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Brief des Lentulus

(erstellt: Dezember 2018)

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1. Einleitungsfragen

Der Brief des Lentulus ist ein in mehrfacher Hinsicht irreführendes Schreiben: Der vermutlich um die Wende des 13. / 14. Jahrhunderts im Okzident (Italien?) verfasste Text bedient sich in den meisten Handschriften der Autorität eines Lentulus, angeblich Prokonsul in Judäa zu Zeiten der Herrschaft des → Tiberius (14-37 n. Chr.), um sich damit in die Zeit Jesu rückzudatieren. Es handelt sich dabei um einen besonderen Fall von → Pseudepigraphie, da der fiktive Autor tatsächlich niemals existiert hat. Bezeugt ist das Schreiben erstmals in einer Form, die gattungsspezifisch gar kein → Brief ist, in der um 1350 von dem Kartäusermönch Ludolf von Sachsen verfassten Vita Christi sowie diversen anderen Manuskripten (→ Bibeltext / Textkritik) des 14.-15. Jahrhunderts (a). Spätere Handschriften des 15.-16. Jahrhunderts, die Ernst von Dobschütz in weitere drei Gruppen aufteilt, überliefern den Text in Briefform (b, c, d). Die Form der Gruppe (a), die sich als Auszug aus den römischen Annalen präsentiert, wurde vermutlich in humanistischen Milieus in die Briefform transformiert. Am weitesten verbreitet ist Textform (c), die sich in die Zeit → Oktavians datiert wissen möchte; in der Forschung am stärksten rezipiert ist jedoch die auf Tiberius verweisende und damit für eine Zeitzeugenschaft Jesu plausibler rückdatierte Textform (d), die im Präskript damit einleitet, dass „ein gewisser Lentulus“ sein Schreiben an den römischen Senat richtete (scripsit senatui Romano). Wesentlich unterscheiden sich die Handschriftengruppen allerdings nur im Präskript und (Brief-)Schluss, während das Korpus „merkwürdig wenig“ Differenzen aufweist (v. Dobschütz).

Inhaltlich skizziert der Brief das äußere Erscheinungsbild Jesu und wurde vermutlich mit dem Ziel verfasst, die Verehrung der menschlichen Gestalt Christi in monastischen Kreisen zu fördern.

2. Authentizität

Die Echtheit des Lentulusbriefes wurde bereits 1440 von dem italienischen Humanisten Lorenzo Valla erstmals in Frage gestellt und wird von neuzeitlichen Forschern mit breitem Konsens abgelehnt. Obwohl der Text wahrscheinlich eine späte mittelalterliche Komposition ist, kann er als christliches → Apokryphon bezeichnet werden.

Es gibt mehrere plausible Gründe, die gegen die Authentizität des Lentulusbriefes als Brief eines Prokonsuls aus der Zeit Jesu oder auch nur als Zeitzeugenbericht über Jesu Gestalt sprechen: Erstens sind keine Handschriften bekannt, die den Text vor dem 13. Jahrhundert belegen, zweitens ist die Briefform offenbar bereits eine sekundäre Transformation des ursprünglichen Textes. Gegen die Autorenschaft eines Publius Lentulus spricht nicht nur, dass ein solcher in der vorgegebenen Funktion im angeblichen Zeitraum nicht bekannt ist (das wäre vielmehr Valerius Gratus gewesen), sondern auch, dass ein Prokonsul sich eher nicht an den Senat, sondern direkt an den → Caesar gewandt hätte. Zudem hätte sich ein römischer Schreiber kaum alttestamentlich-jüdischer Begriffe wie „→ Prophet der Wahrheit“ und „→ Menschensöhne“ bedient und die Bezeichnung Jesu als „→ Jesus Christus“ erscheint für einen Zeitzeugen ohnehin recht früh. Warum allerdings ausgerechnet Lentulus als fiktiver Autor gewählt wurde, ist völlig unklar.

Der dritte und ausschlaggebende Grund, der den Lentulusbrief – gleich welcher Fassung – als spätmittelalterliches Schreiben enttarnt, ist seine sprachliche wie inhaltliche Gestalt: Sein durchgehender Partizipialstil ist typisch für die Spätlatinität, nicht aber für das klassische Griechisch oder Latein, und auch sonst sind im Text keine Anzeichen einer sprachlich älteren Vorlage vorhanden.

Ferner weist das Bild, das der Lentulusbrief von Jesus zeichnet, kunstgeschichtlich deutliche Spuren des Spätmittelalters und der Renaissance auf (s.u.).

