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Geistkonzepte, bildungstheoretisch

(erstellt: März 2023)

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1. Einführung: Dimensionen des Verständnisses von „Geist“ im bildungstheoretischen Kontext

Den Geist gibt es nicht. Er erzeugt sich vielmehr immer wieder neu im Sprechen und Denken, Lehren und Lernen: Er ist die Kraft, die Sich-Verstehen und Welt-Verstehen ermöglicht und Verständigung erlaubt.

Hier nun soll Geist als Chiffre für eine → Bildungstheorie verstanden werden. Dabei ist zu klären, wie im Spannungsverhältnis zwischen einem alltagssprachlichen und philosophischen Geistbegriff die vor allem in religiösen Bildungsprozessen wirksamen geistigen Phänomene zu verstehen und konzeptionell zu beachten sind. Ohnehin wird der Heilige Geist (als Person der Trinität) im Religionsunterricht nur selten zum Thema. Aber Geistphänomene auch in nicht explizit religiöser oder theologischer Perspektive zu erschließen und zu verstehen, kann eine gewisse Öffnung des Religionsunterrichts für pneumatologische Dimensionen religiösen Selbst- und Weltverständnisses fördern. Der dabei unterstellte Zusammenhang rekurriert auf das Verständnis des Menschen als „Ebenbild Gottes“ (Gen 1): Mit seinem Geist hat der Mensch Anteil an der Wirklichkeit Gottes, die biblisch als reiner Geist vorgestellt wird. Das ist mehr als über eine biologische Spezies bzw. über ein Produkt blinden Evolutionsgeschehens ausgesagt werden kann: Wer oder was Geist besitzt, transzendiert die empirische Natur.

Dem Personbegriff, mit dem der Gedanke einer von empirischen Eigenschaften unabhängigen Menschenwürde verbunden ist, kann in christlicher Deutungsperspektive der von Gott gestiftete Geist zugeschrieben werden, der im Geschöpf Gottes zugleich Gottes Ebenbild in Erscheinung treten lässt. Personen unterscheiden sich von anderen Lebewesen dadurch, dass sie nicht nur etwas erkennen können, sondern auch noch erkennen wollen, was „Erkenntnis“ ist und was „Wissen“ bedeutet. Geist korrespondiert mit dem Phänomen des Selbstbewusstseins.

Im Licht des Geistbegriffs wird die für die Erkenntnistheorie konstitutive Subjekt-Objekt-Beziehung differenziert oder relativiert. Das gilt besonders für das System des neben Immanuel Kant bedeutendsten, aber deutlich über den Kritizismus hinausgehenden Philosophen des deutschen Idealismus, Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Für Hegel kommt im Denken der in der Welt und ihrer Entwicklung wirksame Geist zu sich selbst. Der Prozess der Selbsterkenntnis des Geistes wird erkennbar in den Gestalten des subjektiven Geistes (als Seele, Bewusstsein), des objektiven Geistes (Recht, Moralität, sittliche Welt) und als absoluter Geist (in Kunst, Religion, Philosophie). Auf die Gestalten des objektiven Geistes referiert der von W. Dilthey im Kontrast zu den Naturwissenschaften geprägte Begriff der „Geisteswissenschaften“. Hegel bringt die christliche Vorstellung, dass Gott Geist ist, in die Form eines philosophischen Systems. Der absolute Geist gilt als Inbegriff der Wirklichkeit, als Grund allen Seins. Der Geist wäre nicht als das Absolute denkbar, wenn er nicht als im Denken selbst wirkend verstanden würde. So kann das Absolute nicht als ein auf ein Subjekt bezügliches Objekt des Denkens verstanden werden. Es muss selbstreferentiell gedacht werden, d.h. sein Gedachtwerden muss ein Moment an ihm selbst sein.

Besonders energisch hat (neben Hegel und unterschieden von Hegel) Friedrich Wilhelm Schelling betont, dass Gott nur außerhalb eines Subjekt-Objekt-Gegensatzes gedacht werden kann. Um Gott zu denken, kann man weder davon ausgehen, dass es Gott gibt, noch davon, dass es ihn nicht gibt. Der Gottesgedanke ist zu verstehen als ein „Transzendenzindex“, der in allem Möglichen und Wirklichen die Gegenwart der schöpferischen Transzendenz anzeigt (Dalferth, 1999). Das metaphysische und geschichtsphilosophische Totalitätsdenken indes, wie es Hegels System zugrunde liegt, erscheint gegenwärtig (auch mit Blick auf die Katastrophen des Geschichtsverlaufs) als obsolet: „Das Ganze ist das Unwahre“ (Adorno, 1969, Aphorismus 55).

