Vergegenwärtigung, kirchengeschichtsdidaktisch
Schlagworte: Gegenwartsbezug
(erstellt: Januar 2015)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/100056/
Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Vergegenwrtigung_kirchengeschichtsdidiaktisch.100056
1. Die Notwendigkeit einer Vergegenwärtigung von Kirchengeschichte
1.1. Gegenwartsbezug und Vergegenwärtigung
Der Gegenwartsbezug erschließt eine Verknüpfung zwischen den Zeugnissen der Vergangenheit und der Gegenwart. Der Bezug kann in direkt vergleichbaren Erfahrungen, Situationen und Prozessen liegen, er schließt aber auch das Fremde aus der Vergangenheit ein, das für die Gegenwart zu denken gibt. In religiösen Lernprozessen (→ Bildung, religiöse
Vergegenwärtigung meint in der Alltagssprache, dass sich Menschen etwas in Erinnerung rufen, „d.h. etwas Vergangenes in bestimmten Situationen der Gegenwart aus dem Gedächtnis emporzuheben, abzurufen und sich vorzustellen, es aus dem Gedächtnis hervorzuholen“ (Bergmann, 2002, 31). Dies geschieht in der Regel, weil die Situation durch die Vergegenwärtigung von etwas Vergangenem besser verstanden, bewältigt oder gestaltet werden kann. Die Geschichtsdidaktik gebraucht Vergegenwärtigung als methodische Kategorie, mit der Geschichte erzählt (→ Geschichtserzählung
1.2. Gegenwart aus vergangenen Geschichten verstehen
Gegenwart resultiert aus Geschichten der Vergangenheit. Dies erleben Menschen als eine objektive, unhintergehbare Erfahrung. Historisches Lernen will zu einer subjektiv reflektierten Aneignung dieser Gegebenheit führen. Weil der Moment der eigenen Gegenwart geworden ist, lässt sich dieser Moment besser deuten, verstehen und gestalten, wenn einige Geschichten, die zu seiner Konstitution beitragen, bekannt sind. Die Vergegenwärtigung der zeitlichen Bedingtheiten des Moments im Modus des Lernens kann zudem helfen, sich in der gegenwärtigen Situation bewusster zu orientieren.
Dies gilt allgemein und besonders für religiöses Lernen in der Begegnung mit Geschichte (→ Kirchengeschichtsdidaktik
1.3. Geschichtstheoretische Prämissen
Nach der Vergangenheit lässt sich nur aus der Gegenwart fragen. Aus der gegenwärtigen Situation entsteht ein Erkenntnisinteresse, das die Fragen nach der Vergangenheit ausrichtet. Geschichte ist also nicht einfach da, sie entsteht aus gegenwärtigen Fragen an die Quellen (→ Quellenarbeit, kirchengeschichtsdidaktisch
So wesentlich das gegenwärtige Erkenntnisinteresse für den Zugang zu Vergangenem ist, so deutlich müssen die Quellen und Überreste davor geschützt werden, nur zur Folie subjektiver Projektionen, Meinungen und Wünsche zu werden. Die Eigenart und Widerständigkeit des Vergangenen wird erhoben, wenn die Bearbeitung der Zeugnisse aus der Vergangenheit methodisch reguliert wird. Erst die an der historischen Wissenschaft orientierte Regulierung geschichtlichen Arbeitens hält die Balance zwischen gegenwärtigem Orientierungsbedürfnis und dem Eigensinn des Vergangenen (vgl. historisch: Rüsen, 1986, 87-147; kirchengeschichtsdidaktisch: König, 2002, zu Quellenarbeit [→ Quellenarbeit, kirchengeschichtsdidaktisch
2. Vier Formen der Vergegenwärtigung
Religiöse Orientierungsbedürfnisse liegen nicht einfach auf der Hand, sie müssen vielmehr wahrgenommen, erhoben und gedeutet werden. Trotz der methodischen Objektivierung empirischer Wahrnehmung (→ Empirie
2.1. Vergegenwärtigung als Stabilisierung
Wird die Gegenwart unter dem Aspekt einer allgemeinen Orientierungskrise wahrgenommen, entsprechen kirchengeschichtliche Lernprozesse dem Orientierungsbedürfnis dadurch, dass sie der krisenhaften Verunsicherung durch den Aufbau von Sicherheiten begegnen. Kirchengeschichte wird in ihrer konfessionskirchlichen Gestalt als festes Orientierungssystem vergegenwärtigt, das sich durch den Wandel der Zeit bewährt hat. Die Stabilität kirchlicher Lehre und Praxis in ihrer Geschichte kontrastiert die Labilität der eigenen Situation. Damit verspricht die ausgewählte Kontinuität kirchlichen Lebens über viele Generationen den Lernenden eine Sicherheit für die Dauer des eigenen Lebens, die bei der Bewältigung der Orientierungsschwierigkeiten hilft. Es ist eine Eindeutigkeit von Standpunkten und Werthaltungen beabsichtigt, die sich kirchengeschichtlich herleiten lässt und eine gebildete Kritik anderer Traditionen ermöglicht.
