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Gespräch, Anforderungssituation

Andere Schreibweise: Gespräch am Esstisch

(erstellt: März 2024)

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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.400008

1. Was ist ein Gespräch am Esstisch? – Methodische Verortung

Intensive Gespräche und angeregte Unterhaltungen am Esstisch in der Familie oder der Wohngemeinschaft, auch mit Freundinnen und Freunden, bei denen sich eine Vielfalt von Meinungen, Perspektiven und Erfahrungen zeigt – dieser Kontext begegnet sicher nicht nur im Film (vgl. zum Beispiel Sönke Wortmanns Der Vorname), sondern dürfte auch Schülerinnen und Schülern vertraut sein. Das Gespräch am Esstisch nimmt eben diesen Kontext auf und setzt ihn im Unterricht im Rahmen einer Anforderungssituation methodisch um. Dieses Gespräch als Methode aufzunehmen, ist sicherlich unkonventionell, allerdings kann diese Form als regelhaftes unterrichtliches Verfahren Verwendung finden, selbst wenn es zunächst um eine Form eines Gesprächs geht, das in seiner praktischen Umsetzung auf viele Themen des Religionsunterrichts als Anforderungssituation applizierbar ist.

Gemäß der Systematisierung von Manfred Riegger (Riegger, 2019, 62f.) stellt das Gespräch am Esstisch eine weitestgehend freie, thematisch geplante und zieloffene Gesprächsform dar (→ Unterrichtsgespräch). Diese zeichnet sich somit durch eine möglichst geringe Lehrerlenkung und folglich hohe Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler für den Lernprozess, einen vorgegebenen inhaltlichen Rahmen sowie eine Offenheit hinsichtlich des Ziels und Ergebnisses des Gesprächs aus. Der Begriff Gespräch (zur Begriffsdefinition und Abgrenzung von oft synonym verwendeten Begriffen siehe Brinker/Sager, 2010, 11f.) verweist auf eine zeitliche Eingrenzung, eine „thematische Orientierung“ (ebd.) sowie eine Beteiligung von zwei bis sechs Schülerinnen und Schülern, die sich aufeinander beziehen. Methodisch markiert er dahingehend eine Abgrenzung von einer Diskussion, dass keine Konkurrenzsituation simuliert wird und die Standpunkte sowie der Diskussionsablauf nicht streng reglementiert sein müssen. Parallelen bestehen in der Übernahme von vorgegebenen Rollen, die eine bestimmte Position nahelegen können (vgl. Riegger, 2019, 72f.). Eine gewisse Nähe zum → Rollenspiel besteht vor allem in der Rollenübernahme und der Anforderung an die Lernenden, zugleich teilnehmende Akteure, in einen Gruppenprozess eingebundene sowie reflektierende Beobachtende zu sein. Der spielerische, dramapädagogische Anteil ist beim Gespräch am Esstisch weniger ausgeprägt.

Das Esstisch-Motiv markiert die didaktische Einbettung der Gesprächssituation in einen spezifischen inhaltlichen Kontext, der am Esstisch diskutiert werden könnte, sowie eine (fiktive) Rollenzusammensetzung, die ebenda gegeben sein kann: Familie, Freundinnen und Freunde, Partnerin oder Partner, usw. Gleichzeitig soll das Gespräch als eines charakterisiert werden, das nicht nur den Austausch von Argumenten beinhaltet, sondern – und dies bildet gewissermaßen ein Leitmotiv der Methode – auch die wechselseitige Perspektivübernahme und Perspektivenverschränkung (vgl. zu Begriffsdefinitionen, der didaktischen Bedeutung und unterrichtlichen Beispielen Käbisch/Woppowa, 2020) inkludiert; unter Berücksichtigung von in die jeweilige Rolle integrierten Erfahrungen und biografischen Merkmalen. Hierin wird zudem der Anforderungscharakter sowie die Nähe zum Modell des Situierten Lernens (vgl. Fredebeul 2007, 22-44) deutlich. Abgezielt wird auf eine den Lernenden vertraute alltägliche Situation, in der „der Einzelne sich zu konkreten Herausforderungen reflektierend und urteilend verhalten“ oder in der „er selbst handeln muss“ und in der sich „Fragen stellen, die geklärt oder beantwortet werden sollen, Konflikte zeigen, die zu untersuchen sind“ (Obst, 2015, 186). Unterstützt werden kann der Esstisch-Charakter durch eine entsprechende Gestaltung der Lernumgebung (→ Lernumgebung/vorbereiteter Klassenraum), beispielsweise anhand einer Tischdecke oder einer entsprechenden stundenbegleitenden Präsentation.