Der Begriff der Bildung, wie er vor allem von Wilhelm von Humboldt und Friedrich Daniel Schleiermacher entwickelt wurde, grenzt sich gleichermaßen gegen die idealistischen Systementwürfe ab wie gegen die Konzeption der Erziehung zur gesellschaftlichen Brauchbarkeit in der philanthropischen Aufklärungspädagogik. Die von Hegel postulierte Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem durch den absoluten Geist kann den utopischen Gehalt der Bildung nicht in der empirischen Wirklichkeit einlösen. Geschichtsphilosophische Konstruktionen können den Bildungsbegriff zumal in der Gegenwart nicht mehr tragen. Im Bildungsbegriff wird die Welt in inkompatibel ausdifferenzierten Perspektiven erschlossen, sodass er nicht mehr als integrativer Gesamtbegriff zu denken ist, durch den das Individuum der Idee nach vollständig mit einer als erschließbar geltenden Welt vermittelt wäre. Erst recht lässt sich in der ausdifferenzierten Gegenwartskultur die Vermittlung differenter Weltperspektiven nicht mehr mittels der Strukturformen denken, die bei Hegel „Geist“ genannt werden. Ein universalistisches Weltverständnis erscheint dann nicht im Abstrakt-Allgemeinen, sondern im Individuellen, insofern – gegen Hegel – die Welt als Medium zur Steigerung von Individualität gilt. Weder ist der „objektive Geist“ in Bildungsprozessen durchzusetzen, noch kann eine teleologische Bestimmung des Menschen mit dem Geschichtsprozess zusammengedacht werden. Dem Begriff der Menschheit soll in einer Person ein größtmöglicher Inhalt verschafft werden (Benner, 2001, 165). Im Bildungsdenken Schleiermachers tritt die ebenfalls idealismuskritische Einsicht hinzu, dass der Mensch nicht im Bildungsprozess erst hervorgebracht wird, sondern sich einem transzendenten Grund verdanke, der sich nicht in die Immanenz des Bewusstseins auflösen lasse. Dieser Gedanke wird in der bildungstheoretischen Neuorientierung der Gegenwart von Peter Biehl (mit Rückgriff auf eine theologische Denkfigur Eberhard Jüngels) akzentuiert: Dem Bildungsprozess „bleibt das Personsein als Grund der menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung stets voraus. Subjekt muss der Mensch im Prozess seiner Bildung erst werden, Person ist er immer schon“(Biehl, 2003, 40).

Auch wenn also der Gedanke, dass „Geist“ in „ontologischer bzw. kosmologischer Hinsicht als Prinzip der Ordnung alles Seienden (fungiert)“, nicht mehr ungebrochen denkbar ist, kann „Geist“ hingegen „in epistemologischer Hinsicht“ ganz generell als „das Prinzip der höheren kognitiven Leistungen des Menschen“ bezeichnet werden (Stolzenberg, 2000, 259). Anzuknüpfen wäre zudem an die Einsicht Kants, dass vom Selbstbewusstsein des denkenden Ich nicht auf eine geistige Substanz zu schließen ist, die an sich erkennbar wäre (Stolzenberg, 2000, 259): Kant wandte sich gegen die Erklärung menschlicher Erkenntnisfähigkeit durch die von Descartes im Unterschied zur „res extensa“ postulierte „res cogitans“. Hinter diese kritische Einsicht führt, so unterschiedlich auch in der Gegenwartsphilosophie „Geist“ verstanden werden mag, kein Weg zurück.

Damit sind die Zusammenhänge, wie über „Geist“ nachgedacht werden kann, in ihren unterschiedlichen Linien und Dimensionen kurz umrissen. Die geistigen Aktivitäten, die in der Gegenwart unter der Überschrift einer „Philosophie des Geistes“ (im anglophonen Raum: „theory of mind“) bedacht werden, sind zu unterscheiden von den Auffassungen des Geistes als die Wirklichkeit durchwirkendes Prinzip in den Philosophien des Deutschen Idealismus. Der thematische Zusammenhang mit dem, was unter „Bewusstsein“ zu verstehen ist, liegt indes auf der Hand, und zwar nicht nur im Blick auf dessen kognitive Funktionen, sondern auch hinsichtlich des Gefühls, als leib-seelisches Wesen zu existieren.

2. Was ist unter „Geist“ zu verstehen? Elemente des Geist-Begriffs und ihre Geschichte

Geist gehört, wie manch andere großen Begriffe (Himmel, Liebe etc.) zu denen, die nach einem Gegenüber rufen (anders als Dreieck, Universum etc.) Die Tradition bietet hierfür drei Modelle an: Geist-Materie, Geist-Leib, Geist-Fleisch (Paulus), die auch geschichtlich miteinander verschränkt werden.

2.1. Geist und Selbstbewusstsein

Im philosophischen Nachdenken wie im Alltagsbewusstsein wird Geist mit Selbstbewusstsein in Zusammenhang gebracht, worunter zumeist das „Phänomen des reflektierten Verhaltens zu sich selbst“ verstanden wird. Darüber wird zwar schon seit der Antike nachgedacht, aber „erst durch seine transzendentale Fassung bei I. Kant“ wird Selbstbewusstsein „mit der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt“ verbunden (Figal, 2004, 1158).

Dabei fußen Erfahrungen des Geistes und ihre Deutungen wesentlich auf der „zentrale(n) neue(n) Erfahrung des frühen Christentums“: Der „wirkliche(n) und unmittelbare(n) Präsenz Gottes in Menschen durch den Geist. Die Leistung des Geistbegriffs besteht dabei darin, für die Erfahrbarkeit Gottes in der Welt überhaupt zu stehen: Herkunft von einem anderen und Immanenz im Menschen werden so beschrieben“ (Berger, 1984, 194). Erst neuzeitlich wird der Geistbegriff im Blick auf die Erfahrungen des Selbstbewusstseins fokussiert und konkretisiert.

