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Gott und Gewalt, bibeldidaktisch

(erstellt: März 2024)

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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.400013

1. Gewalttexte im Religionsunterricht?

In der Bibel, der Grundlage des christlichen Glaubens, gibt es mehrere Texte, die Gott die Aufforderung zu bzw. die Ausübung von Gewalt zuschreiben. Da dies eine große theologische und religionspädagogische Herausforderung darstellt, wird im religionspädagogischen Diskurs kontrovers diskutiert, ob im Religionsunterricht auch die „dunklen Seiten“ Gottes zur Sprache gebracht werden sollen.

1.1. Ablehnung von Gewalttexten im Religionsunterricht

Aufgrund des Unbehagens an der Verbindung Gottes mit Gewalt werden „anstößige“ Textpassagen besondere in der Primarstufe gerne geglättet oder ganz weggelassen. Als Begründung wird angeführt, dass im Religionsunterricht zunächst das Bild des liebenden, zugewandten und verzeihenden Gottes zu vermitteln sei, da andere Zugänge destruktiv wirken und den Zugang zu Gott und die Identitätsentwicklung der Kinder beeinträchtigen könnten. Vor allem in der Primarstufe stelle sich die Problematik, dass Kinder Bibeltexte in der Regel wörtlich verstünden und dass eine historische und religionsgeschichtliche Verortung, eine wichtige Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis der biblischen Rede vom Gewalthandeln Gottes, für viele eine Überforderung darstelle. Eine zeitgeschichtliche Kontextualisierung der Texte bedinge zudem die Gefahr, dass die Schülerinnen und Schüler die Bibeltexte nicht in Bezug zu ihrem eigenen Leben setzen und als irrelevant ansehen (vgl. Kalloch, 2001, 228;242f.; Bucher, 2006, 99-102; Fricke, 2012, 215). Bei Jugendlichen der Sekundarstufe könnten biblische Gewalttexte die Gewaltbereitschaft verstärken.

1.2. Begründung von Gewalttexten im Religionsunterricht

1.2.1. Bibeltheologische Begründung

Demgegenüber ist festzuhalten, dass eine einseitige Rede vom liebenden und barmherzigen Gott der großen Vielfalt und Ambivalenz der biblischen Gottesrede nicht gerecht wird, sondern eine unsachgemäße Reduktion darstellt (vgl. Fricke, 2009, 177; Theuer, 2020, 394f.). Im Religionsunterricht ist daher das ganze Spektrum der biblischen Gottesvorstellungen zur Sprache zu bringen.

1.2.2. Anthropologische und religionspädagogische Begründung

Ein Gottesbild mit dunklen und sperrigen Aspekten wird den stets ambivalenten Erfahrungen und der Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler eher gerecht als die einseitige Rede vom liebenden Gott. Diese schafft eine heile Sonderwelt und erschwert eine echte, kontroverse Auseinandersetzung, wogegen gerade „schwierige“ Texte eine intensive Auseinandersetzung anregen. Kinder und Jugendliche kennen Aggression und Gewalt aus ihrem eigenen Verhalten und sind mit verschiedenen Formen individueller, struktureller und medial vermittelter Gewalt konfrontiert. Populäre Filme oder Spiele mit mythologischen Inhalten (z.B. „Thor“ etc.) vermitteln komplexe und ambivalente Gottesbilder, die in Spannung zu einer einseitig positiven Gottesrede stehen. Eine ambivalente Gottesrede kann Kindern und Jugendlichen eher helfen, ihre Glaubenszweifel und Krisen zu bewältigen (vgl. Fricke, 2005, 277-279; Theuer, 2020, 298f.). Kinder können bereits in der Primarstufe auch „dunkle Seiten“ Gottes in ihr Gotteskonzept integrieren. Da ihr Weltbild häufig durch die Polarität von „gut“ und „böse“ bestimmt ist, entspricht die Bestrafung der „Bösen“ durch Gott zudem ihrem Gerechtigkeitsempfinden (vgl. Bucher, 2006, 99;101-103; Fricke, 2009, 180). Schließlich ist es angesichts der theologischen Problematik der biblischen Gewalttexte und der Gefahr ihrer Instrumentalisierung zur Legitimation von Gewalt notwendig, sich im Unterricht fundiert mit ihnen auseinanderzusetzen, um ihrem Missbrauch entgegenzuwirken.

2. Zur Rede von der Gewalt Gottes in der Bibel

2.1. Überblick über den biblischen Befund

Aus der Fülle an Bibeltexten, die Gott mit Gewalt in Verbindung bringen, geht der folgende Überblick exemplarisch auf religionspädagogisch relevante Texte ein.

