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Lukas 15,11-32 - Das Gleichnis vom liebenden Vater

I. Religionspädagogische Reflexion

Sowohl im schulischen Kontext als auch in der Gemeinde stellt das Gleichnis vom liebenden Vater wohl einen der Bibeltexte dar, die am häufigsten thematisiert werden. Dementsprechend ist für die Bearbeitung mit der jeweiligen Zielgruppe mögliches Vorwissen im Besonderen zu berücksichtigen. Zugleich finden die unterschiedlichen Wissensstände wie auch die Lebenswelterfahrungen der Kinder und Jugendlichen zahlreiche thematische Anknüpfungspunkte in dem Gleichnis. Folgende entwicklungspsychologische Überlegungen geben einige grundlegende Hinweise zum Umgang von jungen Menschen mit der Erzählung.

1. Elementare Zugänge: Entwicklungspsychologische Überlegungen

1.1 Identifikationsfähigkeit – Gott als Vater

Die Vaterfigur spielt im Gleichnis eine prominente Rolle und mag aus theologischer Perspektive Anlass zu bedeutenden Interpretationen für das Gottesbild anregen. Allerdings ist entwicklungspsychologisch nach einer Studie von Kalevi Tamminen zu beachten, dass Kinder signifikant mehrheitlich erst ab einem Alter von 11 Jahren den Vater mit Gott identifizieren (70%) und erst ab einem Alter von 17 Jahren erneut wesentlich mehr Jugendliche (90%) diese Deutung vornehmen (vgl. Tamminen, Entwicklung, 129). Auch mit Blick auf die Interpretation des jüngeren Sohnes ist darauf zu achten, dass ihn erst Teenager ab 15 Jahren in signifikanter Zahl (30%) in seiner Bezeichnung als ‚verlorener Sohn‘ mit den Sündern identifizieren, die als solche ihre Sünden bereuen (vgl. Tamminen, Entwicklung, 130).

1.2 Entwicklung des Gerechtigkeitsdenkens

Innerhalb der unterschiedlichen Beziehungskonstellationen rührt das Gleichnis für Kinder und Jugendliche auf vielfache Weise die Frage nach der Gerechtigkeit an. Dabei werden die Handlungen der Figuren von den Kindern und Jugendlichen gemäß des individuellen Entwicklungsstandes ihres Gerechtigkeitsdenkens verstanden, hinterfragt und bewertet (zu den konkreten thematischen Verbindungen s. 2.Elementare Erfahrungen).

1.3 Lebensphase des Umbruchs – Zugehörigkeit und Aufbrechen

Am Ende ihrer Schulzeit befinden sich die Jugendlichen im besonderen Maße in einer Lebensphase des Umbruchs: Sie sind gefordert, eine berufliche Entscheidung für ihr Leben zu treffen. Für manche geht damit auch das Verlassen des Elternhauses einher. Dementsprechend können für Jugendliche in der puberalen Ablösephase und auch junge Erwachsene Themen wie Aufbrechen, Aufbrechen dürfen und (wieder) Heimkehren im Gleichnis interessant sein (vgl. Müller/Büttner/Heiligenthal, Gleichnisse Jesu, 148). Für einige dürfte dies mit einem Gefühl der Freiheit oder Erleichterung einhergehen, es mag sich aber auch die Frage nach dem Scheitern des eigenen Aufbrechens stellen. Manche ziehen es vor, ihre Berufsausbildung oder ihr Studium aus der gewohnten Umgebung des Elternhauses heraus in Angriff zu nehmen. In beiden Fällen geht es um die Erfahrung von Abwendung und Zuwendung – jeweils der eigenen bzw. auch der von anderen bisher nahestehenden Menschen.

Die Frage nach der eigenen Individualität und damit verbunden nach der Integration oder Abgrenzung im Zusammenleben mit anderen gewinnt bereits bei Kindern im Grundschulalter, dann aber verstärkt für Teenager in der Pubertät immense Bedeutung. In ihren vielfältigen Beziehungen erfahren sie das Glücken oder eben auch Scheitern ihrer Annahme trotz oder im Anderssein. Es geht darum, aufgenommen zu werden in eine Gruppe Gleichaltriger, die Familie oder etwa in einen Verein.

1.4 Fähigkeit des Textverstehens verschiedener Erzählebenen

Die zuvor genannten Themen des Aufgenommen Werdens und der Annahme trotz oder im Anderssein finden sich im Bibeltext auf verschiedenen Erzählebenen: innerhalb des Gleichnisses zwischen dem jüngeren Sohn und dem Vater bzw. dem älteren Sohn (Lk 15,11–32), mit Blick auf die Rahmenerzählung zwischen den Pharisäern und Zöllnern (Lk 15,1–3) und schließlich auf der Kommunikationsebene zwischen dem Evangelisten Lukas und seiner adressierten Gemeinde – dort zwischen den Gemeindegliedern und etwaigen Interessierten am christlichen Glauben (Lk 1,1–4). Um die Erzählebenen außerhalb des Gleichnisses zu unterscheiden, ist ein komplexes Textverständnis notwendig. Dieses ist aufgrund der kognitiven Entwicklung erst ab der Sekundarstufe I vorauszusetzen (vgl. Freudenberger-Lötz, Parabel, 66f.). Unter Berücksichtigung ihrer hermeneutischen Fähigkeiten bietet sich für die Arbeit mit Jugendlichen der Sekundarstufe II und jungen Erwachsenen an dieser Stelle die Möglichkeit zur Vertiefung und historischen Weitung: Bereits die frühen Christen gingen kreativ mit Texten um, die sie in verschiedenen Kontexten platzierten und für ihre Botschaft nutzbar machten. Wenn ein Gleichnis in verschiedenen Zusammenhängen steht, ergibt sich die Frage, ob sich die Botschaft der Erzählung ändert (z.B. das Gleichnis vom Verlorenen Schaf nach Mt 18,12–14 in der Gemeindesituation, nach Lk 15,3–7 in der apologetischen Situation der Auseinandersetzung mit den Pharisäern).