Die „Philosophie des Geistes“ (im Sinne der im anglophonen Bereich vorherrschenden „theory of mind“) versteht demgegenüber unter „bei Bewusstsein sein“ zunächst einen Zustand von Wachheit und die Fähigkeit zu integriertem Verhalten. Das schließt eine Reihe kognitiver Fähigkeiten ein: Verschiedene Formen des Wissens, der Aufmerksamkeit, der Erinnerungsfähigkeit, die von dem reflexiven Wissen begleitet werden, das Personen von den eigenen mentalen Zuständen haben. Im Zentrum der Philosophie des Geistes steht das sogenannte „Leib-Seele-Problem“: Wie verhalten sich mentale Zustände zu physischen Zuständen? Das Problem wurde von Descartes mit der Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa (→ Erkenntnistheorie) dualistisch gefasst. Das damit verbundene Problem entsteht, wenn man nach dem kausalen Zusammenhang fragt, ist also selbst wiederum ein Problem modernen naturwissenschaftlichen Denkens. In naturwissenschaftlicher Sicht wird der Mensch zum Organismus, d.h. zum komplexen Maschinenmodell mit zweckmäßigen Organen (La Mettrie: „L’homme machine“), die allesamt ein Produkt der Evolution sind. Das ist ein für die moderne Medizin unverzichtbarer Gedanke. Aber: Wie ist die Weigerung zu begründen, das für die ganze Wirklichkeit zu halten?

Generell lässt sich sagen, dass nach dem Ende der Vorherrschaft der idealistischen Philosophie zwar an einem Begriff des Geistes festgehalten wurde, unter dem nun aber weithin nur das Produkt des endlichen Bewusstseins verstanden wurde und wird. Hier setzt die Kritik des amerikanischen Philosophen Thomas Nagel einen neuen Akzent, wobei zu betonen ist, dass Nagel sich als (zumindest: methodischer) Atheist versteht. Geist sei kein rätselhafter Nebeneffekt der Evolution, sondern nur als deren schon von Anfang an vor der Entstehung bewussten Lebens angelegtes Potenzial zu verstehen (Nagel, 2013). Ohne Abkehr von Darwinismus und Materialismus, d.h. nur mit der Annahme biologischer Anpassungsfähigkeit oder mit Blick auf Muster der Selbstorganisation sei die Entstehung von Bewusstsein und ein Verständnis von Geist (hier stets als mind verstanden), einschließlich von Vernunft und Freiheit nicht möglich. Ähnlich wie in der Sicht Schellings sieht Nagel das Universum nach und nach erwachen und im Menschen zu sich kommen. Die Frage nach einer Philosophie des Geistes müsse neu gestellt werden: Wie ist zu verstehen, dass und wie die Natur fähig ist, Geist hervorzubringen? Die auf den Gottesgedanken zielende Überlegung, dass ein nicht wahrgenommenes Universum ohne Beobachter absurd erscheint, schließt Nagel freilich aus.

Nagel spitzt mit „Geist und Kosmos“ seine Kritik am reduktiven Naturalismus bzw. am generell in den Naturwissenschaften vorherrschenden Szientismus zu, wie sie in dem 1974 veröffentlichen Essay „What Is It Like to Be a Bat?“ (deutsch: „Wie ist es eine Fledermaus zu sein?“, Nagel, 2016) Aufmerksamkeit erregte: Mentale Aktivitäten lassen sich nicht auf beobachtbare chemo-physische Prozesse reduzieren; zum Bewusstsein als der Binnenperspektive des Geistes haben Naturwissenschaften keinen Zugang. Das Erlebnis von Schmerz ist etwas kategorial anderes als die neurologisch beobachtbaren Begleiterscheinungen des Schmerzempfindens. „Sein“ bedeutet in diesem Kontext strikt: Wahrgenommen-Werden (Berkeley: esse est percipii). Nagel fundiert seine Naturalismuskritik mit dem Nachweis der Unmöglichkeit einer nicht-perspektivischen Epistemologie (Nagel 2012). Vor dem Hintergrund eines ganz anderen sprachphilosophischen Denkens kommt Ludwig Wittgenstein zu einem ähnlichen Ergebnis: „Aber das Auge siehst du wirklich nicht“. Mit der Einsicht, dass es keinen Blick von Nirgendwo gibt, und wenn reduktionistische Konzepte nicht überzeugen können, bleibt Bewusstsein ein Rätsel; ein Gedanke der ähnlich schon bei Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716) in seiner „Monadologie” zu finden ist: „Selbst wenn wir in einem menschlichen Gehirn wie in einer Fabrik herumlaufen und es auf jeder Ebene der Abstraktion erforschen könnten, verstünden wir immer noch nicht, wie Erleben zustande kommt. Das bedeutet auch, dass wir noch nicht verstehen, wie unser Erleben unser Tun bestimmen kann“. Anders gesagt: Bewusstsein lässt sich nicht im Modus empirischer Beobachtung seiner physischen Epiphänomene erklären und verstehen (Bieri, 1994, 172).

Einen besonderen, für Bildungsprozesse anregungsreichen Akzent setzt Ernst Cassirer (Cassirer 2001-2002), für den der menschliche Geist in der Einheit von Bewusstsein und symbolischen, Sinn und Sinnlichkeit verbindenden Formen besteht. Geist kann sich daher nicht unvermittelt selbst ergreifen, sondern ist auf die Vermittlung durch sinnliche Gehalte angewiesen. Dadurch, dass der Geist sich nur durch Vermittlungsmedien selbst ergreifen kann, vermeidet Cassirer die reine Selbstbezüglichkeit des Geistes und geht einen Schritt über die moderne Subjektphilosophie hinaus. Dieses durch symbolische Formen vermittelte Geist-Verständnis kann für die Konzeption von (religiösen) Bildungsprozessen besonders furchtbar sein (vgl. Dressler, 2018b, 58f.).