2. Praktische Umsetzung

Die konkrete Verwendung des Gesprächs am Esstisch in einem Unterrichtsvorhaben hängt maßgeblich von den Intentionen der Lehrkraft ab. So kann es neben der Perspektivübernahme, -verschränkung und -erweiterung zum Ende eines Unterrichtsvorhabens oder einer Unterrichtssequenz der (abschließenden) Urteilsbildung und Kompetenzerwerbsüberprüfung dienen; zu Beginn eines Unterrichtsvorhabens kann es Einblicke in die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler gewähren sowie Fragen und Themen der Lernenden offenlegen (→ Lernausgangslage erheben). Die folgenden Darstellungen konzentrieren sich auf die Verwendung am Ende eines Unterrichtsvorhabens. Modifizierungen sind möglich. Unterrichtsmaterial, das die Frage „Frieden schaffen ohne Waffen?“ als Gesprächsanlass aufnimmt und Orientierung für die praktische Umsetzung bietet, findet sich in Selke/Bergmann, 2024.

2.1. Vorbereitung

Für eine gelungene unterrichtliche Einbettung eines Gesprächs am Esstisch sind vier Schritte obligatorisch.

Schritt 1: Eine Anforderungssituation identifizieren

Ausgangspunkt eines Gesprächs am Esstisch ist eine fachlich und curricular begründbare → Anforderungssituation (vor allem auch Obst, 2015, 167-196), die hinreichend komplex ist, um einen größeren fachlichen Zusammenhang anzusprechen, und die die elementaren Erfahrungen der Lernenden zu integrieren vermag (vgl. zum Prinzip der Elementarisierung Büttner, 2019; siehe kritisch zum Verhältnis vom Elementarisierungsmodell und Kompetenzorientierung auch Obst, 2015, 104-106). Diese kann bereits am Beginn einer Reihe/einer Sequenz stehen und im Gespräch am Esstisch abschließend rollengebunden erörtert werden.

Schritt 2: Eine Gesprächssituation skizzieren

Für das Gespräch wird eine über die Anforderungssituation hinausgehende Kontextbeschreibung benötigt, welche die am Gespräch beteiligten Personen und ihre Beziehungskonstellation benennt und einen Gesprächsanlass bietet. Dieser kann ein fiktives (gemeinsames) Erlebnis (zum Beispiel eine Gottesdiensterfahrung), ein reales Medium (zum Beispiel ein Zeitungsartikel mit einer kontroversen Position in einer ethischen Fragestellung) oder auch eine fiktive Gegebenheit (zum Beispiel der Sterbenswunsch eines gemeinsamen Bekannten) sein.

Schritt 3: Passende Rollen ausarbeiten

Die Zahl der Rollen liegt bei etwa vier, um einerseits verschiedene fachwissenschaftlich und fachdidaktisch relevante Perspektiven integrieren zu können und andererseits ein übersichtliches Gespräch zu ermöglichen, das allen Rollenvertretungen eine angemessene Redezeit einräumt. Die Rollen sind so gewählt, dass sie authentisch zu einer Esstisch-Situation passen.

Die zugehörigen Beschreibungen stellen biographische Zugänge zur Anforderungssituation und Wertvorstellungen dar und akzentuieren so eine bestimmte Position zum Gesprächsgegenstand, ohne diese – um den selbstdifferenzierenden Charakter der Rollenbeschreibungen zu wahren – streng vorschreiben zu müssen. Ein Zugang zu den Rollen kann dadurch vereinfacht werden, dass die Beschreibungen bestimmte Erlebnisse und die damit zusammenhängenden Gefühle aufnehmen.

In die Beschreibung einer eigens hierfür vorgesehenen Rollenfigur sind in Form der Darstellung des Gesprächsanlasses und seiner Rahmenbedingungen die Grundlagen für die Gesprächsmoderation inkludiert. Zudem beinhaltet die Beschreibung dieser Rolle Informationen zu den anderen Figuren, damit die Schülerinnen und Schüler sich anhand dieser auf die Moderation vorbereiten können.