2. Elementare Erfahrungen: Themen der Heranwachsenden

Zahlreiche Erfahrungen und Themen von Kindern und Jugendlichen finden sich im Gleichnis vom liebenden Vater (Lk 15,11–32) wieder – manche unmittelbar, andere auf abstrakte Weise. Allerdings ist trotz nominaler Übereinstimmung festzustellen, dass nur manche dieser Erfahrungen und Themen der jungen Menschen von heute denen der Erzählung tatsächlich gleichen und andere sich im Laufe der Jahrhunderte weiterentwickelt haben. Letzteres hat Auswirkungen auf das Textverstehen.

2.1 Familiäre Beziehungen mit Vätern und Geschwistern

Die Lebenswirklichkeiten von Kindern und Jugendlichen werden insbesondere durch ihre familiären Beziehungen bestimmt. Die Vater-Kind-Beziehung spielt dabei eine wesentliche Rolle – welcher Art auch immer sie im Einzelfall sein mag. Diese Beziehungskonstellation findet sich prominent im Gleichnis, so dass sie einen Anknüpfungspunkt bietet. Die Kinder und Jugendlichen dürften bei der Textbegegnung jedoch kein altorientalisches Vaterbild vor Augen haben, sondern vielmehr das Bild eines heutigen Vaters (vgl. Bambey/Gumbinger, Neue Väter). Der Vater gilt für die Mehrzahl der jungen Menschen heute nicht als Patriarch, sondern als fehlbarer Mensch, der mitunter gar zu seinen Fehlern steht (vgl. Schweitzer, Elementarisierung, 20); vielleicht zeichnet sich der Vater aber auch durch seine Abwesenheit aus. Dieser Heterogenität der Vaterbilder und der Unterschied zum patriarchalischen Vaterbild des alten Orients (s. im AT und im NT) bringt für die Lehrkraft zumindest die Herausforderung mit sich, sich dessen bewusst zu sein und je nach Reaktion der Kinder und Jugendlichen entsprechend zu agieren. Mit Blick auf diese Beziehungskonstellation kann sich die Frage danach ergeben, ob sich der jüngere Sohn richtig verhält, als er sein Erbe verlangt; oder Spekulationen, dass der Sohn aufgrund einer schlechten Beziehung zum Vater (vgl. Schweitzer u.a., Religionsunterricht, 16) oder wegen seines Freiheitsdrangs wegzieht; ebenso wie die Frage, warum der jüngere Sohn überhaupt zum Vater zurückkehrt.

Indem sich die jungen Menschen mit ihren Vaterbildern dem Gleichnis nähern, eröffnen sie selbst Räume für ihre Themen, welche die Lehrkraft mit ihnen weiter erschließen kann. Dabei sind die entwicklungspsychologischen Aspekte der Identifikationsfähigkeit zu berücksichtigen. An der Vater-Sohn-Beziehung entfalten sich für Kinder und Jugendliche Themen wie Scheitern, Schuld und Vergebung, Erleichterung (Abwendung vs. Zuwendung). Wesentlich sind in diesem Kontext zudem die Gefühle, geliebt, aber auch vernachlässigt oder nicht genügend anerkannt zu werden.

Neben der Vater-Kind-Beziehung stehen viele Kinder und Jugendliche innerhalb der Familien in Geschwisterbeziehungen, in denen sie wesentliche Erfahrungen machen (vgl. Kasten, Geschwister). Dabei erleben sie negative Gefühle wie Neid, Missgunst oder Eifersucht, aber auch positive Gefühle wie Freude oder Liebe, wenn sie in ihrem Tun von den Geschwistern anerkannt werden. Solche Gefühle finden sie im Gleichnis zwischen dem jüngeren und älteren Bruder.

2.2 Gerechtigkeit

Innerhalb der unterschiedlichen Beziehungskonstellationen provoziert das Gleichnis für Kinder und Jugendliche auf vielfache Weise und je nach Entwicklungsstand die Frage nach der Gerechtigkeit. In Anlehnung an heutige Gepflogenheiten mutet das Verhalten des jüngeren Sohnes, das Erbe bereits vor dem Tod des Vaters einzufordern, sonderbar an. Verhält sich der jüngere Sohn mit seiner Bitte gegenüber seinem Vater und auch seinem älteren Bruder gerecht und damit richtig? Hier spielt etwa auch der Umgang mit Geld in der Erfahrung mancher jungen Menschen eine Rolle (vgl. Müller/Büttner/Heiligenthal, Gleichnisse Jesu, 148) – gerade dann, wenn die eigene Familie mit finanziellen Sorgen ringt. Nachdem der jüngere Sohn wieder nach Hause zurückgekehrt ist und der Vater ein großes Fest für ihn ausrichten lässt, stellen sich auch mit Blick auf den Vater einige Frage: Handelt der Vater gerecht, dass er für den jüngeren Sohn ein Fest ausrichten lässt und für den älteren, treuen Sohn nicht? Bekommt nur der jüngere Sohn die wertvollen Gegenstände Ring, Gewand und Schuhe? Wird der ältere Sohn vernachlässigt? (vgl. Video „Einfach mal nachgefragt“, 2:41 – 4:50 Min.; Freudenberger-Lötz, Parabel, 66f.) Umgekehrt regt auch die Reaktion des älteren Sohnes zu fragen an: Ist dessen Verhalten gerechtfertigt, das Fest für seinen zurückgekehrten Bruder zu verweigern und diesen dort nicht sehen zu wollen?