Auch ohne zu verkennen, dass die hier skizzierten Problemlagen einer Philosophie des Geistes nicht unstrittig oder gar konsensfähig sind, kann doch als Zwischenresümee in einem bildungstheoretischen Kontext gesagt werden, dass ein Zusammenhang zwischen Geist und Intelligibilität der Welt zu veranschlagen ist: Geist zu verstehen, setzt voraus, dass die Wirklichkeit – auf noch näher zu bedenkende Weise, z.B. deutungstheoretisch und/oder semiotisch – verständlich ist. Hier kommt auch die von Dilthey im Zusammenhang mit der Begründung von „Geisteswissenschaften“ veranschlagte Unterscheidung zwischen „erklären“ und „verstehen“ ins Spiel, die von naturalistisch-szientistischen Positionen eingezogen wird.

Es kann indes keine Naturwissenschaft welchen Typs auch immer geben, die ihre Resultate nicht in Sprachform präsentiert und mit personenübergreifenden Geltungsansprüchen verknüpft. Geltungsansprüche sind normativ. Naturvorgänge sind nicht wahr oder falsch – Behauptungen darüber schon.

Hier ist bereits als ein erstes Fazit festzuhalten, dass in einer Perspektive, die „Geist“ einbezieht, Lernprozesse in naturalistischer Sicht nicht zu verstehen sind. Insofern ist es problematisch, wenn im bildungstheoretischen Kontext Lerntheorien – z.B. konstruktivistischer Provenienz – veranschlagt werden, die ihre Herkunft aus naturalistischen Theorien (z.B. den biologischen Autopoiesis-Konzepten) nicht ganz abstreifen können. Genau zu prüfen wäre, was sie an Erkenntnissen bieten, die in geistes- oder religionsaffineren Lerntheorien (z.B. Rezeptionsästhetiken, hermeneutischem Lernverständnis etc.) nicht ebenso gut thematisiert werden könnten. Das gilt noch deutlicher für die Versuche der sogenannten „Neurodidaktik“, Lerntheorien neurophysiologisch zu erklären, wobei dem Gehirn Tätigkeiten zugeschrieben werden, die mit Wörtern bezeichnet werden, die für Handlungen von Personen gebraucht werden. Aber: „Ich ist nicht Gehirn“ (Gabriel, 2015).

2.2. Geist und Spiritualität – religionstheoretisch

Geistige Phänomene werden gegenwärtig zunehmend unter den Begriff „Spiritualität“ subsumiert. Religionskritische Motive verbinden sich dabei mit der Reaktion auf bestimmte Entzauberungs- (Max Weber) und Verödungseffekte der modernen Lebenswelt. Spiritualität droht im allgemeinen Sprachgebrauch zu einer Residualkategorie für geistige bzw. mentale Phänomene zu werden, deren Bezug zur Religion dort abgeblendet wird, wo Religion für obsolet gehalten wird. Die terminologische Konjunktur dieses Begriffs verläuft umgekehrt proportional zum Bedeutungsverlust kirchlich verfasster religiöser Vorstellungen und Praktiken. Bestimmte Weltdeutungen und Lebensführungskonzepte werden damit vor der als peinlich empfundenen Nähe zur Religion bewahrt, ohne auf eben die Erfahrungs- und Deutungsdimensionen zu verzichten, die herkömmlich mit der Religion verbunden sind. In diesem Zusammenhang ist es zu verstehen, dass auch innerhalb der verfassten Kirche zunehmend von Spiritualität die Rede ist, die oft an die Stelle von „Frömmigkeit“ oder ganz generell von „Religiosität“ tritt. Außerhalb kirchlichen Begriffsgebrauchs ist eine gewisse Affinität von „Spiritualität“ und Esoterik zu beobachten. Die Affinität von Spiritualität und Esoterik kann mit Blick auf elementare Erfahrungen kritisch beleuchtet werden, wenn der Zusammenhang von Spiritualität, Geist und Bewusstsein bedacht wird. Pointiert: Spiritualität setzt begriffsgeschichtlich, aber auch mentalitätsgeschichtlich das voraus, was unter „Geist“ verstanden wird.

Eine Brücke von der Theologie zu den unterschiedlichen Aspekten von Spiritualität lässt sich von den religionstheologischen Positionen F. D. Schleiermachers schlagen. Das Phänomen Selbstbewusstsein wurde von Schleiermacher anders als von Hegel erfasst. Bei Hegel ist die Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins ein „im Zusammenhang des Absoluten aufzuklärendes Moment“; dagegen sieht Schleiermacher in ihr „ein nicht aufzulösendes Merkmal des Selbstbewusstseins. Jede bestimmende Aktivität unseres Selbstbewusstseins […] zehrt von einer […] immer schon vorausgesetzten Vertrautheit mit sich selbst, für die das Wort ‚Gefühl‘ einsteht. Insofern ist die Einheit des Gefühls die tatsächliche Voraussetzung all unseres Denkens und Handelns“ (Korsch, 2004, 1159). Versteht man den Menschen als leib-seelisches Wesen, stellt sich die „Frage nach der Einheit seines Lebens. Sie wird mit Schleiermacher empfindbar als Gefühl (nicht: im Gefühl!). Gefühl ist unausweichlich leiblich konnotiert, besitzt aber zugleich so etwas wie eine interne Rückkopplung, die es eben als Gefühl dem Bewusstsein zugänglich macht“ (Korsch, 2003, 31). Gefühl gilt hier also nicht als Sammelbegriff psychologisch fassbarer Gefühle, sondern ist zu verstehen als Selbsterfahrungsmodus leib-seelischer Wesen. Aber das „Gefühl muss eine nicht-dingliche Herkunft besitzen, die es gegeben sein lässt“. Denn die uns umgebende Welt kann zwar Gefühle erzeugen, aber nicht die Fähigkeit, überhaupt zu fühlen und sich auch noch dessen bewusst zu sein. Das Gefühl verweist auf den leib-seelischen Zusammenhang, in dem es erscheint. „Symbolisiert man die Instanz dieser Herkunft, dann kann sie nur Gott genannt werden. Gott ist der Name für die Herkunft unserer endlichen Freiheit, wie sie sich im unmittelbaren Selbstbewußtsein als Gefühl zeigt“ (Korsch 2004, 1159, mit Bezug auf Schleiermachers „Glaubenslehre“, §4).