2.1.1. Gewalt Gottes in Korrespondenz zu menschlichem Fehlverhalten

Bedeutsam ist zunächst die Urgeschichte, die paradigmatisch Wesensaussagen über den Menschen und die Beziehung zwischen Gott und Mensch illustriert. Theologisch problematisch ist hier besonders die Sintfluterzählung (Gen 6-9) aufgrund der aus heutiger Sicht sehr irritierenden und unerklärbaren Vernichtung der Menschen und Tiere durch Gott. Weiterführend ist hier die Betrachtung des literarischen Kontextes. Die aus mehreren Fassungen komponierte theologische Erzählung (vgl. die Spannungen und Varianten hinsichtlich z.B. Flutdauer und Anzahl der Tierpaare) bildet innerhalb der Urgeschichte den Endpunkt und die Konsequenz der kontinuierlichen Zunahme von Fehlverhalten und Gewalt, von der Gebotsübertretung im Garten Eden (Gen 3) über den Brudermord Kains (Gen 4,1-16) und die Gewalteskalation Lamechs (Gen 4,23-24) zur Bosheit und Verdorbenheit aller Geschöpfe (Gen 6,9-12). Ihr Fokus liegt nicht auf der Vernichtung, sondern auf der Bewahrung der Lebewesen auf der Arche, die einen gegen die Chaoswasser geschützten Raum darstellt, analog zu der gestalteten Schöpfung in Gen 1. Der breit ausgestaltete Zielpunkt der Fluterzählung ist die Bestandszusage der Schöpfung nach der Flut und der Erhalt des Lebens auf der Erde, trotz der andauernden Bosheit der Menschen (Gen 8,21-22); der Bund mit Noah gilt universal (Gen 9,1-17) (vgl. Baumgart, 2005, 6-7).

Ähnlich kündigen die vorexilischen Gerichtspropheten, besonders Amos, Hosea und Micha (→ Propheten, bibeldidaktisch) als Konsequenz für das ethische und religiöse Fehlverhalten der Menschen, insbesondere den Machtmissbrauch der Mächtigen durch Unterdrückung und Ausbeutung der Schwachen, das Gericht Gottes in Form von Deportation und Vernichtung an (vgl. Paganini, 2013, 6). Auch im dtr. Geschichtswerk (Dtn2 Kön) wird den Israeliten mehrfach die Deportation oder Vernichtung angedroht, wenn sie die Gebote Gottes missachten, vor allem das Gebot der JHWH-Alleinverehrung (Dtn 6,14; vgl. z.B. Dtn 28,15-68; vgl. Theuer, 2020, 225-228;255f.; Finsterbusch, 2012, 163-165). Ankündigungen des Gerichts als Strafe Gottes finden sich auch im Neuen Testament (vgl. z.B. Mt 21,33-44; 22,1-14; 33). Die Texte deuten im Rückblick auf historische Katastrophen diese mit dem Fehlverhalten der Menschen (siehe unten Kap. 2.2.2).

2.1.2. Gewalt Gottes zur Rettung aus Unterdrückung und Herstellung von Gerechtigkeit

Eine zentrale biblische Leitlinie ist die besondere Zuwendung Gottes zu Unterdrückten, Marginalisierten und Opfern von Gewalt, um für sie Gerechtigkeit zu bewirken, was für die Unterdrücker Entmachtung und Untergang impliziert (vgl. Theuer, 2020, 326). Dies illustriert paradigmatisch die Exoduserzählung (→ Mose und Mirjam, bibeldidaktisch, Grundschule; → Mose und Mirjam, bibeldidaktisch, Sekundarstufe). So weist die hebräische Bezeichnung der „Plagen“ als „Zeichen“ (otot: Ex 4,9.17.28.30; 7,3; 8,19) und „Wunder(zeichen)“ (mofetim: Ex 4,21; 7,3, 7,9; 11,9f.) und ihre Charakterisierung als „große Gerichte“ (schofetim: Ex 6,6; 7,4; 12,12) darauf hin, dass es primär um die Demonstration der Macht JHWHs und die Durchsetzung von Gerechtigkeit geht (vgl. Theuer, 2020, 147.158f.; Fischer, Markl, 2009, 99f.). Die Namenlosigkeit und schematische Darstellung des „Pharao“ sowie das Motiv der „Verstockung“ stellen diesen als Prototypen eines Despoten und „Ägypten“ als prototypisches Unterdrückungsregime heraus, die sich dem Herrschaftsanspruch JHWHs entgegenstellen; dieser erweist sich aber letztlich als überlegen (vgl. Theuer, 2020, 160f.; Albertz, 2012, 50;95). Metaphorisch zu verstehen ist auch die Tötung der ägyptischen Erstgeburt nach dem Scheitern der Verhandlungen, die sich auf die Tötung der hebräischen Jungen zu Beginn rückbezieht (Ex 11; 12,1-36; vgl. 1,15-22: Talionsprinzip). Da nach dem kollektiven Denken des Alten Orients die Erstgeburt für Fortbestand und Zukunft steht, führt ihr Tod vor Augen, dass „Ägypten“ als Unrechtsregime keinen Fortbestand hat (vgl. Albertz, 2012, 204; Theuer, 2020, 167). Diese Botschaft vermittelt auch das Fazit der Meerwundererzählung, dass Israel „Ägypten“ (mizrajim) – nicht die Ägypter (bnej mizrajim) – tot am Meer sieht (Ex 14,30). Es geht um die Rettung Israels aus einer aussichtslosen Lage und um die Vernichtung von „Ägypten“ als eine Chiffre für einen widergöttlichen, Leben bedrohenden Machtblock. Die aus zwei Versionen gebildete, symbolisch verdichtete Erzählung betont das alleinige Handeln Gottes zugunsten Israels; in der Grunderzählung durch sein Kämpfen für Israel (Ex 14,13f.). Die Darstellung der Priesterschrift, die die Exilserfahrung verarbeitet, stellt durch schöpfungstheologische Konnotationen (Spalten der Wasser: Ex 14,21; vgl. Gen 1,9f.; Ex 14,28; vgl. Sintflut: Gen 7,19f.) – die Souveränität und Macht Gottes über die Leben bedrohenden Chaosmächte heraus, die hier durch die ägyptischen Streitkräfte repräsentiert werden (vgl. Theuer, 2020, 192-194).