2.3 Anderssein – Vom Aufbrechen und Heimkehren, von Ablehnung und Annahme

Für Jugendliche in der puberalen Ablösephase und auch junge Erwachsene können Themen wie Aufbrechen, Aufbrechen dürfen und (wieder) Heimkehren im Gleichnis interessant sein (vgl. Müller/Büttner/Heiligenthal, Gleichnisse Jesu, 148). Für manche dürfte dies mit einem Gefühl der Freiheit oder Erleichterung einhergehen, für manche mag sich aber auch die Frage nach dem Scheitern des eigenen Aufbrechens stellen. In beiden Fällen geht es um die Erfahrung von Abwendung und Zuwendung – jeweils der eigenen bzw. auch der von anderen bisher nahestehenden Menschen. In solchen Situationen und in ihren vielfältigen Beziehungen erfahren sie das Glücken oder eben auch Scheitern ihrer Annahme trotz oder im Anderssein. Es geht darum, aufgenommen zu werden in eine Gruppe Gleichaltriger, die Familie oder etwa in einen Verein. Diese Themen finden sich im Bibeltext auf verschiedenen Erzählebenen, die je nach Fähigkeit des Textverstehens interpretiert werden können.

Dieselben Themen und Erfahrungen von Anderssein und Annahme, allerdings aus einem ganz anderen Blickwinkel, könnten Menschen mit Migrationshintergrund mitbringen, wenn sie mit dem Gleichnis in Berührung kommen. Ihre Perspektive ist dadurch gekennzeichnet, dass sie – im Unterschied zum jüngeren Sohn aus dem Gleichnis – ihr Land und ihre Familie gerade nicht freiwillig verlassen haben, um in einem neuen Land ansässig zu werden. Sie würden vielleicht sehr gerne wieder in ihre Heimat und zu ihren Familien zurückkehren, was ihnen aus bestimmten Gründen allerdings verwehrt ist.

II. Exegetische Reflexion

Angesichts der religionspädagogischen Vorreflexionen bietet es sich aus exegetischer Sicht an, die dem Gleichnis inhärenten und durch den lukanischen Erzählkontext zusätzlich getriggerten (15,1–3) Identifikationspotenziale in den Mittelpunkt des jugendlichen Texterlebens zu rücken. Durch eine erzählwissenschaftliche Erschließung der empathiefördernden Stilmittel sowie der tragenden Figurenrelation („Dreieckskonstellation“) können die von den Kindern und Jugendlichen zu erwartenden Fragen nach der (Geschwister)Gerechtigkeit adressiert werden. Die sozialgeschichtlichen Implikationen des Gleichnisses lassen sich in einem zweiten Schritt nutzen, um den Text mit den Kindern und Jugendlichen vertiefend zu bearbeiten und neue Sinnpotenziale zu erschließen. Weitere exegetische Aktualisierungspotenziale (2.3) ergeben sich beispielsweise aus feministischer Perspektive oder aufgrund der zunehmend virulenten Migrationsthematik.

1. „Kinderexegese“: Begegnungen der Kinder und Jugendlichen mit dem Text

1.1 Vorüberlegungen: Lukas als strategischer Gleichniserzähler

Obwohl Jesus in allen kanonisch gewordenen Evangelien als Gleichniserzähler in Erscheinung tritt, verstärkt das Lukasevangelium diesen Eindruck zusätzlich. Dies gelingt Lukas nicht allein durch die vergleichsweise hohe Anzahl an Gleichnistexten, sondern auch dadurch, dass er Jesu Gleichnis­erzählungen spezifischen Konfliktsituationen zuordnet und sie dadurch aufs Engste mit der Verkündigung und Lehre Jesu verknüpft. Vor allem die Sondergut-Gleichnisse, also jene Gleich­nisse, die ausschließlich Lukas überliefert, dienen dazu, Jesu Verhalten vor den Menschen zu rechtfertigen und für das von Jesus artikulierte Gottesbild zu werben. Die Gleichnisse legitimieren u.a. seine Tischgemeinschaft mit den religiös Ausgeschlossenen (Lk 7,41–42a; 15,8–10.11–32; 18,9–14) oder kritisieren ein falsches Vertrauen auf das menschliche ‚Vermögen‘ (14,28–32; 16,19–31; 17,7–10) sowie etablierte Rangordnungen (Lk 14,7–11).

Auch für das Verständnis von Lk 15,11–32 ist der vorgeschaltete Dialog (Lk 15,1–3) grundlegend, weil durch diesen verdeutlicht wird, dass die nachfolgenden drei Gleichnisse an die Pharisäer und Schriftgelehrten adressiert sind. Gerade diese religiösen Autoritäten sind es, die permanent Anstoß an Jesu Zuwendung zur Gruppe der Sünder:innen und Zöllner:innen nehmen und seine Tisch- und Mahlgemeinschaft vehement ablehnen (Lk 5,32) und mit Polemik überziehen (vgl. auch Lk 7,34).