In diesem Zusammenhang wird die Abwegigkeit der im Kontext des sogenannten → Transhumanismus beobachtbaren Erwartung besonders deutlich, Geist und Bewusstsein könnten aus ihrem Sitz in organischer Leiblichkeit in das technisch-materielle Format von Computern transferiert werden. Die Leib-Gebundenheit geistiger Phänomene wird insbesondere bei Philosophen hervorgehoben, die an E. Husserls Phänomenologie anschließen (u.a. M. Merleau-Ponty und B. Waldenfels). Daran lassen sich die Überlegungen Hannah Arendts zum „Leben des Geistes“ anschließen: Sein und leibliches Erscheinen im menschlichen Handeln sind für sie identisch, weil jedes Sein eine Wahrnehmung – im Sinne von esse est percipii – voraussetze. So wie das Denken mit dem Körper verbunden ist, können Menschen überhaupt nur im Plural existieren (Arendt, 1998).

Jörg Dierken votiert vor diesem Hintergrund dafür, Pneumatologie als „Rahmentheorie des Glaubens“ anzusetzen: „Denn sie steht grundsätzlich für eine solche Struktur, in der die Theologie zugleich als Theorie des subjektiven Glaubensvollzugs und die Subjektivität des Glaubens als theologischer Gehalt entfaltet werden. Diese in der Pneumatologie explizite Verschränkung von Theologie und subjektivem Glauben charakterisiert implizit fast alle Topoi protestantischer Dogmatik – insbesondere deren moderne Erfahrungszentriertheit“ (Dierken, 2004, 133).

Johannes Fischer (Fischer, 1994) erweitert den Bezug der Dogmatik F. D. Schleiermachers auf das zeitgenössische „fromme Bewusstsein“ hinaus auf Fragen nach „sinnvoller Lebensorientierung“, die er als „geistbestimmte Kommunikation“ versteht. Hierauf rekurriert Carsten Gennerich auf der Suche nach möglichen Haftpunkten theologischen Denkens in den Lebensorientierungen von Jugendlichen (Gennerich, 2009, 14-16). Johannes Fischer begrenzt bzw. präzisiert in weiterer Hinsicht die Bedeutung des Gefühls für eine religiöse Weltdeutung durch die Feststellung, dass sich Geist und Geist-Phänomene in der Gestalt von „Präsenz“ äußern bzw. zeigen; er unterscheidet Präsenz „von subjektiven Empfindungen oder Gefühlszuständen“ und verortet sie in „Gestalten emotional bestimmten Verhaltens, die für den zwischenmenschlichen Umgang von fundamentaler Bedeutung sind“ (Fischer, 2011, 15f.). Auch in „profaner“ Hinsicht sei „umgangssprachlich“ die Rede „von dem ‚Geist‘ einer Begegnung“ oder „von dem ‚Geist‘, der in einer Gruppe von Menschen herrscht, und wir meinen damit etwas, über das wir nicht wie über unsere Handlungen selbstbestimmt verfügen, sondern das sich im zwischenmenschlichen Verhalten wechselseitig atmosphärisch überträgt“. Fischer spitzt diese Gedanken in pneumatologischer Hinsicht zu: „Das Wirken von Gottes Geist manifestiert sich auf eine Weise, die ihre sprachliche Artikulation in adverbialen (statt in prädikativen, B.D.) Bestimmungen des menschlichen Lebensvollzugs hat“ (Fischer, 2011, 15f.). Wer (etwa im Sinne von Gal 5,22) im Geist lebe, nehme die Welt und das Leben anders als im Wissensbezug wahr (→ Handlungswissenschaft).

Präsenzerfahrungen sind strikt unterschieden von Tatsachenfeststellungen. Als im Geist präsenter Gott existiert Gott nicht (entsprechend Bonhoeffers berühmten Diktum: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“). Als Geisterfahrungen präzisieren und akzentuieren Präsenzerfahrungen die Trinitätstheologie. Präsenzerfahrungen bilden auch deshalb Basis und Zentrum der (christlichen) Religion, die deshalb nur als Gestalt religiöser Praxis, also als Performanzphänomen, zu verstehen ist. Im christlichen Gottesdienst kann Gott als gegenwärtig, aber nicht als existent erfahren werden.