3. Briefinhalt

Das nur ca. 160 Worte umfassende Briefkorpus befasst sich ausschließlich mit der Persönlichkeit sowie vor allem dem Aussehen Jesu; ein Thema, das in den → Evangelien keine Rolle spielt und vom Briefautor zeitgenössisch adaptiert wird. Jesus wird zunächst vorgestellt als ein noch lebender, tugendhafter Mann (homo magnae virtutis), der von den Heiden als Prophet der Wahrheit und von seinen Jüngern (→ Jüngerschaft) als Sohn Gottes bezeichnet werde, und dessen Name Jesus Christus sei. Ferner wird erwähnt, dass er Tote auferwecke und alle Arten von Krankheiten heile.

Auf diese Kurzcharakterisierung folgt eine ausführliche Beschreibung von Jesu äußerer Gestalt, die ein der Renaissancekunst entsprechendes idealtypisches Bild zeichnet: Jesus ist mittelgroß, hat eine stattliche Figur und ehrwürdige Haltung, sodass wer ihn sieht, ihn automatisch liebt oder fürchtet. Sein Haar wird als haselnussbraun und etwa schulterlang beschrieben; es ist zur Hälfte glatt, ab Höhe der Ohren dann lockig, etwas dunkler und glänzender. Jesus trägt einen Mittelscheitel „gemäß dem Brauch der Nazarener“ – in dieser Aussage spiegelt sich vermutlich schon die Bezeichnung, die im 17. Jahrhundert in Rom als alla nazarena geläufig wurde und zur Beschreibung einer langen, in der Mitte gescheitelten Haartracht diente. Stirn, Nase und Mund werden als makellos dargestellt und das Gesicht Jesu als faltenfrei und durch eine gesunde Röte verschönert beschrieben. Ähnlich detailliert wie das Haupthaar wird auch Jesu Bart geschildert: Dem Lentulusbrief zufolge trägt Jesus einen Vollbart in derselben Farbe wie seine Kopfhaare, nicht lang, am Kinn zweigeteilt. Auch hier gibt wieder die Frisur einen Hinweis auf den zeitgeschichtlichen Kontext des Briefes, denn die zweigeteilte Bartfrisur war eine im 16. Jahrhundert von Cosimo I. de’Medici geprägte Mode, die sich auch in der zeitgenössischen Kunst, vor allem bei der Darstellung biblischer Figuren, widerspiegelt. Weiterhin wird Jesu Ausdruck als schlicht und reif skizziert und seine Augen als blaugrau, lebhaft und klar bestimmt. Die blauen Augen, die zunächst nicht mit den Jesusdarstellungen des Spätmittelalters und der Renaissance übereingehen, lassen sich womöglich mit der Assoziation der Farbe Blau als Farbe des Himmels, des Königlichen und Göttlichen erklären. Ein antikes Vorbild für blauäugige Götter findet sich in Cicero, De natura deorum I, 83: Hier werden die Augen der → Minerva als „blaugrau“ und die des → Neptun als „himmelblau“ bezeichnet.

Es folgt ein kurzer Abschnitt, der wieder auf Jesu Wesensart eingeht: Im Tadel sei er furchterregend, sanft und liebenswert im Ermahnen; er habe ein heiteres Gemüt, bewahre aber stets seine Würde. Dazu passt auch die folgende Aussage, er werde niemals lachend, wohl aber gelegentlich weinend gesehen (vgl. Lk 19,41; Joh 11,35). Zwar schildern auch die Evangelien Jesus nie explizit als „lachend“, es ist aber vor allem für die Zeit des Mittelalters typisch, Jesus nicht lachend bzw. mit geöffnetem Mund oder sichtbaren Zähnen darzustellen.

Abschließend wird Jesu Statur als wohlgeformt und aufrecht beschrieben sowie seine Hände und Arme als „angenehm anzusehen“. Der Lentulusbrief schließt mit der Feststellung, dass Jesus in seiner Redeweise ernst, zurückhaltend und bescheiden sei und schließlich zurecht gemäß dem Propheten „der schönste unter den → Menschensöhnen“ genannt werde (vgl. Ps 45,3).