Lukas selbst erkennt in der Zuwendung Jesu hingegen den Kern der in Jesaja 61,1–2 verheißenen und mit Jesu Wirken gleichgesetzten Verkündigung des Evangeliums gegenüber Armen, Gefange­nen und Zerschlagenen (vgl. Jesu „Antrittspredigt“ in Lk 4,14–30). Der Evangelist illustriert auf eindrück­liche Weise, dass gerade Jesu bedingungsloser Vergebungszuspruch zur metánoia („Umkehr“) führt, die sich im spontanen Verlassen des bisherigen Lebensumfelds (so Levi), in selbstruinösen Wiedergutmachungsleistungen (so Zachäus) ober aber einer Rückkehr ins Vater-Sohn-Verhältnis (Lk 15,11–32) konkretisieren kann (zum Begriff sowie zur Funktion der Gleichnisse im NT vgl. ausführlich Erlemann 2009).

1.2 Erzählerische Stilmittel und ihr religionspädagogischer Mehrwert

Mit dem theologischen Reflexionsgrad der Gleichnisse und ihrer strategischen Platzierung korrespondiert bei Lukas zugleich eine typische Erzählweise, die sich für die religionspädagogische Arbeit und das Texterleben der Heranwachsenden produktiv nutzen lässt. Zu den bei Lukas wiederkehrenden und für das Verständnis unseres Gleichnisses relevanten Stilmitteln zählen
ein gezielter Aufbau von Empathie zur Identifikation und die Dreieckskonstellation der Figuren. Im Folgenden werden diese beiden Stilmittel näher betrachtet. Die sich anschließende Frage, ob solche literarischen Merkmale ein Indiz dafür sind, dass das Gleichnis aus der Feder des Lukas stammt (so z.B. Schottroff 1971) oder ob das Gleichnis gleichwohl auf den historischen Jesus zurückgeführt werden kann (so etwa Bovon 2001, 43–44; Niebuhr 1991, 487), bleibt hier ausgeklammert.

Empathie und Identifikation: Der Aufbau von Empathie zu den Figuren wird von Lukas bevorzugterweise durch die Verwendung innerer Monologe gefördert (vgl. Heininger 1991, 32–83; Merz 2007, 514). Besonders eindrücklich ist in dieser Hinsicht der Monolog des verlorenen Sohnes (Lk 15,17–19), der – am existenziellen Tiefpunkt seines Lebens angelangt – seine Rückkehr zum Vater und die (vermeintlich) notwendige Entschuldigung vorformuliert. Erzählwissenschaftlich betrachtet ist das Phänomen der Identifikation aber deutlich weiter zu fassen und schließt andere erzählerische Stilmittel ein (vgl. dazu ausführlich Finnern/Rüggemeier 2016, 249–252).

Dass Lukas sich auch diese Möglichkeiten zu Nutze macht, wird im exegetischen Diskurs mitunter übersehen, hat aber für die Deutung von Lk 15,11–32 Relevanz: Dem inneren Dialog des jüngeren Bruders entsprechen in funktionaler Hinsicht die beiden Gesprächsgänge zum Ende hin, d.h. das Gespräch zwischen dem älteren Bruder und einem Knecht (Lk 15,26–27) sowie der ungleich längere Dialog mit dem Vater (Lk 15,29–32). Die vergleichsweise Ausführlichkeit dieser Dialoge sorgt für ein starkes „Achtergewicht“ (Bultmann 91979, 207) des Gleichnisses. Das Augenmerk wird auf den älteren Bruder und seine Kritik am Vater gelenkt. Gerade in dieser Figur und ihrem Verhalten sollen sich die angesprochenen religiösen Autoritäten wiedererkennen. Seine Unfähigkeit zur Mitfreude an der Rückkehr des Bruders und sein Zorn gegen den Vater gleichen der Reaktion der Autoritäten, die angesichts von Jesu Vergebungszuspruch ärgerlich werden.

Um eine Identifizierung mit dem älteren Bruder zu erleichtern, ist die Erzählung zum Ende hin stark auf seine Person fokalisiert:

  • der ältere Bruder fungiert als „Wahrnehmungszentrum,“ d.h. dass sich die Leser:innen bzw. Zuhörer:innen mit ihm vom Feld nach Hause begeben (V.25).
  • die Rezipient:innen erhalten explizite Auskunft über den Standpunkt, die Sinneswahrnehmungen (hören, sehen), die Emotionen (zornig, nicht fröhlich) und die Motivation des älteren Bruders (er wollte nicht hineingehen)
  • der ältere Bruder erscheint im Kontrast zur feiernden Menge (innen – außen, fröhlich – nicht fröhlich, mitfreuen – zornig sein), wodurch seine Charakterisierung zusätzliche Aufmerksamkeit erhält.
  • der ältere Sohn spricht im Gespräch mit dem Vater vom jüngeren Bruder als „dieser dein Sohn“ (V. 30), was Distanz schafft und verdeutlicht, dass er der Wiederannahme des anderen Erben nicht zustimmt (vgl. auch hier den Kontrast in Lk 15,31–32: der Vater spricht vom Jüngeren als „dieser dein Bruder“).

Die verwendeten Stilmittel können innerhalb des religionspädagogischen Kontexts genutzt werden, um mit den Kindern und Jugendlichen über eigene Gefühle der Vernachlässigung und des unzureichend Geliebtwerdens in Austausch zu kommen. Eigene Geschwisterbeziehungen oder andere Erfahrungen der Benachteiligung (z.B. im Sportverein) könnten hierfür eine Grundlage sein.

Der Neid des älteren Bruders ist hierbei durchaus begründet: Während für den Bruder das teure Mastkalb geschlachtet wird, blieb für ihn nicht einmal ein Bock für eine bescheidene Feier mit seinen Freunden. Die Rückfrage der Jugendlichen, ob der ältere Bruder auch ein kostbares Kleid oder einen Siegelring erhalten habe, weisen in eine ganz ähnliche Richtung (vgl. Video „Einfach mal nachgefragt“, 2:41 – 4:50 Min.).