Wenn Geist – jenseits begrifflichen Erfassens – in Präsenzphänomenen als wirksam erfahren werden kann, lassen sich religiöse bzw. spirituelle Erfahrungsdimensionen mit jenen ästhetischen Erfahrungen vergleichen, die sich deutlich von Sinn-Erfahrungen im Sinne von propositionalen Bedeutungserschließungen unterscheiden (→ Wahrnehmungswissenschaft). Insbesondere Musik, die insofern geradezu als ein Paradigma von Geist-Präsenz gelten kann, kann Menschen jenseits von Bedeutungszuschreiben berühren und auf diese Weise geistig wirken. Ähnliches kann für jene auratische Wirkung gelten, die Walter Benjamin im Kontakt mit Werken bildender Kunst, aber auch mit Naturphänomenen erfahren und beschrieben hat. (Benjamin, 1963). Erhellend ist, dass die Bedeutungsherkunft von „Aura“ (gr. Wind/Hauch) auf die biblische Vorstellung von „Geist“ (hebr. Ruach) verweist.

3. Geist in Bildungsprozessen

3.1. Geist im Zusammenhang von Lehren und Lernen

Dass Lehren und Lernen mit „geistigen“ Phänomenen zu tun haben, wird schon alltagssprachlich angenommen, ohne dass Geistkonzepte vorab begrifflich geklärt werden müssen. Solche Klärung wird indes besonders unerlässlich, wenn bzw. weil der alltagssprachliche Bezug auf „Geist“ in naturalistischen (also geistige Dimensionen der Wirklichkeit abblendenden) Zugängen zu Lehr-Lernprozessen unter der Hand unterlaufen wird, z.B. in Theorien der sogenannten „Neuro-Didaktik“ und in manchen Varianten konstruktivistischer Lerntheorien, sofern sie ihrer herkünftigen Orientierung an biologischen Autopoiesistheorien verhaftet bleiben. Dass für Lerntheorien ein korrespondenztheoretischer Wahrheitsbegriff nicht mehr gelten kann, bleibt unbestreitbar (→ Wahrheit). Das setzt die Unterstellung der Kommunikabilität der in Lernprozessen erworbenen Einsichten nicht außer Kraft. Dem wird indes in vergleichsweise religionsaffineren hermeneutischen und/oder semiotischen Theorien lerntheoretisch besonders entsprochen. Konstruktivistische Epistemologien sind zudem nur hinsichtlich von Faktizitätsansprüchen in sich schlüssig, nicht aber hinsichtlich davon kategorial unterschiedener Geltungsansprüche (→ konstruktivistischer Religionsunterricht).

Es geht im Lernvermögen wie im Wissen nicht um die exakte Wiedergabe an sich gar nicht zugänglicher Gegenstände, sondern „um die mithilfe des Wissens bewältigte Verständigung der Menschen untereinander. […] Die transzendentale Leistung des Verstandes liegt dann (wohlgemerkt nach Kant!) darin, die Dinge ‚communicabel zu machen’. […] Das Wissen dient der Verständigung. […] Das ‚Ich denke’, das dem Akt der Vorstellung und des Wissens seinen Stellenwert gibt, ‚erfindet’ den Sachgehalt der Mitteilung nicht, sondern verbürgt ihn gegenüber jedem, der ebenfalls ‚ich denke’ sagen (und denken!) kann“(Gerhardt, 2014, 63). Deshalb sind lernende Personen eingebunden in überindividuelle Systeme des Zeichengebrauchs. Lernprozesse werden begleitet von der Aufmerksamkeit dafür, ob und wie man die Wirklichkeit ohne Rücksicht auf den Widerstand verstehen kann, den sie dem Denken entgegenstellt. Schärfer zu unterscheiden wäre zwischen der wirklichkeitskonstituierenden und wirklichkeitsmodellierenden Funktion von Sprache und Zeichensystemen. In Bildungsprozessen muss ein Sinn für die reale Gegenständlichkeit der Welt nicht nur erhalten, sondern auch gefördert werden: „Wirklichkeit ist das Restrisiko der Interpretation“ (Moxter, 2003, 250).

In Lernprozessen geht es immer darum, im Medium des Verstehens ein Können zu erwerben. Können kann nur ein Subjekt, das auch anders könnte, also keine Maschine. Nur Maschinen gehen darin auf, für etwas gut zu sein, also einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Da der in Lernprozessen aktive Geist nicht direkt, sondern nur an den Lernergebnissen sichtbar wird, ist „Lernen […] im Wesentlichen unsichtbar […] und nicht beobachtbar. Wir sehen nur die Bemühung und das Resultat, an dem wir hinterher ablesen, ob etwas gelernt worden ist oder nicht. Sogar uns selbst bleiben Lernvorgänge verborgen; erst hinterher stellen wir fest, dass wir uns verändert und insofern etwas dazugelernt haben“ (Prange, 2005, 90). An das in Lernprozessen wirksame geistige Vermögen „(reicht) keine Erfahrungswissenschaft heran […], weil es aller Erfahrung zugrunde liegt und sie überhaupt erst möglich macht“ (Türcke, 1986, 18). Ohne das von Subjekten aufgebotene produktive Vermögen zur geistigen Synthesis könnte kein Mensch etwas lernen – aber keine Lerntheorie und erst recht keine empirische Beschreibung reicht an diese synthetisierende Kraft des Subjekts unmittelbar heran. Lernprozesse gibt es nur, weil „zwischen dem Vermögen zur Synthesis und der konkreten Synthesis, die der Lernende dann faktisch vollzieht, […] ein Kontingenzschritt [besteht]“ (Türcke, 1986, 18). Beobachtbar sind deshalb immer nur die in Lernprozessen erworbenen Kompetenzen, soweit sie in kommunikativen Handlungen darstellbar sind. Nach dem Maß ihrer Darstellbarkeit – ihrer „Performanz“ – können sie empirisch evaluiert werden, doch kann sich auch dabei, also auch im Raume explikationsfähiger Gehalte, ein nur hermeneutisch zu verstehender und nicht objektiv messbarer Rest entziehen, der als für die humane Qualität von Bildung konstitutiv anerkannt und als „Technologiedefizit“ (Luhmann) anerkannt, aber nicht beklagt werden darf (Dressler, 2018b, 66) (→ Systemtheorie).

