich zeigen. Und genau diese Basisannahme, nämlich: dass die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen eine gesellschaftliche Tatsache ist, wurde zum Ausgangspunkt von weiterführenden Betrachtungen und Theorien, die sich auf eine entscheidende Pointe einigen sollen: Der Rechtssolidarismus (u.a. nach Léon Bourgeois), der soziologische Solidarismus (etwa Émile Durkheim), der anarchistische Solidarismus (vgl. Peter Kropotkin) und der Genossenschaftssolidarismus eines Charles Gide (1847-1932), sie alle teilten (mit unterschiedlicher Akzentuierung) die Einschätzung, dass Solidarité als ein besseres, weil weiterentwickeltes Synonym für Brüderlichkeit zu lesen sei und neben liberté und egalité zu den Ur- und Grundwerten des Menschlichen und Gesellschaftlichen gehört. Besonders Charles Gide hat dargelegt, wie aus der gesellschaftlichen Tatsache wechselseitiger Abhängigkeit – sprich: der sogenannt faktischen Solidarité – moralische Haltungen hergeleitet werden. Diese bauen sich auf über die Einsichten, dass jedes Gut des Nächsten zu unserem Gut, jedes Böse zu unserem Bösen werden kann, dass sich unsere Taten in der Umwelt spiegeln und ins Unendliche wirken, weil sie Freud oder Leid bei anderen hervorrufen, und dass sich Menschen, sofern sie sich der gegenseitigen Abhängigkeit und der eigenen Schuldverhaftung bewusst werden, auch gegen andere nachsichtig zeigen müssen.

Die Denkfigur der Solidarité, wie sie sich im französischen Solidarismus generiert hatte, wurde bald auch außerhalb dieser Tradition wahrgenommen – und zunächst von Ferdinand Lasalle, nachfolgend besonders ausgeprägt etwa von Eduard Bernstein zu einem prinzipiellen, programmatischen Begriff von Solidarität stilisiert, der sich nun dem klassischen Tandem ergänzend und kämpferisch zuordnen ließ: „Gegen sie [die Solidarität]“, erklärt Bernstein (1910, 134), „kommt keines der anderen großen Prinzipien des sozialen Rechts auf – weder das Prinzip der Gleichheit noch das Prinzip der Freiheit.“ Dabei war ihm weder an einer distanziert intellektuellen Revision verklärter sozialrevolutionärer Impulse gelegen noch an einer populärpolitischen Selbstinszenierung der Arbeitermilieus und ihrer sozialen Organisationen; um die Notwendigkeit einer lebens- und alltagstauglichen Solidaritätsausübung sollte es vielmehr gehen, um eine Solidaritätspraxis, die sich im Idealfall mit milieuübergreifender Dynamik als Realisierung von Gerechtigkeit darstellt.

2.3. Solidarität als (menschliche oder christliche) Qualität?

Aber sind die Grundlagen solidarischen Denkens und Handelns wirklich derart evident, derart gesetzt und gegeben, dass sich am Ende der Gedanke von Solidarität als einer (kultur-)anthropologischen Konstante anbietet? Wie verhält sich diese implizite, optimistische These zu den Beobachtungen sozialwissenschaftlicher Studien, dass die Solidaritätskompetenz einer Gesellschaft in dem Maße abnimmt, wie sie auf die Bildung von Solidarität ebenso verzichtet wie auf die Erziehung zur Solidarität? Gesetzt den Fall, dass Solidarität tatsächlich dauerhaft definiert werden kann als „Bereitschaft, über Rechtsverpflichtungen hinaus füreinander einzustehen […], Verantwortung für die Entwicklung des Ganzen ([zu übernehmen und] Gemeinsinn, Engagement und Teilhabe [zu zeigen]“ (Kocka, 2003) – wo wäre dann die Begründung für diese Bereitschaft anzusiedeln? Soll sie gewonnen werden über die Theorie einer beinah vorrausetzungslosen Grunddisposition des Humanum bzw. über die These einer schwankenden psychoemotionalen Kategorie, oder gehört sie doch in den Kontext einer sozial konstruierten und politisch konstituierten Mitleidskultur, die selbstverständlich auf Mitteilung und Vermittlung angewiesen bleibt?

