Erster Clemensbrief
(erstellt: September 2015)
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1. Name
Der 1. Clemensbrief gehört zu den ältesten literarischen Zeugnissen des frühen Christentums außerhalb des → Neuen Testaments
Nach dem Präskript wendet sich „die Versammlung (ἐκκλησία /
ekklēsía) Gottes, die in Rom in der Fremde wohnt“, mit dem Schreiben an „die Versammlung Gottes, die in → Korinth
Der 1. Clemensbrief wird seit dem 17. Jh. zur Gruppe der „→ Apostolischen Väter
2. Handschriftliche Überlieferung und Bezeugung
Bis heute sind sechs antike bzw. mittelalterliche Handschriften bekannt, welche den Text, z.T. lückenhaft oder fragmentarisch, überliefern:
Der griechische Text findet sich im → Codex Alexandrinus
Die erste sichere Bezugnahme in der frühchristlichen Literatur stellt ein bei Euseb (Kirchengeschichte 4,23,11) zitiertes Schreiben des Bischofs → Dionysius
Eine literarische Beziehung - jedoch ohne wörtliche Zitate und ausdrückliche Erwähnung - des (zweiten) Briefes des → Polykarp
3. Datierung, Verfasser und Adressaten
Aus den genannten Bezugnahmen ergibt sich, dass der Text mit hoher Wahrscheinlichkeit vor der zweiten Hälfte des 2. Jh.s n. Chr. verfasst wurde.
Schwieriger ist die Bestimmung des Zeitpunkts, nach dem 1Clem entstanden sein muss. 47,1 u.a. weisen auf eine Bekanntschaft mit dem → 1. Korintherbrief
Unsicherer ist, ob 1Clem kanonische Evangelien verwendet hat. 36,2-5 zeigt deutliche Übereinstimmungen mit Hebr 1,3-5.7-13
Die in 1,1 (vgl. 7,1) erwähnten „Unglücke und Erfahrungen“ wurden wiederholt, aber wohl zu Unrecht, als Christenverfolgungen verstanden. Die Wendung unterstützt jedenfalls nicht die von Euseb (Kirchengeschichte 3,16) vorgenommene Datierung in die Zeit → Domitians
Im Brief spricht stets ein „Wir“, eine einzelne Verfasserpersönlichkeit tritt nicht hervor. Doch wirkt der Text stilistisch so einheitlich, dass man annehmen darf, er stamme von einer Hand. Eine direkte Begründung der eigenen Autorität als Ratgeber erfolgt nicht. Die Textgestalt weist auf einen mit der Bibel in griechischer Sprache vertrauten, stilistisch durchaus geschulten und rhetorisch begabten Verfasser hin.
Das → Gebet
Adressaten sind die Mitglieder der Gemeinde in → Korinth
4. Gattung und Textpragmatik
Einleitung und Schluss des Textes (vgl. auch 63,2) lassen keinen Zweifel daran, dass es sich um einen – wenn auch nach antikem Maßstab ungewöhnlich langen – Brief, genauer: ein Gemeindeschreiben, handelt. Vermutungen, 1Clem habe eine literarische Funktion oder sei ein Traktat in Form eines Kunstbriefes, haben gegenüber der Annahme der Echtheit keinen Bestand.
Bisweilen nahm man an, der Text gebe mit den von ihm benutzten Begriffen νουθέτησις / nouthétēsis („Ermahnung“, 56,2), συμβουλή / symboulē („Ratschlag“, 58,2) und ἔντευξις / énteuxis („Bitte, Bittschrift“, 63,2) selbst Hinweise auf seine Form und Gattung. Aber die Wörter sind in ihrem Kontext nicht als Gattungsbegriffe verwendet, sondern geben Zweck oder Inhalt des Schreibens an. Stilistisch, rhetorisch und pragmatisch stehen die Ausführungen von 1Clem der beratenden Rede (γένος συμβουλευτικόν / genos symbouleutikón) nahe.
Die Veranlassung des Schreibens, Vorgänge in der christlichen Gemeinde in Korinth, wird schon in Kap. 1 angesprochen und mit dem Stichwort „Aufstand“ (στάσις /
stásis) bezeichnet. 3,3 deutet an, dass sich einige Gemeindeglieder gegen die → Presbyter
Die Absicht des Schreibens geht jedoch über die Besprechung des Gemeindekonflikts deutlich hinaus. Wie die Zusammenfassung in Kap. 62 bestätigt, ist eine umfassende Darstellung wichtiger Aspekte der rechten Gottesverehrung und des tugendhaften Lebens angestrebt; die in 62,1 verwendeten Adverbien εὐσεβῶς / eusebōs („fromm“) und δικαίως / dikaíōs („gerecht“) wird auf weit verbreitetes antikes Tugendwissen um zwei grundsätzliche Tugenden angespielt.
Das Schreiben wird mit zwei Gesandten der römischen Gemeinde, Claudius Ephebus und Valerius Bito, nach Korinth gebracht; es wird darum gebeten, diese sowie einen gewissen Fortunatus möglichst bald mit guten Nachrichten nach Rom zurückzuschicken (65).
5. Struktur
Ein klares Bild von der Struktur des umfangreichen und thematisch vielfältigen Textes zu gewinnen, ist nicht einfach. Deutlich hebt sich die → briefliche Rahmung
Innerhalb des Briefcorpus ist mit dem Rückblick in 40,1 ein deutlicher Einschnitt markiert, so dass man einen ersten und einen zweiten Teil des Textes unterscheiden kann (Kap. 39 bildet eine Überleitung). In 59,3-61,3 hebt sich ein langes Gebet von seinem Kontext ab, dessen Charakter sich deutlich vom brieflichen Abschlussgebet in Kap. 64 unterscheidet.
Weitere Struktursignale sind besonders die regelmäßig wiederkehrenden doxologischen Formeln mit Amen und damit verbundene Formulierungen, die einen Abschluss oder einen Neueinsatz im Argumentationsgang markieren, daneben die zahlreichen direkten Anreden an die Adressaten. Die Beispielreihen und -kataloge zu Eifersucht und Neid (4,1-6,4), → Umkehr
6. Theologisches Profil
Die in 62,2 gegebene Zusammenfassung nennt mit „Glaube“, „Umkehr“, „Liebe“, „Enthaltsamkeit“, „Besonnenheit“, „Beharrlichkeit“, „Gerechtigkeit“, „Wahrhaftigkeit“, „Geduld“, „Frieden“ und „Milde“, daneben (verbal) auch „Eintracht“ und „Demut“, wichtige thematische Stichwörter des Briefes und praktische Tugenden, die in dem aktuellen Konflikt bewährt werden sollen. Besonders die Verbindung von „Eintracht und Frieden“ (63,2; vgl. 20,10f; 61,1) wurde als Leitmotiv des 1Clem mit politischen Konnotationen und Parallelen in griechischer Philosophie identifiziert. Das praktische Ziel, die Wiederherstellung der Ordnung in Korinth, wird verbunden mit dem Konzept der Erziehung (παιδεία / paideía) durch Gott bzw. Christus (56); in 21,8 ist dies ausdrücklich auf Kinder bezogen. Neben den praktischen Tugenden sind auch die Weisungen Gottes (1,3; 2,8; 3,4) oder Christi (13,2; 49,1) Maßstäbe rechten Handelns.
Den theologischen Rahmen der Argumentation bildet die Überzeugung von einer auf Gott, den Schöpfer, zurückzuführenden guten und gerechten kosmischen Ordnung. Zu ihr gehört auch die Auferstehung der Toten (24-26). Dieser Orientierung an der Schöpfungsordnung entspricht die Häufigkeit der → Gottesbezeichnungen
Dem gegenüber treten die Rede von Christus und dem → Heiligen Geist
Häufigster christologischer Titel neben dem fast als Beinamen gebrauchten χριστός / christós („→ Gesalbter
Worte Jesu werden als → Gebote
Das rettende Wirken Christi, verstanden als Leiden (2,1) und stellvertretende Lebenshingabe (49,6), wird an sein Blut geknüpft (12,7; 21,6) und ermöglicht die Umkehr (7,4). Seine Auferstehung wird als „Angeld“ der Totenauferstehung bezeichnet (24,1). Die Mittlerrolle Christi ist auch in den → Doxologien
Der heilige Geist wird im 1. Clemensbrief vor allem in seiner hermeneutischen Funktion erwähnt: Die → heiligen Schriften
Das Wirken Gottes, des Sohnes und des Geistes sind aufeinander bezogen und miteinander verknüpft. Es begegnen trinitarische Formeln (46,6; 58,2), aber keine ausgeführte Konzeption von der Dreifaltigkeit Gottes.
Das sich im Text aussprechende Selbstverständnis der Gemeinde ist bestimmt durch die Gedanken der Geschwisterschaft (2,4 sowie die Anrede „Brüder“), der Erwählung (29,1; 30,1; 58,2) und einer begrenzten Zahl von Erwählten (2,4; 58,2). Dabei wird der Volk-Gottes-Gedanke aufgenommen (59,4; 64), die Patriarchen sind „unsere Väter“ (60,4; 4,8: → Jakob
Dennoch ist 1Clem kein Zeuge eines frühchristlichen Gleichheitsideals: Auffallend sind besonders die - an den Mann gerichteten! – Ausführungen zur Rolle der Frau in 1,3 und 21,6-7.
Die eschatologische Hoffnung umfasst die Auferstehung der Toten (24,1) und die Wiederkunft Christi bzw. seine königliche Herrschaft (23,5; 50,3).
7. Intertextuelle Bezüge und Traditionen
Zur Frage nach der Verwendung neutestamentlicher Texte im 1. Clemensbrief siehe oben. Bemerkenswert sind besonders die Aufnahme und Veränderung der paulinischen Sprache der Rechtfertigung in 30,3 und 32,4 sowie die Bezugnahme auf Jesus-Worte in der Tradition der → Bergpredigt
Die zahlreichen biblischen (alttestamentlichen) Zitate – sie machen ein gutes Viertel des Textes vom 1. Clemensbrief aus! - folgenden überwiegend der Textform der Septuaginta. Es begegnen Einzelzitate unterschiedlicher Länge, Mischzitate und Zitatenreihen. Am häufigsten werden die → Psalmen
Neben wörtlichen Zitaten begegnen zahlreiche Anspielungen und Anlehnungen an biblische und weitere antik-jüdische Schriften. Beachtlich ist die Nähe vom 1. Clemensbrief zu Wortschatz und Motivik im Werk → Philos von Alexandrien
Nur in wenigen Fällen ist direkter Einfluss paganer Traditionen wahrscheinlich – Zitate begegnen nicht –, dies gilt für das (vielleicht römischer Literatur der Zeit verdankte) Beispiel des Vogels Phönix (25,1-5), die Rede von den Welten „jenseits des Ozeans“ (20,8) oder das Motiv der Selbsthingabe von Herrschern zugunsten ihres Volkes (55,1).
8. Wirkung und Rezeption
Der Erste Clemensbrief ist ein in der Geschichte des Christentums oft gelesener und wirkungsvoller Text. Dass er überwiegend keine kanonische Geltung erlangt hat, dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass er keine apostolische Verfasserschaft behauptet.
Der Text ist ein wichtiges Zeugnis des Lebens und der Organisation frühchristlicher Gemeinden und das älteste literarische Monument römischen Christentums. Er gibt einen ausführlichen Einblick in das moralische und theologische Denken im frühen Christentum. In ihm, und nicht schon in den neutestamentlichen Schriften, sind die Anfänge von Tugendlehre, Erziehungsdenken und Gotteslehre im Christentum erst richtig zu greifen. Auch die Auffassung von der → Gottesebenbildlichkeit des Menschen
Das lange Gebet in 1Clem 59,3-61,3, besonders die sog. clementinischen Fürbitten in 59,4, haben deutliche Spuren in der liturgischen Tradition der Kirche hinterlassen. In 61,1-2 hat sich das erste christliche Beispiel ausformulierter Fürbitten für die Herrschenden erhalten. Darüber hinaus bezeugt der 1. Clememsbrief erstmals in christlicher Literatur eine feste Form der christologisch vermittelten → Doxologie
Dadurch, dass die frühkirchliche Überlieferung ab dem 2. Jh. den 1. Clemensbrief mit der Gestalt des Clemens von Rom verband, war der Ausgangspunkt für die sich entwickelnde Tradition über den römischen Bischof geschaffen. Dabei konnte jedoch 1Clem auch - wie in den Pseudo-Clementinen - übergangen werden. Das Eingreifen der römischen Gemeinde in die Angelegenheiten der Korinther arbeitete dem Primatsanspruch der römischen Kirche und seiner Repräsentanten vor, ohne selbst einen solchen Anspruch zu erheben.
Literaturverzeichnis
1. Textausgaben und Übersetzungen
1.1. Einzelausgaben
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- Schneider, G., 1994, Clemens von Rom. Epistola ad Corinthios. Brief an die Korinther (FC 15), Freiburg i. Br. u. a.
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- Fischer, J.A., 2007, Die Apostolischen Väter (SUC 1), Darmstadt, 1-107
- Holmes, M.W., 2007, The Apostolic Fathers. Greek Texts and English Translations, Grand Rapids, 3. Aufl., 33-131
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2. Kommentare
- Lightfoot, J.B., 1973, The Apostolic Fathers. Part I. S. Clement of Rome, 2 Bände, Hildesheim / New York [Nachruck der Ausgabe London 1890]
- Lindemann, A., 1992, Die Clemensbriefe (HNT 17 Die Apostolischen Väter I), Tübingen
- Lona, H.E., 1998, Der erste Clemensbrief (KAV 2), Göttingen
3. Monographien und Aufsätze
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- Beyschlag, K., 1966, Clemens Romanus und der Frühkatholizismus. Untersuchungen zu I Clemens 1-7 (BHTh 35), Tübingen
- Erlemann, K., 1998, Die Datierung des ersten Klemensbriefes - Anfragen an eine communis opinio (NTS 44), 591-607
- Hagner, D., 1973, The Use of the Old and New Testaments in Clement of Rome (NT.S 34), Leiden
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- Knoch, O.B., 1993, Im Namen des Petrus und Paulus: Der Brief des Clemens Romanus und die Eigenart des römischen Christentums, ANRW II 27 / 1, 3-54
- Knopf, R., 1899, Der erste Clemensbrief untersucht und herausgegeben (TU 20 [N.F. 5 / 1]), Leipzig
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- Löhr, H., 2003, Studien zum frühchristlichen und frühjüdischen Gebet. Untersuchungen zu 1Clem 59 bis 61 in seinem literarischen, historischen und theologischen Kontext (WUNT 160), Tübingen
- Schmitt, T., 2013, Des Kaisers Inszenierung. Mythologie und neronische Christenverfolgung, ZAC 16, 487-515
- Schmitt, T., 2002, Paroikie und Oikoumene. Sozial- und mentalitätsgeschichtliche Untersuchungen zum 1. Clemensbrief (BZNW 110), Berlin / New York
- van Unnik, W.C., 2004, Studies on the So-Called First Epistle of Clement. The Literary Genre, in: C. Breytenbach / L.L. Welborn (Hgg.), Encounters with Hellenism. Studies on the First Letter of Clement (AGJU 53), Leiden / Boston, 115-181 (Englische Übersetzung von L.L. Welborn der auf Niederländisch veröffentlichten monographischen Ausgabe Amsterdam 1970)
- Welborn, L.L., 2004, The Preface to 1 Clement: The Rhetorical Situation and the Traditional Date, in: C. Breytenbach / ders. (Hgg.), Encounters with Hellenism. Studies on the First Letter of Clement (AGJU 53), Leiden / Boston,197-216
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