Um die Rettung aus aussichtslosen Situationen und die (Wieder)Herstellung von Gerechtigkeit angesichts von gravierender Bedrängnis und Unrecht geht es auch in den sogenannten „Rachepsalmen“, in denen die Betenden Vernichtungswünsche gegen ihre mächtigen Bedränger formulieren, um ihre traumatische Situation zu bewältigen. Im Bewusstsein, dem erlittenen Unrecht nichts entgegensetzen zu können, rufen sie, trotz scheinbarer Gottferne, Gott als mächtigen Richter an, damit er durch sein gewaltsames Eingreifen zerstörerischer Gewalt Einhalt gebietet und Recht und Gerechtigkeit wiederherstellt; dabei wird die Vergeltung aber Gott überlassen (vgl. Bernhard, 2014, 23f.; Fuchs, 2011, 132; Theuer, 2020, 324f.).

Angesichts anhaltender Erfahrungen von Unrecht, Unterdrückung und Ohnmacht, die die Frage nach der Anwesenheit und Gerechtigkeit Gottes hervorrufen, wird in der Spätzeit des Alten Israel die Rettung und Durchsetzung von Gerechtigkeit durch Gott zunehmend in den eschatologischen Kontext verlagert. Mit Hilfe von teils drastischen Gewaltbildern wird illustriert, dass Gott trotz allen Unheils Gott als Herr der Geschichte wirkt und unterdrückenden, irdischen Machtstrategien ein Ende setzt. Die Rede vom endzeitlichen Eingreifen Gottes zum Endgericht bringt die Hoffnung auf seine eschatologische Geschichtsmächtigkeit zum Ausdruck, indem den Opfern der menschlichen Gewaltgeschichte am Ende Gerechtigkeit zuteilwird. Die in drastischen Bildern gezeichnete eschatologische Gewalt Gottes werde alle bestehende destruktive Gewalt und Ungerechtigkeit vernichten, was in eine Welt ohne Gewalt und universale Gerechtigkeit mündet (vgl. Fuchs, 2004, 181; Theuer, 2020, 328).

Im NT schildert die Offenbarung des Johannes (→ Offenbarung des Johannes, bibeldidaktisch), wie Gott den durch furchterregende Wesen illustrierten unterdrückenden Machtapparat des Römischen Reiches als Inbegriff des Bösen in einem gewaltigen endzeitlichen Kampf vernichtet und seine Welt des Heils durchsetzt (Offb 21,1-8), um Ermutigung und Trost zu vermitteln(vgl. Theis, 2022, 2;5).

2.1.3. Gewalt Gottes gegen mächtige Feinde Israels

Theologisch besonders problematisch ist die mit der Erwählung durch Gott begründete Rede von der Vertreibung oder Vernichtung der Bewohner des Landes durch Gott in den Büchern Deuteronomium und Josua, die in der Geschichte mehrfach zur Legitimation von Gewalt gegen andere Bevölkerungsgruppen herangezogen wurde. Die fehlende archäologische Evidenz für eine „Landnahme“ Israels sowie die stereotype Darstellung und die mehrfachen Spannungen in den Texten zeigen, dass diese als fiktionale theologische Texte zu verstehen sind. Sie wollen die Botschaft vermitteln, dass der Besitz des Landes reine Gabe Gottes und an das Halten seiner Gebote gebunden ist. Die stereotyp genannten „kanaanäischen Völker“, deren Vernichtung angeordnet oder geschildert wird (Dtn 7,1f.; 20,17), sind keine zur Zeit der Verfassung real existierenden Völker; vielmehr steht das Banngebot metaphorisch für die rigorose Abgrenzung „Israels“ gegenüber als „fremd“ definierten kulturellen Praktiken und ist als Warnung für die Gegenwart zu verstehen (vgl. Theuer, 2020, 219f.;254; Zehnder, 2013, 277-279; Michel, 2014, 46).

Gewaltmetaphern zur Illustration der Macht Gottes prägen auch die „Zionstheologie“, die Jerusalemer Tempeltheologie der Königszeit. Indem JHWH als Königsgott von seinem Heiligtum auf dem Zion aus das Chaos, das sich in Naturgewalten und Feinden manifestiert, bezwingt, gewährleistet er den Schutz Jerusalems und die Bewahrung der Schöpfung (vgl. Ps 46,2-8; 48,2-9; 65,6-9; vgl. Paganini, Giercke-Ungermann, 2013, 5;7; Theuer, 2020, 325). Hier verbindet sich das altorientalische Motiv vom Chaoskampf, dem urzeitlichen Sieg JHWHs über die Chaosmächte, mit dem vom Völkerkampf, nach dem JHWH die gegen Jerusalem anstürmenden feindlichen Völker besiegt und vernichtet.