Schritt 4: Lernende den Rollen zuordnen

Die Aufteilung der Lerngruppe auf die Rollen kann zufällig erfolgen, bietet aber auch Anlass zu weiterer Differenzierung, da einzelne Rollen, wie die der Moderation, je nach Gesprächsverlauf anspruchsvoller sein können. Darüber hinaus bilden die jeweiligen Beschreibungen unterschiedliche Zugänge zum fachlichen Inhalt ab, so dass die Zuordnung in einem „erfahrungsbezogenen Widerhall“, aber auch „als starke Perturbation […] in der Konfrontation mit fremden Erfahrungswelten eine unterrichtliche Wirkung“ haben kann (Mendl, 2018, 231).

2.2. Durchführung

Eine potenzielle Phasierung wird im Folgenden aufgeführt. Abweichungen sind möglich und sinnvoll, insbesondere angesichts unterschiedlicher Stundenrhythmen.

Phase 1: Einstieg

Die Lehrkraft erinnert (durch einen medialen Impuls) an die Anforderungssituation, die im Rahmen des Gesprächs am Esstisch aufgegriffen werden soll, die Anlass ist, den Zusammenhang der Unterrichtsreihe erneut herzustellen.

Phase 2: Situationsbeschreibung und Verlaufstransparenz

Die Lehrkraft präsentiert die dem Gespräch vorausgehende Situation, welche von den Schülerinnen und Schülern zusammengefasst wird, und informiert über den geplanten Verlauf.

Phase 3: Gesprächsvorbereitung

Die Lernenden lesen die ihnen zugeordnete Rollenbeschreibung und machen sich so mit ihrer Rolle vertraut. Auf Grundlage des Rollenprofils entfalten sie – in Einzel- oder Gruppenarbeit – Ideen, wie sich die Rollenfigur zu der der Anforderungssituation zugrundeliegenden Leitfrage positionieren könnte. Anschließend sichten sie die behandelten Inhalte der vorangegangenen Unterrichtsreihe/-sequenz und arbeiten Argumente für ihre Rollenfigur heraus.

Hiervon weicht die Vorbereitung der zur Moderationsfigur gehörenden Lernenden ab. Diese haben die Aufgabe, Ideen zu entfalten, welche Argumente und Perspektiven die anderen Rollen in das Gespräch einbringen könnten. In einem zweiten Schritt formulieren sie Fragen, um alle Rollen gleichermaßen in das Gespräch einzubeziehen.

Eine Auslagerung von Teilen dieser Phase in die Hausaufgabe bzw. der Phasen eins bis drei in eine erste Unterrichtsstunde ist denkbar. Zu Beginn der zweiten Stunde würden die Schülerinnen und Schüler dann nach einem gruppeninternen Vergleich der herausgearbeiteten Argumente und Fragen die Person auswählen, die für die Gruppe die Rolle am Esstisch vertritt.

Phase 4: Gesprächsdurchführung

Den Schwerpunkt der Methode bildet das eigentliche Gespräch am Esstisch. Unter Moderation der hierfür vorgesehenen Rolle führen die ausgewählten Schülerinnen und Schüler das Gespräch durch. Hierzu sitzen sie an einer separaten Tischgruppe, die von allen Lernenden gut zu sehen ist. Die Schülerinnen und Schüler argumentieren aus der Perspektive ihrer Rolle, geben Einblicke in der Argumentation zugrundeliegende Erfahrungen und Wertvorstellungen und beziehen sich auf die Anliegen der anderen Rollen. Entscheidend ist, dass nicht im Vordergrund steht, die Mitschülerinnen und Mitschüler von der eigenen – ohnehin nicht feststehenden – Position zu überzeugen, sondern – dem Gesprächscharakter entsprechend – die verschiedenen Perspektiven miteinander zu verschränken, um daraus Erkenntnisse für den eigenen Urteilsprozess zu gewinnen.

Eröffnung und Beendigung des Gesprächs liegen bei der Moderationsrolle. Ein Zeitrahmen (etwa 15 bis 20 Minuten) kann dafür in der Rollenbeschreibung vermerkt werden.

Um den Esstisch-Charakter auch in der Gesprächsbeendigung aufrecht zu erhalten, können zusätzlich Impulse für die Gesprächsführung zur Verfügung gestellt werden, die – ein mögliches Beispiel – das Gesprächsende mit der Ankündigung des Nachtischs verknüpfen. Erste Erfahrungen zeigen, dass die Lernenden auch von sich aus kreative Ideen zur Ausgestaltung der Gesprächssituation entwickeln.