Die Logik des Gleichnisses ist es hingegen, dass die am jüngeren Sohn geübte Barmherzigkeit die vermeintliche Ungerechtigkeit aufhebt. Das offene Ende der Erzählung stellt die Zuhörer:innen bzw. Leser:innen vor die Wahl, welcher Handlungsmöglichkeit sie folgen wollen (so bereits Grundmann 1971, 315).

Dreieckskonstellation (Figurenebene): Der bisher beschrieben Konflikt manifestiert sich an der Beziehung zwischen dem einen Vater und den beiden Söhnen. Bereits in der Exposition des Gleichnisses werden diese drei Hauptcharaktere benannt und in ein hierarchisches Familienverhältnis gesetzt: „Ein Mensch hatte zwei Söhne“ (Lk 15,11).

Auch diese Dreieckskonstellation ist typisch für die lukanische Erzählweise und bildet im dritten Evangelium das Grundgerüst etlicher Gleichnisse. So stoßen wir im Verlauf des Evangeliums auf zwei Schuldner und einen Gläubiger (Lk 7,41–42), zwei Arten von Gästen und ihren Gastgeber (Lk 14,7–11.12–14.16–24), zwei Söhne und ihren Vater (Lk 15,11–32), einen Reichen und einen Armen bei Abraham (Lk 16,19–31), einen Knecht mit zwei unterschiedlichen Herren (Lk 17,7–10) und einen frommen Pharisäer und einen unfrommen Zöllner:innen vor Gott (Lk 18,9–14). Allerdings darf man dieses Schema der Figurendarstellung nicht zu statisch anwenden (vgl. Theißen/Merz 2001, 298–300). Es lassen sich über den Erzählverlauf durchaus Dynamiken innerhalb der Figurenkonstellation erkennen und weitere Figuren können auftreten. Wichtig ist bei der Analyse zugleich, dass nach einem kognitiven Figurenverständnis nicht nur explizit genannte Figuren berücksichtigt werden, sondern auch solche, die von den Rezipient:innen aufgrund des Erzählten zwangsläufig vorauszusetzen sind (z.B. Gott in Lk 18,9–14). Außerdem fügt der Rezipient Figuren mit ähnlichen Merkmalen (z.B. Priester und Levit in Lk 10,25–37) zu Figurengruppen zusammen.

Die Hauptfunktion der Dreieckskonstellation ist es, zwei Figuren in ihrem Verhältnis zu einem gemeinsamen Gegenüber zu kontrastieren. Die Besonderheit des Gleichnisses vom verlorenen Sohn ist es, dass sich der Kontrast zwischen den beiden Brüdern erst allmählich über den Erzähl­verlauf hinweg entwickelt.

Folgen wir dem Handlungsverlauf des Gleichnisses so fällt im Hinblick auf die erste Szene auf, dass gar kein Grund für den Fortgang des jüngeren Sohnes genannt wird. Diese Leerstelle eröffnet zweifellos Interpretationsspielräume (ähnlich bereits Bultmann 91979, 205). Die intendierten Leser:innen kannten vermutlich die Möglichkeit zur vorzeitigen Auszahlung des Erbes als rechtlich legitime Form (5. Mose 21,17; vgl. Schottroff 22007, 179). Ein entsprechendes Vorgehen galt trotzdem als Affront gegen den Vater oder sogar als Treuebruch gegenüber der Familie (Sir 33,20–24).

Vor dem Hintergrund eines angedeuteten Familienkonflikts lassen sich die Interpretationen der Heranwachsenden gewinnbringend mit der Erzählung und ihrer Deutung ins Gespräch bringen. Die zu erwartende Annahme der Jugendlichen, dass der Sohn im Streit mit dem Vater bzw. mit dem Bruder oder der Familie geht, erscheint alles andere als abwegig.

Eine besondere Drastik erhält der Vater-Sohn-Konflikt in den nachfolgenden Szenen, die auf das (gestörte) Verhältnis des jüngeren Sohnes zum Vater fokussiert bleiben. Durch den inneren Dialog wird erkenntlich, wie wenig der Sohn letztlich von seinem Vater erwartet. Er befürchtet, dass er vor diesem nicht mehr als Sohn angenommen wird (Lk 15,21). Damit versteht auch der jüngere Sohn selbst sein Vergehen nicht in rechtlichen oder moralischen Kategorien. Im Mittelpunkt seiner Gedanken steht tatsächlich die Schädigung der Vater-Sohn-Beziehung.

Zur sozialen bzw. familiären Verfehlung des Sohnes kommt gleichwohl eine religiöse hinzu. Der Sohn hat nach eigener Ansicht auch „gegen den Himmel“ gesündigt. Letzteres ist damit zu erklären, dass sich der Sohn in der Ferne einem „Bürger jenes Landes“ (Lk 15,15) anhängt und durch den Umgang mit Schweinen – d.h. aus Perspektive der Pharisäer und Schriftgelehrten mit unreinen Tieren (vgl. 3. Mose 11,7; 5. Mose 14,8; 1 Makk 1,47; Bava Qama 82b,16 u.ö.; diff. Apg 10,9–15) – gegen das Gesetz Gottes verstößt. Hieran wird nochmals deutlich, dass das von Lukas wieder­gegebene Gleichnis auf die Pharisäer und Schriftgelehrten abzielt. Denn während das soziale Verhalten des Sohnes durchaus auch mit der lukanischen Ethik unvereinbar bleibt, gilt dies hinsichtlich der prinzipiellen Unreinheit von Speisen gerade nicht. Die Aufhebung der Speise- und Reinheitsvorschriften bildet gerade eine wichtige Grundlage für die erfolgreiche Heidenmission (Apg 10,10–16; vgl. Mk 7,18–19.; Röm 14,17; 1Kor 10,25; Kol 2,16.21; Heb 9,10 u. ö.).