2.2. Hermeneutische Überlegungen zur Gewalt Gottes in der Bibel

2.2.1. Literarische Darstellung der Gewalt Gottes

Kennzeichnend für das biblische Gewaltverständnis ist, dass es im Hebräischen keinen umfassenden Gewaltbegriff gibt, sondern eine Fülle von Nomina und Verben mit einem breiten Spektrum an Konnotationen, vom Gewaltexzess über ambivalent konnotierte Machtausübung bis zur bewundernswerten Krafttat (vgl. Theuer, 2020, 271-274). Da die Kategorie „Gewalt“ ein diskursives Konstrukt ist, hängt ihre Bewertung immer vom jeweiligen historischen und kulturellen Kontext ab. In der altorientalischen und antiken Lebenswelt, die den Referenzrahmen der biblischen Texte bilden, war der Alltag stark durch Gewalt geprägt (vgl. Baumann, 2006, 13). Entscheidend ist, dass es sich in den Texten um eine sprachliche Darstellung und Reflexion von Gewalt handelt, die durch literarische Stilmittel und Topoi geprägt ist. Da im Alten Orient Gewaltmetaphorik ein gebräuchliches Stilmittel zur Darstellung der Macht und Stärke von Gottheiten oder Herrschern war, fand dies aufgrund der engen Kulturkontakte Israels zu den umgebenden Großmächten auch Eingang in die biblische Rede von Gott, um dessen Macht zu betonen (vgl. Zimmermann, 2013, 24f.; Theuer, 2020, 293f.).

2.2.2. Gewaltbilder Gottes als literarische Bewältigung historischer Gewalterfahrungen

Als kleines Volk auf der geopolitisch bedeutsamen syro-palästinischen Landbrücke zwischen den Großmächten Ägypten und Assyrien bzw. Babylonien, die hier um die politische Vorherrschaft konkurrierten, war Israel im ersten Jahrtausend v. Chr. fast durchgehend kriegerischen Auseinandersetzungen ausgesetzt, weshalb Krieg und Gewalt in der Bibel eine große Rolle spielen (vgl. Baumann, 2006, 79-85; Dietrich/Mayordomo, 2005, 51f.; Theuer, 2020, 299-301).

Laut altorientalischer Vorstellung demonstrierten spektakuläre Siege und die Vernichtung der Feinde, die als Exponenten der Chaosmächte galten, die Macht und Göttlichkeit der jeweils eigenen Gottheit und ihre Überlegenheit über die Gottheiten der besiegten Völker (vgl. Baumann, 2006, 89; Theuer, 2020, 304). Daher stürzten die traumatischen Erfahrungen der Eroberung des Nordreichs durch die Assyrer 722 v. Chr. und vor allem der Eroberung und Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Babylonier 587 v. Chr. das JHWH-Volk in eine schwere Glaubens- und Identitätskrise. Die Erzählungen vom Sieg über die Feinde und deren Vernichtung, z.B. in den Landgabe-Texten, haben die Intention, als „Gegengeschichten“ gegen die massiven Gewalterfahrungen und den Landverlust, JHWHs Macht und Überlegenheit über die anderen Götter und die Notwendigkeit der absoluten Bindung an ihn zu illustrieren; sie spiegeln die Perspektive der Opfer, nicht der Täter von Gewalt. Aufgrund der eigenen militärischen Ohnmacht wird die Gewalt an Gott delegiert, wobei gebräuchliche Topoi der altorientalischen Kriegsrhetorik aufgriffen und auf JHWH übertragen wurden (vgl. Michel, 2014, 44; Obermayer, 2011, 12; Baumann, 2006, 85-88; Theuer, 2020, 310f.).

Angesichts der Bedrohung der nationalen und religiösen Identität durch die Gefahr der religiösen Überfremdung und der Assimilation an die Kultur der überlegenen Großmächte wird eine rigorose Abgrenzung zur religiös geprägten Kultur der Umwelt gefordert, um die exklusive Beziehung zu JHWH („Erwählung“, „Bund“) als unaufgebbares Identitätsmerkmal zu sichern, metaphorisch formuliert in der Rede von der Vernichtung der „kanaanäischen“ Völker (vgl. Theuer, 2020, 319).

Entsprechend ist die Ansage der Vertreibung oder Vernichtung Israels (z.B. Dtn 28) eine theologische Verarbeitung der Eroberung Israels und Judas, die den Glauben an die Geschichtsmächtigkeit JHWHs grundlegend erschütterte. Um die Katastrophe theologisch zu bewältigen und gegen den Augenschein an JHWHs Macht und Souveränität festzuhalten, wird diese – im Aufgreifen vorexilischer Prophetenworte und altorientalischer Konzeptionen – als berechtigte Strafe JHWHs gegen sein Volk für die Missachtung der Gebote dargestellt, der sich dazu der Großmächte bediente (vgl. Obermayer, 2011, 7; Theuer, 2020, 255;311). Eine Grundlage dafür bildete die Erfahrung, dass die scheinbar unbezwingbaren unterdrückenden Großreiche nach einer gewissen Zeit ihre Macht verloren und Israels Unterdrückung beendeten.

2.2.3. Ansätze zur Begrenzung und Überwindung von Gewalt

Da die biblischen Texte verschiedene Zeiten, Milieus und Geisteshaltungen spiegeln und in der nachexilischen Zeit im Verlauf der Durchsetzung des Monotheismus Attribute anderer, auch antagonistischer Gottheiten in das Gottesbild integriert wurden, findet sich eine Polyphonie des biblischen Redens von Gott (vgl. Baumann, 2006, 21f.). So gibt es im AT wie im NT bereits im Kontext der Rede von der Gewalt Gottes gewaltbegrenzende Aspekte sowie zahlreiche Passagen, die explizit von Gewaltbegrenzung und Gewaltverzicht Gottes handeln.