Vor allem die katholische Soziallehre hat sich diesbezüglich recht unmissverständlich positioniert, Solidarität neben Personalität, Gemeinwohl und → Subsidiarität zu den sozialphilosophischen Prinzipien gezählt und einer in der menschlichen Natur seinshaft begründeten Wechselbeziehung von Person und Gesellschaft zugerechnet (vgl. auch Gabriel u.a., 1997). Es ist ein ontologisch fokussierter Begriff von Solidarität, der da grundsätzlich vom Sein auf das Sollen schließen will und mit einer Art natürlich gegebener Solidaritätskompetenz operiert, die in anspruchsvoller Entfaltung mit der theologisch entwickelten Sündenlehre abgestimmt werden sollte: Zwar wird der Gedanke einer weltweiten Solidarität und Verantwortung 1961 in der Enzyklika Pacem in terris aufgestellt, 1967 in der Enzyklika Populorum progressio ausgebaut und 1987 über die Enzyklika Sollicitudo rei socialis entfaltet, aber es bleibt doch stets in Rechnung gestellt, dass die „feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ,Gemeinwohl‘ einzusetzen” (Enzyklika Sollicitudo rei socialis, 38), gefährdet bleibt von jener Sündenkraft, die sich (strukturell) als unsensible, nicht umsichtige Eigenliebe zeigt und der Option für Schwache, Arme (etc.) konsequent entgegensteht.

1997 legten die Evangelische Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz gemeinsam das Sozialwort „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit” vor und erklärten die erinnerte und erzählte Geschichte vom Erbarmen Gottes als Quelle eines christlich prononcierten Solidaritätsbegriffs: Sofern der christliche Glaube nämlich Jesu Leben, Lehre und Werk nicht nur abstrakt als Erfüllung der Verheißung sieht, sondern sein sozialengagiertes Eintreten als konkrete Zuwendung Gottes interpretiert, muss sich das Christentum ja „zur barmherzigen und solidarischen Zuwendung zu den Armen, Schwachen und Benachteiligten“ (Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 1997, 96) motiviert sehen, denn: „Jesus hat diese Haltung nicht nur gelehrt, sondern sie auch vorgelebt. Er war ganz der Mensch für die anderen Menschen. Er ist selbst den Weg der Solidarität, der Barmherzigkeit und der Gewaltlosigkeit gegangen. Aufgrund seines Leidens und seines gewaltsamen Todes ist er den Menschen in allem solidarisch geworden“ (ebd., 99). Und da „die Entscheidung über die endgültige Gottesgemeinschaft der Menschen abhängig [ist] von der gelebten Solidarität mit den Geringsten“ (ebd., 106), muss der Einsatz für Solidarität zu den konstitutiven Merkmalen der Kirche gehören (ebd., 101).

2.4. Problematisierungen

Aber wem sind all diese Begriffsstrapazen nun eigentlich dienlich? Welches Anliegen steckt hinter dem Verfahren, naturrechtliche Haftungsfragen und sozialmoralisch konstruierte Pflichtenkataloge über einen weitgefasst-unterbestimmten Solidaritätsbegriff an biblisches Material und theologische Denkfiguren zu koppeln, um ihn dann einerseits über Plädoyers und Appelle in die Christentumspraxis einzuarbeiten, andererseits als Minimalkonsens und Versöhnungsparole einer kirchlich distanzierten Öffentlichkeit anbieten zu können? Die Antwort könnte schon mit dieser Frage gegeben sein – was wiederum unweigerlich zu einer gewissen Enttäuschung führt: An der eingangs angesprochenen Inflation des Solidaritätsbegriffs haben sich kirchliche Verlautbarungen durchaus mitschuldig gemacht. Wenn Solidarität tatsächlich verstanden werden will als eine Kraft, die individuelle Egoismen zügelt, und wenn sich darunter wirklich die Bereitschaft rechnen lassen sollte, Opfer für das Wohlergehen anderer Mitglieder einer Solidargemeinschaft zu bringen, Verantwortungen und Pflichten zu übernehmen – wie wären die Bedingungen der Möglichkeit, solches zu tun, angemessen bestimmt? Und was wäre, wenn diese Bedingungen gar nicht vorliegen? Muss man sie dann schaffen? Denn Verpflichtungen zum solidarischen Handeln entstehen womöglich nur aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die bestimmte Regelwerke – darunter eben auch die Imperative zur Solidarität – eingeübt hat (Bayertz, 1998, 23). Immer wieder ist darauf hingewiesen worden, dass solidarisches Handeln nicht ortlos ist, sondern an den sozialen Rändern der Exklusion endet. Jedes Konzept von transregionaler, transnationaler, transreligiöser, transideologischer (usw.) Solidarität kommt dort an seine Grenzen, wo Solidaritätsgefühle aufgrund ihrer strengen kulturellen Kontextualität kaum eine Chance haben, z.B. status- und milieuunabhängig oder präferenz- und konfessionslos erlebt zu werden (Kersting, 1998, 415f.). Es bleibt zu prüfen, ob und inwieweit solidarisches Handeln – Vergleichbares gilt mutatis mutandis selbstverständlich auch für die → Nächstenliebe – als Steuerungsprinzip lediglich auf soziale Nahbereiche beschränkt bleibt. Womöglich kann Solidarität die engen Grenzen des direktmöglichen Kontakts mit den Anderen nur überschreiten, wenn die kriteriologische Grenze einer quasi-persönlichen Bekanntschaft über die Inszenierung einer ideologischen, sozialpolitischen, nationalpatriotischen oder religiösen (etc.) Familienzugehörigkeit modifiziert und relativiert wird. Für eine solche, wenn man so will, grenzenlose Solidarität, geben wiederum biblische Grundmotive durchaus eine auch religionspädagogisch relevante Richtung vor: „Weil jemand in schweren Notlagen zu Recht erwarten kann, dass ihm die dringend erforderliche Hilfe vonseiten eines ‚barmherzigen Samariters‘ gewährt wird, ist die spontane Hilfeleistung für diesen nicht ein außergewöhnlich großzügiger Akt, der auch unterbleiben dürfte, sondern eine selbstverständliche Pflicht der Nächstenliebe“ (Schockenhoff, 2014, 643) – und hinzuzufügen wäre eben, auch der Solidarität. Damit stellen sich schließlich konkrete religionsdidaktische Fragen:

3. Ausblicke in religionsdidaktischer Perspektive

Ist Solidarität nun eine Gesinnung, ein Gefühl oder ein Prinzip? Wie limitiert sind Solidaritätsgefühl und solidarische Praxis, welche Grenzen hat eine Solidargemeinschaft? Beruht der solidarische Handlungswille auf sozialen Konventionen, weil er an die Vermittlungs- und Interaktionsmechanismen einer konkreten Deutungskultur gekoppelt bleibt? Die Überlegungen, die sich unter der Hand auftun, verweisen auf drei Diskurskomplexe, die gleichwohl miteinander zusammenhängen und die auch für die Frage konkreter Bildungsprozesse und deren religionspädagogische Reflexion und didaktische Umsetzung – etwa in Orientierung an der gegenwärtigen Kompetenzdiskussion – relevant sind:

Der erste betrifft die Grundsatzfrage, ob sich Solidaritätskompetenz quasi anthropologisch bestimmen, also von einer Art emotionaler Veranlagung herleiten und an empathische Grundfähigkeiten knüpfen lässt. Dann ließen sich bspw. als wesentliche Aspekte des solidarisch-moralischen Handelns (a) die Sympathie bzw. Empathie, aber auch (b) die Fähigkeit zur Scham bzw. das simple schlechte Gewissen aufrufen – wobei letztgenanntes ja auch wieder an Schemata sozial konstruierter Konventionen erinnert. Eine Variation, eigentlich schon das harte Gegenmodell zu dieser psychoanthropologisch fokussierten These, wäre dann das kulturanthropologisch-sozialkonstruktivistische Modell, das nicht nur die Gewissensbildung, sondern auch die Solidaritätsbereitschaft als kommunikativ-interaktiv erschlossene, sozial geprägte Gesinnung identifizieren wird. Je nachdem, wie man hier die Gewichtung vornimmt, wird dann auch die jeweilige Zielsetzung für den Unterricht unterschiedlich ausfallen: D.h. im ersten Fall würden sich didaktisch eher Formen einer Einübung in Empathiekompetenz nahelegen – denn ausgelöst würde solidarisches Engagement hier „durch eine Betroffenheit, die aus der Empathie für in das eigene Gesichtsfeld tretende konkrete Andere, verstärkt durch die Empfindlichkeit für ihr Leiden erwächst“ (Mette, 2008, 144). Unter Umständen wäre auch das Phänomen der Scham, wenn es denn produktiv gewendet wird (Haas, 2013), mit zu berücksichtigen. Im zweiten Fall würde man stärker auf die diskursive Erörterung etwa bestimmter realer oder realitätsnaher Dilemmata abzielen und gegebenenfalls auch eine punktuelle Gesinnungsbildung im Sinn konkreter Partizipations- und Handlungskompetenz anregen.

Ein zweiter Themenkomplex reagiert auf die o.g. Erkundigung nach den Räumen und Orten solidarischer Praxis und präzisiert die nötigen Ermittlungsschritte unter der Hauptfrage, wie sich Größe und Intimität konkreter Kulturfelder auf die Solidaritätsbereitschaft ihrer Partizipierenden auswirken: Bleibt solidarisches Handeln von Menschen möglich, wenn der Aktionsradius und die Handlungsspielräume letzten Endes unüberschaubar werden? Und wie lässt es sich bewerkstelligen, dass selbst bei größtmöglicher Unsichtbarkeit und Unverfügbarkeit (der Anderen, der Sozialpartner) ein solidarischer Impuls spürbar wird? In diesem Fall zeichnet sich ein religionsdidaktischer Zugang wesentlich durch den möglichst weiten, aufmerksamen Blick auf die realen politischen, gesellschaftlichen sowie ökonomischen Rahmenbedingungen und Gegebenheiten für ein solidarisches Bewusstsein und Handeln überhaupt aus, integriert aber realistischerweise auch die Begrenztheit solidarischen Handelns in den immer unüberschaubarer werdenden globalen Verhältnissen. Konkret gesprochen: „Selbst eine vergleichsweise abstrakte Handlung wie die finanzielle Beteiligung an einer Spendenaktion zu Gunsten von Erdbebenopfern in einem fernen Land erhält ihren vollen moralischen Wert erst dadurch, dass sich in ihr Solidarität und Gerechtigkeitsgefühl über weite räumliche Distanzen hinweg manifestieren“ (Schockenhoff, 2014, 97).