Nun könnte man wohl verstehen, wenn der Protest des älteren Bruders auf die Entehrung des Vaters abzielte und die bedingungslose Vergebung sowie die überschwängliche Freude des Vaters und die Wiedereinsetzung des jüngeren Sohnes zum vollgültigen Erben (s.u.) von ihm kritisiert würde. Tatsächlich begründet der ältere Bruder seinen Protest aber mit dem (Gefühl des) eigenen Zurückgesetztsein(s). Bezeichnend für den Blickwinkel des Älteren ist zugleich, dass er das Vergehen des jüngeren Bruders einer Neuinterpretation unterzieht. Erst in seiner Phantasie hat der Bruder das Geld mit Huren verprasst (gegen Grundmann 1971, 312). In seinen Augen hat der Bruder (auch) eine moralische Verfehlung begangen. Diese erzählerische Feinheit könnte mit den Jugendlichen durch einen direkten Textvergleich zwischen Lk 15,13 und 15,30 erschlossen werden. Dass im Zuge von (Geschwister)Konflikten Ereignisse different wahrgenommen und beurteilt werden, dürfte den Heranwachsenden aufgrund eigener Erfahrungen vertraut sein.

2. Exegese für die Kinder und Jugendlichen

2.1 Ungewöhnliche Helden

Eine boxende Witwe (Lk 18,1–5), ein barmherziger Samariter (Lk 10,33–35), ein unmoralisch agierender Verwalter (Lk 16,1–8) und ein – im doppelten Wortsinn – „bewegter“ Patriarch sind einige der ungewöhnlichen Helden, die uns Lukas in seinen Gleichnissen präsentiert. Man kann den Erzählungen hierbei kaum einen gewissen Sinn für Humor absprechen. Zumindest wirkt das Verhalten der genannten Protagonisten aus Sicht der historischen bzw. intendierten Rezipient:innen überraschend und steht im starken Widerspruch zur textextern begründeten Erwartungshaltung an diese Personen.

Lukas geht es – auf der Basis seiner theologischen Positionierung – durchaus um eine bewusste Relativierung vorhandener Stereotype. Während die Ausgrenzung einzelner Personen oder ganzer Bevölkerungsgruppen auf der Nivellierung individueller Merkmale und einem starken Gruppen­labeling fußt („Sünder:innen und Zöllner:innen“), entziehen sich die Figuren der lukanischen Gleichnisse solcher Rollenzuschreibungen. So bedient der jüngere Sohn zunächst zwar das antike Klischee des verschwenderischen und liederlichen Sohnes (5. Mose 21,18-21; Spr 23,19–21; 28,7; vgl. ferner Aischines, Tim. 31.42-44.47; Äsop, fabulae 169; Seneca, epist. 99,13), aber mündet gerade nicht in der Klage, sondern in der überraschenden Annahme und Wiederaufnahme durch den Vater. Dieser spielerische Umgang mit Personenvorstellungen kann Gelegenheit bieten, um auch über heutige Stereotypen und (einseitige) Vaterbilder ins Gespräch zu kommen.

2.2 Sozialgeschichtliche Implikationen: Ring, Gewand, Schuhe und ein laufender Patriarch

Die Herausforderung im Umgang mit lukanischen Gleichnistexten besteht jedoch darin, dass die Ungewöhnlichkeit der Held:innen und ihres Verhaltens erst durch eine Kenntnis der historischen und sozialgeschichtlichen Verhältnisse hervorsticht. Ein entsprechendes Wissen kann im Zuge der Textlektüre und -beschäftigung durch die Religionspädagog:innen eingespielt werden.

Nehmen wir die realen Fragen von Schüler:innen zur Grundlage, scheint es sinnvoll, den Fokus auf die Verse 20 und 22 zu richten:

  • Lk 15,20: Der Vater „war voller Mitleid mit ihm, lief und fiel ihm um den Hals“: Das Mitleid, das der Vater bereits beim bloßen Anblick des heimkommenden Sohnes empfindet, lässt ihn ins Laufen geraten, bevor er überhaupt um das Bekenntnis des Sohnes wissen kann (von Bendemann 2001, 332). Die hierin zum Ausdruck kommende Vergebung des Vaters ist als voraussetzungslos zu qualifizieren (mit Landmesser 2002). Erst die Vergebung des Vaters ermöglicht eine Rückkehr aus dem Tod ins Leben wie durch den doppelten Parallelismus in V. 24 herausgestellt wird (anders Erlemann / Nickel-Bacon / Loose 2014, 66: „gegenseitiges Suchen und Finden“). Das im Zusammenhang der Rückkehr beschriebene Verhalten des Vaters erscheint auch sonst ungewöhnlich. In der Antike ziemte es sich für einen Patriarchen weder seine Emotionen öffentlich zu zeigen, noch anderen Menschen ehrerbietend entgegenzulaufen (vgl. bereits Bengel 1850, 311). Das Verhalten erklärt sich aufgrund eines festen Motivinventars der antiken Heimkehrgeschichte (vgl. 1. Mose 33,4; 45,14–15; 46,29; Tob 7,6; 11,9; Jub 31,6–7; Apg 20,37; vgl. Homer, Odysee 16,14–21). Das Laufen und „um den Hals fallen“ sind hierbei Ausdruck für die große Freude, die Menschen angesichts eines unverhofften Wiedersehens empfinden. In eine ganz ähnliche Richtung weist dann auch das Fest, dass der Vater zu Ehren des Heimgekehrten ausrichten lässt und das er ausdrücklich mit den Worten „lasst uns essen und fröhlich sei“ (V. 23b) eröffnet. Solche Freude ist der angemessene Ausdruck für die wiederhergestellte Beziehung zwischen Vater und Sohn bzw. dann eben auch – im übertragenen Sinn – für die wiederhergestellte Beziehung zwischen Gott und Sünder. Denn wenngleich „der Vater nicht Gott [ist], sondern ein irdischer Vater; […] schimmert in einigen Wendungen durch, dass er in seiner Liebe Abbild Gottes ist“ (Jeremias 1965, 128). Angesichts dieser Pointe könnte das Gleichnis folglich auch den Titel „vom liebenden Vater“ tragen, wie im Anschluss an Jeremias häufig in der Exegese vorgeschlagen wird (a.a.O. 86).
  • Das Motiv der Freude verbindet alle drei Gleichnisse in Lk 15 miteinander (Lk 15,5.6.7; 15,9.10; 15,23), wobei Lukas die Betonung der Freude derart wichtig ist, dass er kleinere Inkohärenzen in Kauf nimmt. Während man dem Vater oder der Frau ihre Freude abnimmt, wirkt die Erwähnung und Mitfreude von Freunden und Nachbarn in Lk 15,6 aufgesetzt und passt kaum zur vorherigen Szenerie eines Hirten in der Wüste.
  • Lk 15,22: „Bringt das beste Gewand und zieht es ihm an! Und gebt ihm einen Ring an die Hand und Schuhe für die Füße“: Während die Tora für den widerspenstigen Sohn im schlimmsten Fall die Steinigung vorgesehen hätte (5. Mose 21,18–21), erhält die lukanische Erzählung eine weitere Zuspitzung dadurch, dass der Vater den Sohn wieder zum Erben einsetzt. Er erhält damit ebenjenen Status, der ihm rechtlich betrachtet durch die erfolgte Auszahlung des Erbes und seinen Fortgang (unwiederbringlich) verloren gegangen war. Entsprechend redet der Vater in den nach­folgenden Gesprächsgängen ausdrücklich von „meinem Sohn“ (V. 24) bzw. – gegenüber dem älteren Sohn – von „deinem Bruder“ (V. 32).

Mit dem Ring erhält der Sohn die Insignien der Familie zurück und gilt als vom Vater Bevollmächtigter. Man fühlt sich u.a. an Josef erinnert, der vom Pharao ebenfalls einen Ring erhält und über das Land Ägypten eingesetzt wird (1. Mose 41,42; vgl. 1Makk 6,15). In ähnlicher Weise impliziert das lukanische Gleichnis, dass der Sohn ab sofort wieder den Vater rechtlich vertreten kann.

Das Ehrengewand und die Schuhe entsprechen diesem Status und zeichnen den Sohn  vor den Tagelöhnern und Knechten aus. Aufgrund der Barmherzigkeit des Vaters nimmt die Erzählung einen anderen Verlauf, als es der Sohn befürchtet hatte und als es die intendierten Leser:innen des Evangeliums bzw. die intradiegetischen Erzähladressat:innen – d.h. Pharisäer und Schriftgelehrte (vgl. Lk 15,2) – erwarten konnten.

3. Vertiefungen exegetischer Aktualisierungspotenziale

3.1 Feministische Perspektive

„Ein Mensch hatte zwei Söhne […].“ (Lk 15,11). Durch die Einleitung des Gleichnisses und die Vorstellung der Hauptfiguren werden die anderen Nebenfiguren von Anfang an marginalisiert. Auch im weiteren Erzählverlauf dienen diese – wie der Schweinebauer oder Knecht – nur dem Fortgang der Handlung oder bleiben – wie die Familienangehörigen und Feiergäste – reine Randfiguren. Das Fehlen weiblicher Verwandter, v.a. der Mutter, muss aus Sicht heutiger Kinder und Teenager befremdlich wirken.

Im Sinne einer feministischen Kritik kann ein Bewusstsein für die patriarchalen Strukturen geschaffen werden, denen das Gleichnis und andere biblische Erzählungen unterliegen. Eine (1) kompositionskritische und (2) diachrone Perspektive auf das lukanische Gleichniskapitel (Lk 15) können diesen Blick zusätzlich schärfen:

(1) Kompositionskritischer Perspektive: Kompositorisch überstrahlt das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das zum lukanischen Sondergut zählt (vgl. Hoegen-Rohls 2006, 108; Bovon 2001, 44), die beiden vorangehenden Gleichnisse. Die Erzählung vom verlorenen Sohn und seinem Bruder ist ungleich länger als die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und von der verlorenen Drachme. Zugleich erscheint der Sohn ungleich wertvoller: „Vergleicht man die drei Gleichnisse, steigt [nämlich auch] das Verhältnis des Vermissten zum Gesamtvermögen streng monoton an: Macht das Schaf ein Prozent der Herde aus und die Drachme zehn Prozent des Geldbesitzes, steht der eine verlorene Sohn schon für die halbe Nachkommenschaft.“ (Inselmann 2012, 310) Der Wert des männlichen Erben und die Freude über seine Rückkehr überstrahlt mithin die Freude der Frau und des Hirten. Schaf und Drachme sind wirtschaftliche Werte, auf die sich im worst case verzichten lässt.

(2) Überlieferungsgeschichtliche Perspektive: Sollte das Gleichnis von der Freude der Frau der überlieferungsgeschichtlich älteste Kern der lukanischen Komposition sein, wofür sich gute Argumente vorbringen lassen (Inselmann 2012, 317–318), wäre auch auf diachroner Ebene von einer bewussten Marginalisierung der einzig weiblichen Identifikationsfigur zu sprechen. Während der Hirte aufgrund einer ausgeprägten alttestamentlich-frühjüdischen Metaphorik mit Gott identifiziert werden kann und sich der Vergleich auch beim Vater nahelegt (mit Wolter 2008, 529), sorgt der redaktionell hinzugefügte Erzählerkommentar in V. 10 dafür, dass die Freude der Frau lediglich mit der Freude der Engel verglichen wird. Offensichtlich soll die Frau auf der Ebene des Endtextes gerade nicht (mehr) mit Gott verglichen werden. Die in der Forschungsliteratur häufig anzutreffende These, dass Lukas der „Evangelist der Frauen“ (Schnackenburg 1993, 225) sei, gilt es vor diesem Eindruck kritisch zu rezipieren.

3.2 Migrationsperspektive

Flucht und Migration sind im Zuge aktueller geopolitischer Entwicklungen sowie der Klimakrise und ihrer Auswirkungen zu einem markanten Zeitzeichen unserer Gesellschaft geworden. Dieser übergeordnete Gesellschaftstrend findet seinen Widerhall in Schule und Gemeinde und wirkt sich auf die Zusammensetzung von Jugendgruppen aus. Laut des Statistischen Bundesamtes lag der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund 2022 unter den 10–15jährigen bei 38,2% und bei den 5–10jährigen bei knapp 40%. Diese Migrationsrealität bildet notwendigerweise den Resonanzraum für eine heutige Thematisierung des Gleichnisses.

Die direkte oder indirekte Migrationserfahrung der Jugendlichen steht in deutlicher Spannung zur erzählten Welt des Gleichnisses.

Obwohl der Fortgang des Sohnes vom Erzähler weder moralisch noch rechtlich disqualifiziert wird, erscheint der Aufenthalt in der Ferne in einem durchgängig negativen Licht. Durch die religiöse Stereotypisierung (Schweine = unreine Tiere) und eine deutlich negative Charakterisierung des einheimischen Bauern werden die religiösen und moralischen Differenzen in den Vordergrund gerückt. Die hereinbrechende Hungersnot bleibt auf jenes Land, in dem sich der Sohn aufhält, begrenzt. Ihre Folgen treffen den Fremdling ungleich härter als den heimischen Bürger, der seine Schweine weiterhin zu füttern vermag und keinen Hunger leidet. Dass sich der Sohn an ebenjenen Bürger „bindet“ (kolláō), kann zudem im Kontrast dazu gelesen werden, dass sich ein Jude an den Gott Israels binden soll (vgl. 5. Mose 10,20; 2. Kön 1,18c; 3,3; 18,6; Ps 63,9). Der Sohn verliert durch die Bindung seine eigene religiöse Identität – wie einst König Salomo als er sich an fremde Frauen und damit zugleich an fremde Götter hängte (1Kön 11,1–5).

Im Unterschied zu damaligen und heutigen Migrant:innen, die ihre Heimat nicht selten unfreiwillig verlassen, bleibt der Sohn des Gleichnisses jedoch selbst am existentiellen Tiefpunkt und trotz seiner Bindung an einen Fremden handlungsmächtig. Er ist keine tragische Gestalt. Seine Rückkehr zum Vater geschieht unter dem Vorzeichen der eigenen Lebensabsicherung, unter der (vermeintlichen) Bedingung des Schuldgeständnisses sowie unter der Aussicht fortan als Tagelöhner leben zu müssen. Trotzdem bleibt dem „Sohn“ eine entsprechende Handlungsoption und er zieht sie auch dem Verbleib in der Fremde vor. Erst durch die rückblickende Perspektive des Vaters erscheint das Leben des Sohnes in der Fremde – sprachlich zugespitzt – als eine Existenz im Raum des Todes (Lk 15,24). Die Fremde wird hierdurch mit seinem Verlorensein assoziiert, während die Heimkehr zum Vater als eine kontrastreiche Rückkehr ins Leben erscheint. Der Sohn, der in der Fremde hungerte (Lk 15,14.16), sitzt nun am reichgedeckten Tisch des Vaters und ist eingeladen, mit ihm zu essen (Lk 15,23: „Lasst uns essen…“).

Die skizzierten Spannungen zwischen Gleichnis und heutigem Migrationserleben lassen sich im religionspädagogischen Kontext sicherlich nicht auflösen, sollten aber im Vorfeld bewusst wahrgenommen werden. Im Idealfall lassen sie sich produktiv nutzen. Hierbei können auch die überaus vielfältigen Erscheinungsformen von Migration und Mobilität in Antike und Gegenwart erarbeitet und mit den jeweils verbundenen religiösen Aspekten in den Blick genommen werden (vgl. für die Antike u.a. de Ligt / Tacoma 2016; Bendlin 2016).

III. Hinweise für die Praxis

1. Entwürfe und Material

2. Filme

Literaturverzeichnis

Religionspädagogische Reflexion

Bambey, Andrea / Gumbinger, Hans-Walter: Neue Väter? Rollenmodelle zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie 24, Frankfurt a.M. 2017.

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Kasten, Hartmut: Geschwister. Vorbilder, Rivalen, Vertraute, München 2020.

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Exegetische Reflexion

Bendlin, Andreas, Migration und Religion im antiken Rom, https://migration.hypotheses.org/775

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Wolter, Michael, Das Lukasevangelium, Handbuch zum Neuen Testament 5, Tübingen 2008.

Verwandte Bibelstellen

Lukas 15.11 - Lukas 15.32
die-Bibel.dev.4.19.0
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