Ein Gewaltverzicht Gottes zeigt sich gleich in der Urgeschichte, deren Gotteskonzept aufgrund des paradigmatischen Charakters der Texte von besonderer Bedeutung ist. So müssen weder die Menschen nach ihrem Verstoß gegen das Gebot Gottes noch der Brudermörder Kain sterben. Gott tritt der Gewalt der Menschen gewaltfrei entgegen und gewährt ihnen einen Neuanfang (vgl. Dietrich/Mayordomo, 2005, 193; Janowski, 2014, 95f.). In der Sintfluterzählung wird die Flut mit dem Übermaß von Gewalt begründet, der Gott ein Ende setzt (Gen 6,9 // 6,17; 6,9-13), wogegen in den mesopotamischen Vorlagen (Gilgamesch-Epos und Atrachasis-Epos) die Flut durch die Willkür (Sich Gestört-Fühlen) eines Gottes ausgelöst und die versuchte Vernichtung der Menschen und ihre Bewahrung zwei antagonistischen Gottheiten zugeschrieben wird. Dagegen zeichnet die biblische Darstellung einen grundlegenden Wandel im Gottesbild vom Gericht zum Erbarmen und einen letztendlich umfassenden Gewaltverzicht Gottes, trotz bleibender Gewaltneigung der Menschen. Die Neugestaltungen nach der Flut tragen dazu bei, das Problem der tödlichen Gewalt auf Seiten der Lebewesen zu entschärfen (Gen 9,2-6; vgl. Baumgart, 2005, 5-7; Janowski, 2014, 101f., Schnocks, 2014, 15f.).

Ein grundlegender Wandel findet sich auch in Hos 11, da hier Gott sein Herz „umstürzt“ und sein Vernichtungsvorhaben aufgrund des Abfalls Israels zurücknimmt, obwohl das Volk zur Umkehr unfähig ist; sein Erbarmen und seine Liebe überwinden seinen Zorn (Hos 11,8f.; vgl. Janowski, 2014, 104f.; Dietrich/Mayordomo, 2005, 193). Die Dominanz der Gnade Gottes zeigt auch die Jonaerzählung, da Gott hier auf die angekündigte Vernichtung Ninives, des „Erzfeinds“ Israels verzichtet und die (nicht-israelitischen) Bewohner verschont.

In der Exoduserzählung zeigt sich eine Gewaltbegrenzung Gottes in dem Versuch, „Pharao“ immer wieder im Dialog zu überzeugen, obwohl dieser fortlaufend sein Wort bricht, und in der ganz allmählichen Steigerung der Gewalt im „Plagenzyklus“. In der Rede vom Kämpfen Gottes erübrigt dieses eine Gewaltausübung der Menschen, sodass sich hier ein antimilitaristischer Aspekt findet.

Die durch Gewaltmetaphern bestimmte Konzeption des Verhältnisses Israels zu den Völkern in den Landnahmetexten wird im kanonischen Kontext durch Konzepte eines friedlichen Miteinanderlebens der Völker ausbalanciert. So entwirft die Priesterschrift am Beispiel Abrahams das Gegenmodell des Zusammenlebens mit den Völkern des Landes unter dem Segen Gottes (vgl. Gen 12,3; vgl. Theuer, 2020, 356f.).

Die sekundäre Korrektur des Gewalthandelns Gottes illustriert anschaulich Ps 46, ein Loblied auf Gott als Beschützer Israels. Während der erste Teil in metaphorischer Sprache JHWH als mächtigen Kämpfer und Sieger über die Chaosmächte vom Zion aus darstellt, proklamieren die abschließenden Verse, dass JHWH allen Kriegen ein Ende setze und die Kriegswaffen vernichte (Ps 46,1-9 / 10-12). Entsprechend stellen einige nachexilische prophetische Visionen Gott als eschatologischen umfassenden Friedensbringer zwischen den Völkern vor. Die durch ihre Doppelüberlieferung in Mi 4,1-3 und Jes 2,2-5 als besonders bedeutsam herausgestellte Friedensvision entwirft, in Weiterentwicklung der Zionstheologie, eine endzeitliche friedliche Bewegung aller Völker zum Berg Zion als Ursprungsort der Tora, verbunden mit einer universalen Abrüstung durch das Umschmieden von Waffen und dem Ende aller Kriege (vgl. Dietrich/Link, 2004, 195; Theuer, 2020, 366f.).

Im AT wie im NT finden sich somit sowohl Gewaltpassagen als auch Gewaltkritik und Gewaltüberwindung, als Spiegelung der vielfältigen kontextuellen Erfahrungen der Menschen, so dass die bisweilen anzutreffende pauschale Gegenüberstellung vom Gott der Rache und Gewalt im AT und Gott der Liebe und Barmherzigkeit im NT nicht dem biblischen Textbefund entspricht.