Die dritte und letzte Betrachtung orientiert sich schließlich an den Folgerungen, die sich aus den vorherigen Gesprächsgängen ergeben – und widmet sich einem Erörterungsbereich, der die Aspekte von Bildbarkeit, Bildung und Erziehung nochmals anders zentriert: Unter welchen praktischen Umständen und unter welchen theoretischen Voraussetzungen soll und kann es möglich werden, solidarische Kompetenz derart zu fördern, dass bestehende Grenzen überschritten werden? Will man sich dieser Aufgaben stellen, muss zunächst scharf am Begriff der Solidarität und seiner Geschichte, an seiner Bedeutungsvielfalt und seiner Intention gearbeitet werden. Aber es muss für einen solchen Bildungsdiskurs, für jedes Plädoyer und jeden Appell sichergestellt sein, welche Idee man überhaupt zu bearbeiten und zu entfalten gedenkt, wenn man besagten überstrapazierten Terminus in Anspruch nimmt. Von dort aus kann dann gleichsam kompetenzorientierte Begriffsarbeit betrieben werden:

Nicht ohne Grund wird etwa – quasi als Versuch, den o.g. Lauf der geschichtlichen Entwicklungen systematisierend einzuholen – vorgeschlagen, eine mechanische Solidarität (beruhend auf gemeinsamen äußeren Merkmalen) gegen eine organische Solidarität (aufgrund wechselseitig-abhängiger Bezogenheit) zu differenzieren und eine Solidarität der Gesinnung (auf Basis gemeinsamer Ideen) von einer Solidarität des hilfsbereiten Handelns zu unterscheiden. Solche Differenzierungen, die für gelingende Bildungsprozesse von zentraler Bedeutung sind, tragen sicherlich trotz einer gewissen Unschärfe zu einer besseren Verständigung über Solidaritätsidee und -begriff bei. Die entsprechenden Diskurse sind allerdings gut beraten, wenn sie sich zusätzlich darauf einstellen, dass die Vokabel Solidarität auf kleinflächigen Beziehungsebenen bei der Veranschaulichung einer Relation (x ist solidarisch mit y) Verwendung findet, aber auch im Kontext einer Formulierung funktioniert, die legitimierenden und performativen Charakter hat (in Solidarität handeln); fernerhin zu berücksichtigen bleibt die Tatsache, dass besagter Begriff im Kontext einer kohäsionsorientierten Formel (aus Solidarität zu) aufgrund der suggerierte Bindungsqualität zwar vielfältig einsetzbar, aber auch anfällig ist für manipulative Instrumentalisierungen.

Nun, zuletzt bleibt also auch noch, klärend den Motiven nachzugehen, die nicht allein hinter der Verwendung der Vokabel, sondern eben auch hinter der aufgerufenen Solidarität selber stehen: Geschieht Solidarität wesentlich (emotional-affektiv) aus Mitgefühl und Anteilnahme („X tut mir leid“), (kausal-pragmatisch) aus kalkulierter eigennützlicher Strategie („macht sich gut für mich“), (intellektuell-kognitiver) Einsicht in Kontingenz und Reziprozität des Seins („es wird für etwas gut sein“)? Wann geht Solidarität zurück auf einen Imperativ aus Loyalität („ich muss zu meinen Leuten halten“), wann auf ein Gebot der Frömmigkeit („Gott will, dass allen Menschen geholfen wird“), wann auf eine utopische Sehnsucht („alle Menschen werden Brüder“) – und welche Bedeutung hat hier überhaupt der Rückgriff auf biblische und theologische Motive?

Es dürfte insofern an der Zeit sein, aus inhaltlichen wie religionsdidaktischen Gründen interdisziplinär-progressiv an Solidaritätsbegriff und Solidarität zu arbeiten – und dies im Sinn einer Bildung von Kompetenz in Sachen Solidarität und in der Perspektive einer „Menschwerdung in Solidarität“ (Senft, 2001, 1998).

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