Die nicht am Gespräch beteiligten Schülerinnen und Schüler haben in der Gesprächsphase die Aufgabe der Beobachtung des Gesprächs. Hierzu wird ihnen pro Gruppe eine jeweils andere Rollenfigur zugewiesen, deren Argumentation und spezifische Perspektive auf die Anforderungssituation sie dokumentieren. Da die Moderationsrolle keine eigenen Argumente in das Gespräch einbringen soll, bietet es sich an, die zugehörigen Schülerinnen und Schüler mit der Aufgabe der Beobachtung aller Rollen – mit dem Schwerpunkt auf der Beziehung der Argumente zueinander – zu betrauen, damit sie in der Sicherungsphase die verschiedenen Perspektiven verknüpfen können. Ein möglicher Beobachtungsbogen im Kontext der Theodizeefrage könnte folgendermaßen aussehen:

Abb. 1 Beobachtungsbogen. ©Selke/Bergmann.

Abb. 2 Beobachtungsbogen der Moderationsrolle. ©Selke/Bergmann.

Phase 5: Rollenausstieg und Gesprächsreflexion

Unmittelbar an das Gespräch schließt sich der Ausstieg aus den Rollen und eine kurze Gesprächsreflexion an, in der die am Gespräch beteiligten Lernenden – zum Beispiel in Form eines Blitzlichts (vgl. Reich, 2007) – ihr Rollenerleben reflektieren und sich ein Feedback der anderen Schülerinnen und Schüler einholen können.

Zur visuellen Unterstützung und Markierung des Rollenausstiegs bietet sich ein Abrücken des Stuhls vom Gesprächstisch oder ein Umdrehen von ggf. für das Gespräch aufgestellten Namensschildern an.

Phase 6: Gesprächsauswertung

In dieser Phase setzen sich die am Gespräch beteiligten Lernenden zu der Gruppe, die sie während des Gesprächs beobachtet hat. Die Schülerinnen und Schüler vergleichen ihre dokumentierten Argumente und gewichten diese. Je nach Ausgestaltung der Sicherungsphase werden die zwei bis vier wichtigsten Argumente auf Blättern oder digital notiert.

Die Gruppe der Moderationsfigur vergleicht ebenfalls ihre Dokumentation des Gesprächs und setzt die Argumente zueinander in Beziehung. Exemplarische Impulsfragen können sein: Welche Zusammenhänge bestehen zwischen den Argumenten oder sind möglich? Wo lassen sich die Perspektiven in Einklang bringen, wo sind sie unvereinbar?

Abhängig von der Gestaltung der Sicherungsphase bereitet sich die Gruppe zudem darauf vor, diese zu moderieren. Hierzu sollte dieser eine Grobstruktur für ein Tafelbild vorgegeben werden.

Phase 7: Sicherung

Diese Phase kann entweder von der Lehrkraft oder von Lernenden der Moderationsgruppe übernommen werden. Hierbei sollten die Perspektive der jeweiligen Rolle, die wichtigsten Argumente und die Bezugspunkte der Argumente zueinander festgehalten werden. Weitere Anschlussfragen – auch im Sinne einer Metakognition – können sein:

  • Wie hängen die Argumente mit der jeweiligen Perspektive zusammen?
  • Warum wurden von den Rollen bestimmte Argumente gewählt?
  • Was war den Schülerinnen und Schülern in der Ausgestaltung der Rollen wichtig?
  • Wie verändern welche Erfahrungen den Blick auf die Fragestellung?
  • Wie wirkt sich eine Perspektive auf das Erleben einer Situation aus?

Phase 8: Ein eigenes Urteil fällen

Im Anschluss an das Gespräch sollte ein Übertrag auf den persönlichen Urteilsprozess erfolgen, indem die Lernenden aus ihrer Sicht zu der in der Anforderungssituation aufgeworfenen Frage bzw. dem Problem Stellung nehmen.

Außerdem ist eine Reflexion der Methode möglich.