3. Religionspädagogisches Potential der biblischen Gewalttexte

3.1. Stärkung der Identitätsentwicklung

Gerade aufgrund ihrer Ambivalenz können sperrige Texte zum zentralen Ziel der Religionspädagogik beitragen, angesichts der Komplexität und Ambivalenz unserer Gesellschaft eine gelingende Identitätsentwicklung der Kinder und Jugendlichen zu fördern. Die Beschäftigung mit ihnen kann dazu anregen, die eigenen „dunklen Seiten“ wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Die Ambivalenz der Gottesvorstellungen und der Akteure dient zudem der Förderung von Ambiguitätstoleranz.

In mehreren Texten, z.B. der Exoduserzählung, den prophetischen Gerichtsansagen und den „Rachepsalmen“, steht die Rede vom Gewalthandeln Gottes im Kontext der Hoffnung auf die Durchsetzung seiner Gerechtigkeit und das Bewirken lebensförderlicher Verhältnisse. Die biblische Grundlinie, dass Gott sich für die Menschen einsetzt, die unter Gewalt und Unterdrückung leiden, kann in scheinbar aussichtslosen belastenden Situationen eine Hoffnungsperspektive bieten und zur Ich-Stärkung von Kindern und Jugendlichen beitragen. Das entschiedene Eingreifen Gottes gerade zugunsten der „Kleinen“ und Schwachen ist besonders relevant für Grundschulkinder, die häufig fremdbestimmt oder „übersehen“ werden. Dass der biblische Gott – als Gegenmodell zur geläufigen Wirklichkeitserfahrung – nicht die Macht und Autorität der Herrschenden legitimiert, sondern sich für die freie Entfaltung aller Menschen einsetzt, ist gerade für Jugendliche in ihrem Streben nach Autonomie im Prozess der Identitätsfindung bedeutsam und kann sie ermutigen, sich nicht mit scheinbar unabänderlichen Macht- und Unterdrückungsstrukturen abzufinden. Zugleich machen die Texte auch darauf aufmerksam, dass sie für ihr Handeln Verantwortung übernehmen und die Konsequenzen bedenken müssen (vgl. Theuer, 2020, 428f.; Baumann, 2006, 81;158)

3.2. Kritische Auseinandersetzung mit Gewalt

Ein Potential der biblischen Gewalttexte liegt darin, dass sie die zum Menschsein dazu gehörende Gewaltneigung und Gewalterfahrungen zur Sprache bringen.Sie können darauf aufmerksam machen, dass wir selbst in vielfacher Weise von Gewalt betroffen und dazu fähig sind, unsere eigene Verbindung dazu aber gerne verdrängen, und dazu anregen, über eigene Erfahrungen personaler und struktureller Gewalt zu sprechen. Die Auseinandersetzung mit der literarisch auf Gott zurückgeführten oder (in den „Rachepsalmen) von ihm geforderten Vernichtung der Feinde kann dazu anstoßen, sich selbstkritisch mit dem eigenen Aggressions- und Gewaltpotential, mit eigenen Rache- und Vernichtungsphantasien und deren Übertragung auf Gott auseinanderzusetzen, es konstruktiv zu bearbeiten und so einem Gewaltausbruch vorbeugen (vgl. Fuchs, 2011, 134; Theuer, 2020, 430).

Die Texte können dafür sensibilisieren, das implizite Gewaltpotential von sozialen Mechanismen der Abwertung, Diffamierung und Ausgrenzung von Anderen sowie die dahinter stehenden Interessen wahrzunehmen und kritisch zu hinterfragen.

Die Beschäftigung mit den biblischen Gewalttexten kann zudem eine Reflexion und Diskussion über die Entstehung und den Umgang mit verschiedenen Formen von Gewalt und deren Legitimation, insbesondere eine kritische Auseinandersetzung mit der Legitimation von Gewalt durch die Berufung auf Gott initiieren. Dies kann in die Erarbeitung von Kriterien für den Einsatz von Gewalt und zum Entwerfen von Gegenmodellen münden. Durch das Wahrnehmen der Mehrdimensionalität, der Spannungen und Widersprüche in den biblischen Texten sowie der Korrektur durch gegenläufige gewaltkritische Passagen kann den Schülerinnen und Schülern bewusst werden, dass die Texte keinesfalls zur Legitimation von Krieg und Gewalt herangezogen werden dürfen, sondern vielmehr zu einem Aufbrechen von Gewaltspiralen anregen können.

3.3. Weiterentwicklung des eigenen Gotteskonzepts

Die aus Sicht der aufgeklärten Moderne anstößige Rede vom Gewalthandeln Gottes zeigt, dass die biblischen Gottesaussagen keine Wesensaussagen über Gott, sondern kontextuell bedingte Deutungen von Menschen sind, die die Komplexität und Ambivalenz der menschlichen Lebenswirklichkeit spiegeln. Die biblischen Gewalttexte fordern das eigene Hinterfragen der Schülerinnen und Schüler heraus und können zu einer intensiven Beschäftigung motivieren. Sie machen darauf aufmerksam, dass Gott immer wieder unsere gängigen Schemata sprengt, und regen dazu an, sich mit der Erfahrung des „fremden“ und unbegreiflichen Gottes als einer wesentliche Gotteserfahrung auseinanderzusetzen. Indem die Kinder und Jugendlichen durch die Beschäftigung mit den Texten begreifen, dass Menschen den einen Gott in gegensätzlichen Weisen erfahren, rettend und erlösend sowie richtend und strafend, können sie genau dadurch ein tragfähiges Gottesbild aufbauen (vgl. Schweizer, 2011, 381f.; Theuer, 2020, 395).