Unter dem Terminus „theory of mind“ wird vor diesem Hintergrund in lerntheoretischer Hinsicht der Umstand verhandelt, dass schon Kinder früh im kollektiven Rollenspiel Handlungen und Gegenstände in mehreren Bezugssystemen zugleich denken können (zum Folgenden: Dressler, 2008, 82-87). In ihrer Kommunikation bewegen sie sich dabei erstaunlich „souverän ‚zwischen’ den Bezugssystemen der Alltagsrealität, der Spielfiktion und der gemeinsamen Konstruktion ihres Fortgangs“ (Knobloch, 2001, 19). Die darin erkennbare intersubjektive Kommunikationsfähigkeit wird aber erst dann zu einer auch meta-repräsentationalen Einstellung, wenn „die ‚falsche’ Annahme eines anderen Mitspielers in der eigenen Orientierung als positive Tatsache in Rechnung“ gestellt werden kann. „Nur wer eine ‚theory of mind’ hat, kann z.B. explizit wissen, dass ein anderer etwas nicht weiß“(Knobloch, 2001, 19). Von der zunächst auf emotionaler Ebene sich entwickelnden Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und einem kommunikativ-praktischen Sinn kindlicher Intersubjektivität ist in Lernprozessen fortzuschreiten zu einer gewussten Perspektivität des Wissens, zur Fähigkeit, in zwei oder mehreren Bezugssystemen zugleich zu agieren (Knobloch, 2001, 27). Es kennzeichnet nun gerade die in Lernprozessen aktivierten Kulturtechniken, dass sie „sich von allen anderen Techniken durch ihren potentiellen Selbstbezug, durch eine Pragmatik der Rekursion (unterscheiden). Von Anfang an kann man vom Sprechen sprechen, das Kommunizieren kommunizieren“. Als „second order techniques“, als „Techniken zweiter Ordnung fungierten die Kulturtechniken von Anfang an als Techniken der Selbstthematisierung“ (Macho, 2007, 51f.). In lerntheoretische Kompetenzkonzepte ist damit eine reflexive Dimension immer schon eingebaut.

3.2. Religiöse Bildung in spiritueller Perspektive

Geist ermöglicht und erschließt Bildungsprozesse als Geist des Verstehens, und mit Blick auf die Pluralität partikularer Modi des Weltverstehens ist die Pluralität des Verstehens ein Ausweis der Kraft des Geistes unter nach-totalitären Bedingungen. Ohne die integrierende Kraft eines geistigen Vermögens ließen die ausdifferenzierten Handlungsfelder der Moderne keine urteilsfähige Lebensführung zu. Versteht man Religion als kulturelles Feld des Geistes, erschließt sie den Sachverhalt der Pluralität der Perspektiven überhaupt – und zwar als zusammengehörige: Religion ist Teil des pluralen Feldes und doch in der Lage, den Zusammenhalt des Vielfältigen zu symbolisieren. Der Vollzug von Perspektivenwechseln in religiösen Bildungsprozessen ist ein Schlüsselphänomen des hermeneutischen Geist-Gebrauchs (→ Perspektivenwechsel).

Gegenwärtig nun ist das oben erörterte Problem, dass und warum der Rekurs auf „Spiritualität“ dem Bezug auf Religion und Theologie entweder eine kritische Distanz oder eine bestimmte geistige Färbung einträgt, auch im Blick auf die religionspädagogische Theorie und Praxis zu bedenken (Woppowa, 2021). Die als „spirituell“ gedeuteten elementaren Erfahrungen rutschen nur dann nicht ins Esoterische ab, wenn sie bildungstheoretisch als Erfahrungen des Geistes reflektiert werden.

Johannes Fischer akzentuiert die damit verbundenen Probleme, indem er Geisterfahrungen jenseits kognitiver Dimensionen als Präsenzerfahrungen fasst, die außer im lebensweltlichen Alltag vornehmlich in religiösen Vollzügen widerfahren können. Die christliche Religion könne nur mit Blick auf ihre Praxis verstanden werden (Fischer, 2019, 214).

Die Orientierung an spirituellen Erfahrungsdimensionen soll nicht dazu führen, auf „didaktische“ Weise Gefühle vermitteln zu wollen (was in unterrichtlichen Lernprozessen weder erlaubt noch zielgerichtet möglich ist) und hinter den Anspruch religiöser Bildung auf Urteilsfähigkeit zurückzufallen. Religiöse Bildung soll befähigen, die Bedeutung und Angemessenheit von Gefühlen in die Urteilsbildung einzubeziehen (→ Emotionale Bildung). Religiöse Bildung kann den Anspruch nicht aufgeben, dass gebildete Menschen in ihrer Lebensführung jeweils sachgerecht und angemessen entscheiden können, wann und wo wissenschaftliche oder moralische oder ästhetische oder eben auch religiöse Kompetenzen und Urteilsmaßstäbe zum Zuge kommen sollten. Es geht also unvermeidlich auch um kognitive Arbeit an den für gegenwärtige religiöse Orientierungen charakteristischen Phänomenen von spiritueller Inkonsistenz. Jenseits der Gestaltungsformen einer persönlichen praxis pietatis zielt religiöse Bildung darauf ab, sich an öffentlicher Religionsausübung mit Gründen beteiligen oder nicht beteiligen und mit Blick auf religiöse und/oder religionspolitische Diskurse Meinungen von Argumenten unterscheiden zu können.