4. Christologische Implikationen

Während die frühen Kirchenväter Christus tendenziell unter Bezugnahme auf Jes 52,14-53,3 in den Zügen des leidenden → Gottesknechtes, d.h. körperlich hässlich und damit unter soteriologischer Perspektive als den von den Sünden der Menschheit Geschlagenen darstellten (z.B. Irenäus, Adv. Haer., III, 19), ist Christus nach Ausweis des Lentulusbriefes ein betont schöner Mann. Dabei erscheint er allerdings zugleich nicht als göttlicher Erlöser in seiner ganzen Herrlichkeit, wie wir es etwa bei Hieronymus finden (vgl. Comm. in Mat. IV, 3 zu Mt 21,12-17), sondern der Lentulusbrief positioniert sich mit seinem Jesusbild gewissermaßen zwischen zwei Extremen: dem Bild des hässlichen Gottesknechtes und dem des von Glanz und Glorie umgebenen himmlischen Retters.

Mit der Betonung der Menschlichkeit, Männlichkeit und inneren wie äußeren Schönheit Christi greift der Lentulusbrief gewissermaßen eine Leerstelle in den Evangelien auf und sucht sie produktiv zu füllen. Während es nach Ausweis der neutestamentlichen Schriften allein Jesu Worte und Taten sind, die es zu erinnern und überliefern gilt, reagiert der Lentulusbrief auf die Sehnsucht der Menschen seiner Zeit, deren Frömmigkeit sehr von visueller und haptischer Erfahrbarkeit geprägt war, und bietet ihnen eine Idealbeschreibung eines auch äußerlich schönen, verehrungswürdigen Mannes. Christologisch steht hier nicht der leidende Gottesknecht im Vordergrund, sondern vielmehr Jesu richterliche Strenge, zugleich aber auch → Barmherzigkeit und Milde, die sich in seinem Wesen und Äußeren spiegeln.

Für diese Art der Darstellung gibt es Vorläufer im 6.-13. Jahrhundert, die Jesus ebenfalls als stattlichen Mann mit schönen Augen, langer Nase und schwarzem, lockigem Haar illustrieren (so in einem an Kaiser Theophilus adressierten Synodenbrief aus dem Jahr 836; vgl. auch Nikephoros Kallistos, Eccl. Hist. I,40). Auffällig ist, dass viele dieser Jesusbeschreibungen auf dessen optische Ähnlichkeit mit seiner Mutter hinweisen (so z.B. o.g. Synodenbrief in Bezug auf ihre „weizenfarbene“ Haut), was sich vermutlich damit begründen lässt, dass allein → Maria menschliche Merkmale an Jesus vererbt haben kann. Keine dieser Beschreibungen hat jedoch jemals die Bekanntheit des Lentulusbriefes erreicht.

5. Rezeption und Wirkungsgeschichte

Der Lentulusbrief wurde schon im 14. / 15. Jahrhundert in viele Volkssprachen (v.a. ins Französische, Englische und Deutsche) übersetzt und ab 1507 vielfach gedruckt (z.B. Magdeburger Zenturien I, 1, 1559).

Er wurde insbesondere in zahlreichen Mystikerhandschriften tradiert – oft als Ergänzung auf freien Seiten oder gar Buchrücken – so z.B. im Liber gratiae spiritualis der Zisterzienserin Mechthild von Hackeborn. Für die Popularität des Lentulusbriefes ist wesentlich auch Ludolf von Sachsens Vita Christi verantwortlich, die zu den meistgelesenen Erbauungsbüchern des Mittelalters zählt. Durch seine Verbreitung in monastischen Milieus hat der Text bis ins 19. Jahrhundert prägenden Einfluss auf das Jesusbild vor allem in eben diesen Kreisen gehabt.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 1877-1888, 2. Aufl., Leipzig
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 1993-2001, 3. Aufl., Freiburg i.Br.
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 1998-2005, 4. Aufl., Tübingen

2. Weitere Literatur

  • Backus, I., 2005, Lettre de Lentulus, in: P. Geoltrain / J.D. Kaestli (Hgg.), Écrits apocryphes chrétiens (Bibliothèque de la Pléiade), Paris, 1123-1129
  • Von Dobschütz, E., 1899, Christusbilder. Untersuchungen zur christlichen Legende (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 18), Leipzig
  • Gregory, A., 2015, Non-Canonical Epistles and Related Literature, in: A. Gregory / Ch. Tuckett (Hgg.), The Oxford Handbook of Early Christian Apocrypha, London, 90-113
  • Herkommer, H., 2007, Die Schönheit des Gottessohnes und der Gottesmutter. Historische Betrachtungen zur Ästhetik des Heiligen, in: E. Hornung / A. Schweizer (Hgg.), Schönheit und Maß. Beiträge der Eranos-Tagungen 2005 und 2006, Basel, 67-69
  • Pérès, J.N., 2000, Untersuchungen im Zusammenhang mit der sogenannten „Epistula Lentuli“, Apocrypha 11, 59-75

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