3. Einsatzmöglichkeiten

Ein Gespräch am Esstisch bietet sich vor allem im Rahmen von Unterrichtssequenzen an, in denen die → Urteilskompetenz von zentraler Bedeutung ist, und die hinreichend beziehungsreich sind, so dass sie die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven erfordern. Im Religionsunterricht können das sein:

  • individuelle oder gesellschaftliche ethische Konflikte sowie darin verortbare christliche Motive (→ Ethik), wie zum Beispiel die Frage nach der Vertretbarkeit von aktiver Sterbehilfe, angebunden an den Sterbewunsch einer den fiktiven Rollen nahestehenden Person, oder von Waffenlieferungen an die Ukraine,
  • ekklesiologische Herausforderungen der Gegenwart, wie die Beurteilung des liturgischen Formats eines Kneipengottesdienstes vor dem Hintergrund von kirchlichem Handeln und Selbstverständnis,
  • Fragen interreligiösen und interkonfessionellen Miteinanders, wie die Bedeutung des Kopftuchs im Islam, die sich anbinden lässt an religiöse, kulturelle und feministische Perspektiven,
  • systematisch-theologische Probleme, wie die Theodizeefrage (→ Theodizee) am Beispiel einer aktuellen Leidsituation, oder verantwortbare Gottesbilder angesichts geschlechteranthropologischer Konnotationen,
  • anthropologische Fragen nach gelingendem Leben, wie der Umgang mit künstlichen Intelligenzen, zum Beispiel im Rahmen einer Auseinandersetzung mit ChatGPT.

Aufgrund des Anspruchs der Methode und Einsichten von – hinsichtlich klar abzugrenzender Altersangaben mit Zurückhaltung zu rezipierender – Stufenmodellen zur Fähigkeit von Kindern und Jugendlichen zur Perspektivübernahme (vgl. Bischof-Köhler, 2011, 425f.) eignet sich diese vorrangig in der Sekundarstufe II und zum Ende der Sekundarstufe I.

4. Stärken

Die Methode bietet eine gute Möglichkeit, um eine lebensnahe → Anforderungssituation in den Unterricht zu integrieren und dabei kommunikative, soziale, fachliche und methodische Fähigkeiten zu fördern. Anhand verschiedener didaktischer Prinzipien lässt sich das Potenzial der Methode herausstellen. Dies soll im Folgenden aspektorientiert erfolgen.