Im Blick auf das, was gegenwärtig als religionsunterrichtliche Praxis beobachtbar ist, lassen sich aber wohl (eher thematisch als gestalterisch-performativ) Möglichkeiten denken, wie den Phänomenen von Spiritualität eine angemessenere Beachtung zukommen kann. (Woppowa, 2021; Dressler, 2022). Es geht dann um bestimmte Themen bzw. um Beobachtungsperspektiven, in denen Phänomene des Geistes sichtbar werden und reflektiert werden können. Wirft man einen Blick auf Rahmenrichtlinien, Lehrwerke und Unterrichtsmaterialien, fallen solche pneumatologischen Themen weitgehend aus. Es käme demgegenüber in religiösen Bildungsprozessen darauf an, jenen in anthropologischer Hinsicht entscheidenden Blickwechsel zu öffnen, durch den ein Sensorium für die reflexive Funktion der Seele als Geist allererst geöffnet und dann gefördert werden kann. Das kann im schulischen Religionsunterricht am günstigsten im interdisziplinären und kontrastiven Vergleich mit den in anderen Fächern dominanten reduktiven Modi des Weltverstehens geschehen, die die Leiblichkeit des Menschen so verengt wahrnehmen, dass Geistphänomene kaum thematisierbar sind, oder die in Lern- und Erkenntnisprozessen wirksamen Selbstbezüge ganz ausblenden (vgl. hierzu und zum Folgenden Dressler, 2022).

Es sind bestimmte Selbstbeobachtungen, die sich mit einem Sensorium für Geistphänomene verbinden lassen: Was tritt in den Blick, was kommt in den Sinn bei einem Gang mit Psalm 104 durch blühende Natur? Was geschieht, wenn ich mich angesprochen fühle durch die Schönheit von Naturerscheinungen, Ästhetik jedoch in naturalistischer (z.B. evolutionsbiologischer) Perspektive auf Funktionalität reduziert bleibt? Wie und wodurch kann die Ansprechbarkeit durch ein Menschenantlitz, durch seinen Ausdruck von Freude oder von Schmerz, davor bewahrt werden, utilitaristisch als ein Zweckkalkül im Sinne sozialer Überlebensfähigkeit gedeutet zu werden? Wie ist damit unsere eigene Selbstachtung davor zu bewahren, als bloße Funktion im survival of the fittest zu gelten? Was ist überhaupt die Voraussetzung dafür, uns als Personen zu verstehen, als jemand von etwas unterschieden zu sein? Wie verändern sich Phänomene geistig-bewussten Lebens, wenn die Frage thematisiert wird, ob, und wenn ja: warum die Welt „lesbar“ ist, also eine Sinndimension jenseits eines bloßen Evolutionsgeschehens erkennen lässt? Warum bleibt Bewusstsein in naturalistischer Perspektive ein Rätsel? Und wie erscheint es in religiöser Perspektive als Geheimnis? Viel zu selten wird geistliche Musik rezeptionsästhetisch anspruchsvoll erschlossen und auf ihre religiösen Dimensionen hin durchsichtig gemacht (→ Musik). All das lässt sich auch ohne Religion fragen, mit möglichen Antworten auf diese Fragen ist keine Nötigung zum Gottesgedanken verbunden – aber selbst, wenn man vor diesen Fragen auf Verstehen verzichtet, hält man durch sie doch ein Sensorium für Geistphänomene wach. Gerade weil die öffentliche Schule keine Weltanschauungsagentur ist, soll in ihr gelernt werden können, wie sich das deutende Verstehen der menschlichen Welt kategorial von naturwissenschaftlichen Erkenntnisvorgängen unterscheidet. Der Religionsunterricht ist in dieser Hinsicht aber nur dann unverzichtbar, wenn er sich weder in erster Linie als Ort einer Traditionspflege, noch als Ort sozialmoralischer Orientierung versteht.

Wenn „geistliche“ Erfahrungen vornehmlich – wie Johannes Fischer betont – im Kontext eigenartiger Präsenzphänomene und im Blick auf Religion in und durch religiöse Praxis möglich sind, ist spirituell gehaltvoller religiöser Bildung damit auch eine Grenze gezogen. Präsenzerfahrungen lassen sich unterrichtlich nicht inszenieren. Sie bleiben unverfügbar. Unterricht kann immerhin Wahrnehmungsoffenheit für mögliche außerunterrichtliche Lebenserfahrungen und Präsenzerlebnisse bestärken. Die Vorstellungsgehalte der christlichen Religion sind nicht ohne deren Vollzugsformen zu verstehen. Dieser Zusammenhang soll, die Darstellung von Vollzugsformen mit der Möglichkeit reflexiver Distanzname vorausgesetzt, kognitiver Einsicht zugänglich bleiben. „Spirituelle“ Erwartungen sind daher begrenzt, sofern sie auf schulischen Unterricht gerichtet sind. Andere Spielräume stehen dagegen außerschulischen, z.B. gemeindlichen Lernvollzügen offen.

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