Beispiel: Franz von Assisi
Wird die Gestalt des Heiligen Franz von Assisi unter diesen Prämissen bearbeitet, steht seine Bedeutung für die Entwicklung einiger Aspekte der kirchlichen Tradition im Vordergrund. Durch ihn ist z.B. materielle Bedürfnislosigkeit als Merkmal christlicher Nachfolge in einer Form aufgewertet worden, die sowohl dem mittelalterlichen Besitzkloster als auch einem akosmischen Asketentum widerspricht. Bei ihm gibt es trotz seiner radikalen und eigenen Spiritualität keinen antikultischen Rigorismus, sondern eine glühende Eucharistieverehrung, keine destruktive, schmerzensreiche Weltentsagung, sondern die Verknüpfung von mitleidender Spiritualität und ansteckender Freude. Seine Form der Christusnachfolge (→ Christus
2.2. Vergegenwärtigung durch den Vergleich
Orientierungsbedürfnisse werden in aktuellen oder potenziellen Konflikten und Schwierigkeiten in besonders dichter Weise deutlich. Ist dies der Ausgangspunkt, sind zu ihrer kirchengeschichtlichen Bearbeitung personale und strukturelle Modelle notwendig, die die Erfahrung anderer für die Ausbildung problemorientierter Handlungskompetenz (→ Problemorientierter Religionsunterricht
Beispiel: Franz von Assisi
Eine Grunderfahrung für die Behandlung des Heiligen Franz kann in der (modernen) Aufforderung bestehen: Suche den Weg deines Lebens! Die Herkunft des Giovanni di Bernardone aus frühbürgerlichen Verhältnissen, die signifikante Orientierungsschwierigkeiten auslösten, plausibilisiert die Vergleichbarkeit der Grunderfahrung über den Zeitabstand hinweg. Die Bearbeitung akzentuiert nicht den legendarisch ausgeschmückten Akt der Umorientierung gegenüber seinem Vater. Wesentlicher erscheinen die Stationen auf dem Weg dahin: Die selbstverständliche Integration in eine aufstrebende Gesellschaftsschicht, die es auf frühkapitalistische Weise zu Wohlstand gebracht hat, wird durch die Sensibilität und Wachheit des jungen Franz für sich und die Kehrseiten dieser Stadtwelt durchbrochen. Der Schmerz an den Verhältnissen fördert die Sehnsucht nach einem Lebensweg, der gegenüber der kirchlichen Tradition kreativ und prophetisch eingeschlagen wird. In der vergleichenden unterrichtlichen Aktualisierung von Schmerz und Sehnsucht liegen religiöse Aspekte, die für die Suche nach dem eigenen Lebensweg bildungsrelevant sind.