  • Perspektivenverschränkung, Perspektivenwechsel: Am Esstisch und in der anschließenden Auswertung werden (die in den Rollenbeschreibungen grundgelegten fachwissenschaftlich relevanten) Perspektiven und die religiös-pluralen, elementaren Erfahrungen der Lernenden miteinander in ein Gespräch gebracht. Dies trägt dazu bei, die jeweilige Perspektive als eine voraussetzungsreiche, kontextuell abhängige und damit begrenzte wahrzunehmen und die Pluralität der Lerngruppe produktiv in den Unterricht einzubinden. Insbesondere die Offenheit der Rollen, die keinen Standpunkt vorschreiben, soll ermöglichen, dass die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Erfahrungen und Haltungen in die Rolle integrieren können und ein kontroverser Lernprozess entsteht. „Schließlich sind es die individuellen Deutungen der beteiligten Akteure im Unterricht selbst, die wesentlich zu Multiperspektivität, Pluralität und Kontroversität beitragen“ (Käbisch/Woppowa, 2020, 11). Standpunkt- und pluralitätsbefähigend wirkt sich die Methode dadurch aus, dass sie eine zeitweise Perspektivübernahme beinhaltet, in der Auswertung einen → Perspektivenwechsel, also „das Nachdenken (Metakognition) darüber, was sich am Denken, Fühlen und Handeln bzw. an der Bewertung einer Situation ändert, wenn sie aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, beschrieben und bewertet wird“ (Käbisch/Woppowa, 2020, 9), anstrebt, einen Argumentationsprozess initiiert und unter Berücksichtigung dessen zu einer Positionierung auffordert (vgl. Käbisch/Philipp, 2017).
  • Kompetenzorientierung: Das Gespräch am Esstisch erweist sich zu einem kompetenzorientierten Unterricht (→ Kompetenzorientierter Religionsunterricht) in vielerlei Hinsicht als kohärent (vgl. auch Feindt/Meyer, 2010 sowie Obst, 2015). Es steht im Rahmen einer lebensweltlichen Anwendung und greift auf den vielen Lernenden vertrauten Esstisch-Kontext zurück. Am Ende einer Unterrichtssequenz stellt es eine binnendifferenzierte Übungssituation dar, in der Wissen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler angewendet und miteinander vernetzt werden und metakognitiv die Bedeutung verschiedener Perspektiven für den Lerngegenstand sowie der Lernfortschritt der Lernenden fokussiert wird. Eingebettet wird das Gespräch am Esstisch in eine Anforderungssituation, deren „Bedeutung für die Lebens- und Lerngeschichte der Schülerinnen und Schüler […] im Kontext theologischer Reflexion“ (Obst, 2015, 172f.) unter Berücksichtigung ihrer diagnostizierten Lernausgangslage perspektivenverschränkend fruchtbar gemacht wird.
  • Differenzierung: Einige Aspekte wurden bereits angesprochen, so dass hier eine knappe Zusammenfassung erfolgen kann. Zunächst können die Rollenbeschreibungen so gestaltet sein, dass sie unterschiedliche Anspruchsniveaus bedienen. Insbesondere die Moderationsfigur fordert leistungsstarke Lernende heraus, da sie neben Fachwissen eine hohe methodische Kompetenz voraussetzt, vor allem wenn die Gruppe zudem die Sicherung übernehmen soll. Eine Differenzierung nach religiösen Zugängen kann hinsichtlich der Gruppenzusammensetzung erfolgen. Darüber hinaus bedienen die Teilnahme am Gespräch oder dessen Beobachtung unterschiedliche Leistungsniveaus. Eine Differenzierung nach Sprachniveau ist durch zusätzlich bereitgestellte Argumentationshilfen und Moderationsstrategien möglich.
  • Motivationsförderung: Einige mit dem Gespräch am Esstisch verbundene Aspekte können sich motivationsförderlich (→ Motivation) auswirken. Hierzu zählen die positive Interdependenz der Lernenden in der Sicherungsphase aufgrund der verschiedenen Beobachtungsschwerpunkte, die hohe Verantwortung der Schülerinnen und Schüler für den Lernprozess einhergehend mit einer geringen personalen Steuerung, das Ansprechen unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade und die mit dem Vorhergehenden zusammenhängende kooperative Qualität der Methode (vgl. Borsch, 2019, 27-33 sowie Dresel/Lämmle, 2017, 131-133).
  • Beobachtungszeit für die Lehrkraft: Die Ausarbeitung der Rollenbeschreibungen ist zwar vorbereitungsintensiv, dafür entlastet sie die Lehrkraft während der Stunde vom aktiven Unterrichten. Die Phasen drei bis sechs bzw. sieben liegen fast ausschließlich in der Verantwortung der Lernenden und bedürfen wenn überhaupt nur eines Übergangsimpulses durch die Lehrperson. Dadurch entstehen Freiräume für eine intensive Beobachtung als Grundlage für ein qualitativ hochwertiges Feedback (→ Evaluation/Feedback) sowie zur Unterstützung der Lernenden.

5. Herausforderungen

Erste Schwierigkeiten sind auf der organisatorischen Ebene zu benennen. Die Vorbereitung eines Gesprächs am Esstisch ist mit einem großen Aufwand verbunden. Es bedarf einer passenden Anforderungssituation, in der die Methode zu verorten ist, und aussagekräftiger Rollenbeschreibungen, so dass die Lernenden über genügend Hintergrundwissen verfügen, um zu verhindern, dass die Rollen lediglich „zu einer Projektionsfläche des eigenen […] Denkens, Fühlens oder Handelns werden“ (Käbisch/Philipp, 2017, 244; siehe auch Batson, 2008, 277).

Als pädagogische Herausforderung ist zu bedenken, dass die Methode vom Ideal eines herrschaftsfreien Diskurses ausgeht. Demgegenüber können Gespräche am Esstisch aufgrund möglicher Erfahrungen von Lernenden auch mit Machtstrukturen und Ängsten verbunden sein. Schwierigkeiten im Unterricht können dann Ressentiments und Herabwürdigungen bereiten.

Auf didaktischer Ebene ist anzumerken, dass sich die Methode gerade in kleineren Lerngruppen anbietet. Andernfalls besteht – vergleichbar mit vielen anderen Unterrichtssituationen und Diskussionsformen – aufgrund der geringen Rollenanzahl die Möglichkeit, dass oben beschriebene günstige Aspekte wie die positive Interdependenz und hohe Verantwortung der Lernenden für den Unterricht abnehmen. Denkbar wäre es für große Lerngruppen, zusätzliche Beobachtungsaufträge zu verteilen. Die beschriebenen Differenzierungen bieten vielfältige Einbindungsmöglichkeiten auch von sprachlich schwächeren oder unsicheren Schülerinnen und Schülern. Dennoch wäre darüber hinaus zu fragen, wie diese weitergehend unterstützt werden können, um an der Gesprächssituation teilzuhaben.

Hinsichtlich jüngerer Altersgruppen steht eine Adaption noch aus. Käbisch und Philipp arbeiten den „Prozesscharakter des Sich-Positionierens“ heraus, worin der besondere Anspruch der Methode in der Ausübung einer „teilnehmenden-handlungsorientierten Rolle“ (2017, 252-254) anschaulich wird. „Der Weg […] zu einem reflektierten Perspektivenwechsel (bzw. einer Perspektivenverschränkung) ist […] als Lernweg zu verstehen, der mit geeigneten Lernaufgaben bei jedem Unterrichtsthema neu zu beschreiten ist. Im Idealfall führen solche Lernwege zu einem reflektierten und argumentativ kommunizierbaren Standpunkt“ (Käbisch, 2017, 255). Entsprechend voraussetzungsreich ist die Methode.

Literaturverzeichnis

  • Batson, C. Daniel, Two Forms of Perspective Taking: Imagining How Another Feels and Imagining How You Would Feel, in: Markman, Keith D./Klein, William M. P./Suhr, Julie A. (Hg.), Handbook of Imagination and Mental Simulation, New York 2008, 267-279.
  • Bischof-Köhler, Doris, Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend. Bindung, Empathie, Theory of Mind, Stuttgart 2011.
  • Brinker, Klaus/Sager, Sven F., Linguistische Gesprächsanalyse. Eine Einführung, Berlin 5. Aufl. 2010.
  • Borsch, Frank, Kooperatives Lernen. Theorie – Anwendung – Wirksamkeit, Stuttgart 3. Aufl. 2019.
  • Büttner, Gerhard, Elementarisierung im Religionsunterricht. Einführung in die Praxis, Stuttgart 2019.
  • Dresel, Markus/Lämmle, Laura, Motivation, in: Götz, Thomas (Hg.), Emotion, Motivation und selbstreguliertes Lernen, Paderborn 2. Aufl. 2017, 80-142.
  • Eisenhardt, Saskia, Theologisieren mit Jugendlichen, in: Eisenhardt, Saskia u.a (Hg.), Religion unterrichten in Vielfalt: konfessionell – religiös – weltanschaulich. Ein Handbuch, Göttingen 2018, 137-145.
  • Feindt, Andreas/Meyer, Hilbert, Kompetenzorientierter Unterricht, in: Die GRUNDSCHULZEITSCHRIFT 24 (2010) 237, 29-33.
  • Fredebeul, Marcus, Situiertes Lernen und Blended Learning. Didaktische Konzeption und methodische Gestaltungsansätze, Saarbrücken 2007.
  • Käbisch, David/Woppowa, Jan, Perspektiven verschränken und Lernaufgaben konstruieren. Eine religionsdidaktische Annäherung, in: Religion unterrichten 1 (2020) 1, 10-17.
  • Käbisch, David/Philipp, Laura, Religiöse Positionierung als Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und Argumentieren. Didaktische Leitlinien für das gemeinsame Lernen mit Konfessionslosen, in: Lindner, Konstantin u.a. (Hg.), Zukunftsfähiger Religionsunterricht. Konfessionell – kooperativ – kontextuell, Freiburg i. Br. 2017, 238-257.
  • Mendl, Hans, Religionsdidaktik kompakt. Für Studium, Prüfung und Beruf, München 6. Aufl. 2018.
  • Obst, Gabriele, Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, Göttingen 4. Aufl. 2015.
  • Reich, Kersten, Blitzlicht, Köln 2007. Online unter: http://methodenpool.uni-koeln.de/download/blitzlicht.pdf, abgerufen am 23.02.2023.
  • Riegger, Manfred, Handlungsorientierte Religionsdidaktik. Teil 2: Unterrichtsmethoden, Stuttgart 2019.
  • Selke, Yannick/Bergmann, Marco, Pazifismus ohne Wenn und Aber? – Ein Gespräch am Esstisch über „Frieden schaffen ohne Waffen“, in: Religion 5-10 14 (2024) 53, 24-27.
  • Veit-Jakobus, Dietrich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und Kirche, Stuttgart 2012.

Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1 Beobachtungsbogen. ©Selke/Bergmann.
  • Abb. 2 Beobachtungsbogen der Moderationsrolle. ©Selke/Bergmann.

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