Die Einsicht, dass die Rede von der Gewalt Gottes damals gängige Vorstellungen zur Illustration der Macht einer Gottheit spiegelt, kann dazu anregen, der Frage nachzugehen, inwieweit auch unsere Gottesvorstellungen vom „Zeitgeist“, d.h. von aktuellen Normen, Werten und Interessen beeinflusst sind, und somit die in Kirche und Gesellschaft verkündeten Gottesbilder zu hinterfragen. Eine kritische Betrachtung der Darstellung biblischer Texte, z.B. der Verbindung von Erwählungsbewusstsein und gewaltsamer Abgrenzung in den Landnahmetexten, kann das Bewusstsein für die Gefahr schärfen, dass biblische Passagen in den Dienst partikularer Interessen gestellt und Gott dafür instrumentalisiert werden kann, was im Widerspruch zum universalen monotheistischen Gotteskonzept steht (vgl. Dietrich, Link, 2004, 213). Eine kritische Auseinandersetzung mit der biblischen Rede vom Gewalthandeln Gottes im Kontrast zu Passagen von Gewaltüberwindung kann zu einer zentralen Aufgabe des Religionsunterrichts beitragen, der „Fundamentalismusprophylaxe“ durch die Förderung von Differenzierungskompetenz in religiösen Fragen.

Widerständige Gottesbilder lösen theologische Reflexionsprozesse aus und regen Kinder und Jugendliche dazu an, die Rätselhaftigkeit, Unbegreiflichkeit und „dunklen“ Seiten Gottes nicht vorschnell zu glätten, sondern ins Gottesbild zu integrieren und dabei die Spannung zwischen gegenläufigen Gottesbildern auszuhalten. Dies trägt zur Entwicklung einer zunehmend komplexeren und tragfähigeren Gottesvorstellung bei, die auch den „dunklen“ Seiten der Lebenswirklichkeit standhalten kann. Die Offenheit für unterschiedliche Gottesvorstellungen bietet zudem Chancen für den interreligiösen Dialog.

4. Didaktische Überlegungen

4.1. Didaktische Leitlinien

Um ein angemessenes Verständnis der biblischen Texte und ihrer metaphorischen Sprache zu ermöglichen, ist es wichtig, einen Zugang zu Metaphern und Symbolen sowie zur häufig unvertrauten Sprache der Bibel zu eröffnen und einzuüben, um die hermeneutisch-religiöse Kompetenz der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Gerade bei der Verbindung Gottes mit Gewalt ist entscheidend, dass bereits den Kindern in der Primarstufe bewusst wird, dass es mehrere Dimensionen von Wahrheit gibt und die Texte nicht als historische Berichte zu lesen sind. Dies erfordert, die theologische Relevanz der Texte nicht an die historische Glaubwürdigkeit zu binden, sondern vielmehr ihre Bedeutsamkeit herauszustellen. Dies impliziert, von der Frage, ob das im Text Erzählte wirklich so passiert ist, auf die in den Texten vermittelten Glaubensaussagen überzuleiten, indem der Frage nachgegangen wird, warum die Texte das Geschehen auf diese Weise erzählen, welche Intention sie damit verfolgen, auf welche Fragen sie eine Antwort geben wollen und was für die Zuhörenden wohl besonders wichtig war. Schon Grundschulkinder können durch theologische Gespräche (→ Kindertheologie) angeregt werden, ihre eigenen Glaubensaussagen in einen Dialog mit dem Text zu bringen, dem nachzugehen, was für sie persönlich im Text bedeutsam ist (subjektive Wahrheit), aber auch, was für sie am Handeln Gottes irritierend und unverständlich ist, und dies in den Austausch in der Gruppe einbringen. So können Stellungnahmen von Kindern zur Gewalt Gottes (auf der Basis ihres Gotteskonzepts) dem biblischen Text gegenübergestellt werden; dies kann in einen offenen Austausch in der Gruppe münden, wobei auch nonverbale Formen ganzheitlicher, kreativer Gestaltung (Farben, Malen, Klänge, Körperhaltung) einbezogen werden. Wichtig ist, das Gewalthandeln Gottes, ohne es zu entschärfen, in einen Dialog mit dem eigenen Gotteskonzept zu bringen.

In der Sekundarstufe bietet sich auch ein rezeptionsästhetischer Zugang an, um die Aussage der biblischen Texte einerseits und die Wirkung sprachlicher bzw. über Sprache vermittelter Gewalt wahrzunehmen und kritisch zu reflektieren.

Wichtig ist ein offenes Vorgehen, in dem von den Fragen der Schülerinnen und Schülern ausgegangen wird. Dabei sollte ihnen die Möglichkeit eröffnet werden, die in den Bibeltexten thematisierte Gewalt in Beziehung zu eigenen Gewalterfahrungen zu setzen. Das Gespräch über die in den Texten genannten Figuren und Erfahrungen ermöglicht das Aussprechen eigener Gewalterfahrungen im Schutz der Anonymität, wobei aber der Grundsatz der Freiwilligkeit gewahrt werden muss. Gerade beim Thema Gewalt ist es zudem unabdingbar, die emotionale Betroffenheit der Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich zu distanzieren.

4.2. Exemplarische Konkretionen zum Vorgehen im Unterricht

4.2.1. Identifikation und mehrdimensionales Verständnis eröffnen

Ein thematisch-problemorientiertes Vorgehen mit Hilfe erfahrungsbezogener Zugänge und ganzheitlich-kreativer Formen der Auseinandersetzung, die Identifikation ermöglichen, können einen produktiven Dialog zwischen den Schülerinnen und Schülern mit ihren Gottesvorstellungen und den biblischen Texten in Gang setzen. Dabei ermöglicht die Einbettung in eine Rahmenerzählung ein Nachempfinden der historischen Erzählsituation.

Durch ein am → Bibliolog orientiertes Vorgehen sowie durch ein perspektivisches Wahrnehmen von Texten werden verschiedene Sichtweisen auf den Text nebeneinandergestellt und können miteinander ins Gespräch kommen; dies ermöglicht eine Identifikation mit verschiedenen Figuren der Erzählung und macht deutlich, dass die gleiche Situation je nach eigenem Standpunkt unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Wichtig ist dabei, die Perspektive der Opfer und der Täter einbeziehen und die Möglichkeit zu geben, sich auch mit den „Bösen“ zu identifizieren. Insbesondere in der Primarstufe eignet sich ein nonverbales Vorgehen, um die eigenen Gedanken und Gefühle einzubeziehen; so können die Schülerinnen und Schüler die Gefühle und Gedanken biblischer Figuren nachempfinden und diese durch Farben, Körperhaltung, Töne oder auch Formen kreativen Schreibens zum Ausdruck bringen (vgl. Fricke, 2005, 268; Theuer, 2020, 481-483).

4.2.2. Eine eigenständige kritische Auseinandersetzung ermöglichen

Gerade bei biblischen Gewalttexten ist eine eigene kritische Auseinandersetzung wichtig. Hier kann gezielt die Meinung der Schülerinnen und Schüler eingeholt werden, damit sie begründet Stellung nehmen, wobei sie aber ihre Äußerungen an den Text rückbinden müssen. Die eigene Positionierung kann auch dadurch initiiert werden, dass verschiedene Thesen bzw. Aussagen im Raum ausgelegt werden, zu denen sie sich positionieren und ihre Meinung begründen sollen, was in eine Diskussion in der Gesamtgruppe münden kann. Ein solches Vorgehen kann eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gewalthandeln Gottes und eine Diskussion zur Legitimität von Gewalt initiieren. Diese wird dadurch gefördert, indem Gewalttexte und gewaltkritische Gegentexte nebeneinander gestellt und die konträren biblischen Positionen diskutiert werden.

4.2.3. Durch literarische Zugänge ein tieferes Textverständnis ermöglichen

Aufgrund der metaphorischen Sprache der Texte ist es wichtig, die Schülerinnen und Schüler für die Mehrdimensionalität von Sprache zu sensibilisieren, z.B. durch den Ausgang von metaphorischen Wendungen und Metaphernmeditationen, was schon in der Primarstufe möglich ist. Hilfreich ist ein metaphorisches Verständnis z.B. bei der Tötung der ägyptischen Erstgeburt, die eine Chiffre für Fortbestand und Zukunft darstellt. Gerade hier ist auch die Einbettung in den literarischen Kontext wichtig, um die Rede von der Gewalt Gottes besser einzuordnen.

Insbesondere in der Sekundarstufe kann ein Einbeziehen zeitgenössischer altorientalischer Texte, z.B. mit dem Preis der Gottheit als siegreicher Kriegsheld, einen neuen Blick auf die biblischen Texte eröffnen (z.B. Inschriften bzw. Siegesstelen Sanheribs und Asarhaddons; vgl. Renz, 2016, 6f.).

4.2.4. Eine Reflexion der eigenen Gottesvorstellung initiieren

Um die Vielfalt und Ambivalenz der Gottesvorstellungen vor Augen zu führen, bietet es sich in der Primarstufe wie Sekundarstufe an, von den Gottesbildern der Kinder und Jugendlichen auszugehen. Lohnend ist, dabei verschiedene, auch einander scheinbar widersprechende Bilder und Symbole einzubeziehen, diese dem eigenen Gottesbild gegenüberzustellen und miteinander ins Gespräch zu bringen. Nach der Betrachtung eines Textes, der Gewalt Gottes thematisiert, legt sich ein Rückbezug auf die anfangs genannten Gottesvorstellungen nahe, z.B. durch die Frage, inwieweit sich die eigene Vorstellung von Gott durch die Geschichte verändert hat.

Um das Potential sperriger Texte, theologische Reflexionsprozesse zu initiieren, zu nutzen, bieten sich Impulse zur biblischen Erzählung an, z.B.: Was erfahren wir in der Geschichte von Gott? Warum könnten Menschen sich Gott so vorstellen? Eine bereits in der Primarstufe geeignete Möglichkeit, um eine Differenzierung der Gottesvorstellung anzubahnen, ist das Reden von Gott in Dichotomien, die dafür sensibilisieren, dass sich scheinbar widersprüchliche Attribute (z.B. strafend und verzeihend) auf Gott beziehen lassen. Dies kann in Bezug zur Ambivalenz der biblischen Gottesrede gesetzt werden und dafür sensibilisieren, dass Gott uns immer auch rätselhaft und unerklärbar erscheint, und so einer Verabsolutierung der eigenen Gottesvorstellung entgegenwirken.

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