2.3. Vergegenwärtigung durch Entwicklung
Aktuelle religiöse Orientierungsbedürfnisse sind – unabhängig von der expliziten kirchlichen Zugehörigkeit – kulturell und damit herkünftig bestimmt, weil Religion/Christentum in kulturelle Vollzüge eingesickert ist und sie durchtränkt. Demnach gilt es, gegenwärtige kulturelle Bedingungen und Kontexte subjektiver Orientierungsbedürfnisse (→ Subjekt
Beispiel: Franz von Assisi
Gegenwärtige Orientierungsbedürfnisse sind von einer bürgerlichen Zivilisation geprägt, in die Christliches eingeflossen ist. Auf welchen Wegen wurden Intentionen des radikalen Wanderpredigers Jesus von Nazareth (→ Jesus Christus, bibeldidaktisch, Grundschule
2.4. Vergegenwärtigung durch Ausbildung von Eigensinn
Wird vorausgesetzt, dass Orientierungsbedürfnisse gegenwärtig durch versteckte oder offene Vorgaben der liberal-kapitalistischen Gesellschaft einseitig gestillt werden, braucht es Alternativen, die das Selbstsein gegenüber dominanten Orientierungsmustern stärken. Lenkt diese Einschätzung das religiöse Lernen, sucht sie in der Geschichte des Christentums nach Vorstellungen und Handlungsoptionen, die durch gegenwärtige Kategorien in → Gesellschaft
Beispiel: Franz von Assisi
Um das Leben und Wirken des Heiligen Franz mit dieser Intention zu bearbeiten, liegt es besonders nahe, ihn zu einem notorischen Nonkonformisten, Kapitalismusgegner, ökologischen Aktivisten oder Friedensapostel zwischen den Religionen zu stilisieren. Das hält einer historisch-kritischen Prüfung kaum stand und verleiht ihm religionspädagogisch die Züge eines unnahbaren, distanzierten Helden. Gegenüber bürgerlichen Lebensformen sticht wohl in erster Linie seine Entschiedenheit ins Auge. Aber auch sie findet sich bei anderen Wanderpredigern und Außenseitern. Seine Entschiedenheit hat jedoch nichts von jener Rücksichtslosigkeit, die viele Heilslehrer – auch christliche – kennzeichnet. Sie ist vielmehr getragen von einer großen Empfindsamkeit gegenüber den Mitmenschen und Mitgeschöpfen in ihrer je eigenen Situation. An Texten von ihm und Erzählungen über ihn können Jugendliche begreifen, dass die Entwicklung von Eigensinn einerseits nicht mit Selbstbezogenheit zu verwechseln ist, andererseits aber den aktuellen Mainstream überschreitet. In der Vergegenwärtigung durch religiös-ethische Dilemmata, die entweder auf der historischen Ebene ansetzen oder in die Gegenwart verlagert werden, lässt sich der Aufbau von Eigensinn fördern (vgl. Riegel, 2013; Gruber, 1995).
Literaturverzeichnis
- Bergmann, Klaus, Der Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2002.
- Dierk, Heidrun, Kirchengeschichte elementar. Entwurf einer Theorie des Umgangs mit geschichtlichen Traditionen im Religionsunterricht, Heidelberger Studien zur praktischen Theologie 10, Münster 2005.
- Gruber, Bernhard, Kirchengeschichte als Beitrag zur Lebensweltorientierung. Konzepte und Modelle für einen aktualisierenden Kirchengeschichtsunterricht, Donauwörth 1995.
- Holzem, Andreas, Die Geschichte des „geglaubten Gottes". Kirchengeschichte zwischen „Memoria" und „Historie", in: Leinhäupl-Wilke, Andreas/Striet, Magnus (Hg.), Katholische Theologie studieren: Themenfelder und Disziplinen, Münster 2000, 73-103.
- König, Klaus, Kirchengeschichte als Inkulturationsgeschichte von Christlichem (re-) konstruieren, in: Büttner, Gerhard (Hg. u.a.), Religion lernen. Bd. 2: Kirchengeschichte, Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik 2, Hannover 2011, 38-52.
- König, Klaus, Lernen aus der Geschichte des Christentums/Kirchengeschichtsdidaktik, in: Bitter, Gottfried (Hg. u.a.), Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München 2002, 225-228.
- Kuhn, Karola, An fremden Biographien lernen! Ein religionsdidaktischer Beitrag zur Unterrichtsforschung, Berlin 2010.
- Lindner, Konstantin, Kirchengeschichte biographisch erschließen, in: Lindner, Konstantin/Riegel, Ulrich/Hoffmann, Andreas (Hg.), Alltagsgeschichte im Religionsunterricht. Kirchengeschichtliche Studien und religionsdidaktische Perspektiven, Stuttgart 2013, 227-234.
- Lindner, Konstantin, In Kirchengeschichte verstrickt. Zur Bedeutung biographischer Zugänge für die Thematisierung kirchengeschichtlicher Inhalte im Religionsunterricht, Arbeiten zur Religionspädagogik 31, Göttingen 2007.
- Riegel, Ulrich, Kirchengeschichte durch die Dilemma-Methode erarbeiten, in: Lindner, Konstantin/Riegel, Ulrich/Hoffmann, Andreas (Hg.), Alltagsgeschichte im Religionsunterricht. Kirchengeschichtliche Studien und religionsdidaktische Perspektiven, Stuttgart 2013, 235-242.
- Rüsen, Jörn, Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung, Göttingen 1986.
- Schulz-Hageleit, Peter, „Vergegenwärtigung" und „Gegenwartsbezug". Zum Verhältnis zweier didaktischer Kernbegriffe mit einem Unterrichtsbeispiel zur Pariser Kommune, in: Schörken, Rolf (Hg.), Der Gegenwartsbezug der Geschichte, Göttingen 1981, 84-109.
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download: