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Wirkungsgeschichte

(erstellt: September 2007)

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1. Die wirkungsgeschichtliche Fragestellung bei Hans-Georg Gadamer

1.1. Die hermeneutische Situation

Der Begriff der Wirkungsgeschichte nimmt in Gadamers philosophischer Hermeneutik bzw. „hermeneutischer Philosophie“ (Körtner, 16) eine zentrale Stellung ein. In „Wahrheit und Methode“ geht der Heidelberger Philosoph 1960 davon aus, dass jedes Verstehen in eine hermeneutische Situation eingebettet ist, die dadurch charakterisiert ist, dass „man sich nicht ihr gegenüber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann“ (Gadamer 1960, 285). Die sich daraus ergebende Aufgabe, den eigenen hermeneutischen Horizont zu erhellen, ist nie ganz zu vollenden. Aufgrund der Situationsgebundenheit des Verstehens ist ein historisches Verstehen, wie es der historische Objektivismus anstrebt, unmöglich: Denn die Verstehenden stehen immer schon in der Wirkungsgeschichte dessen, was sie verstehen wollen – und es gibt keine Methode, die sie dazu befähigt, diese Wirkungsgeschichte zu transzendieren und das Vergangene unmittelbar zu betrachten.

1.2. Der historische Horizont und der Gegenwartshorizont

Gleichwohl ist der Entwurf des historischen Horizonts als „Phasenmoment“ (Gadamer 1960, 290) des Verstehens unabdingbar. Denn zum einen ist es „eine beständige Aufgabe, die voreilige Angleichung der Vergangenheit an die eigenen Sinnerwartungen zu hemmen“, weil man nur dann „die Überlieferung so hören [wird], wie sie sich in ihrem eigenen anderen Sinne hörbar zu machen vermag“ (Gadamer 1960, 289). Zum anderen gehört auch zum Horizont der Gegenwart „die Begegnung mit der Vergangenheit und das Verstehen der Überlieferung, aus der wir kommen.“ Ja, der Horizont der Gegenwart bildet sich „gar nicht ohne die Vergangenheit“ (Gadamer 1960, 289).

Auf der anderen Seite ist auch der historische Horizont nicht ohne den Gegenwartshorizont möglich, weil „ein wahrhaft historisches Bewußtsein“ (Gadamer 1960, 289) die eigene Gegenwart immer mitdenkt. Zudem gewinnt ein historischer Text erst dann Relevanz, wenn er im Gegenwartshorizont rezipiert wird: Ein rein historisch verstandener Text würde aus dem „Anspruch, Wahres zu sagen, förmlich herausgedrängt“ (Gadamer 1960, 287), wenn es der Verstehende aufgibt, „in der Überlieferung für einen selber gültige und verständliche Wahrheit zu finden“ (Gadamer 1960, 287).

1.3. Verstehen als Horizontverschmelzung

Verstehen ist „immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte“ (Gadamer 1960, 289), wobei der eigene „Verstehenshorizont der Gegenwart“ den historischen Horizont einholt (Gadamer 1960, 290). In diesem, das Gegenwärtige wie die „Geschichtstiefe unseres Selbstbewußtseins“ umfassenden Horizont gibt es trotz der „unaufhebbare[n] Differenz zwischen dem Interpreten und dem Urheber“ keinen „gähnende[n] Abgrund“ (Gadamer 1960, 280) – weil der geschichtliche Abstand stets ausgefüllt ist „durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt“ (Gadamer 1960, 281). In diesen Horizont „wandern“ wir hinein, und er wandert mit uns mit (Gadamer 1960, 288).

1.4. Verstehen als Auslegung und Anwendung

In „Wahrheit und Methode“ plädiert Gadamer dafür, die philosophische Hermeneutik um Elemente der juristischen und theologischen Hermeneutik zu bereichern – insbesondere um die Einsicht, dass Verstehen immer schon Auslegung ist, und dass auch die Anwendung als „integrierender Bestandteil des hermeneutischen Vorgangs“ (Gadamer 1960, 291) nicht aus der Hermeneutik hinausgedrängt werden darf.

2. Die Rezeption der wirkungsgeschichtlichen Fragestellung Gadamers

Die wirkungsgeschichtliche Hermeneutik Gadamers wurde kontrovers diskutiert. Vor allem warf man Gadamer vor, er verfestige durch die Rehabilitierung des geschichtlichen Bewusstseins als Vorverständnis und „Vorurteil“ (Gadamer 1960, 250ff.) die Autorität der Tradition und entwickle weder ein kritisches Bewusstsein noch eine emanzipatorische Kraft. Diese Kritik wird von Ulrich H.J. Körtner mit dem Verweis auf die Debatte um die „Hermeneutik des Verdachts“ zurückgewiesen – denn diese habe gezeigt, dass sich Hermeneutik und Ideologiekritik keineswegs ausschließen müssen (vgl. Körtner, 17).

Indem Gadamer mit seiner These von der wesenhaften Geschichtlichkeit jedes Verstehens die Rezeption in den Mittelpunkt der Hermeneutik rückt, wird er zum Wegbereiter für spätere wirkungs- und rezeptionsgeschichtliche bzw. wirkungs- und rezeptionsästhetische Theorien (Harald Weinrich, Hans-Robert Jauss, Wolfgang Iser u.a.). Gadamers Schlussfolgerung, dass „ein Text nur verstanden wird, wenn er jeweils anders verstanden wird“ (Gadamer 1960, 292), nimmt die rezeptionsästhetische These von der vielfältigen Interpretierbarkeit und Sinnoffenheit von Texten vorweg (→ Rezeptionsästhetik).

3. Wirkungsgeschichtliche Fragestellungen in der Bibelwissenschaft

Auch die theologische Hermeneutik, die zum Teil in engem Kontakt mit der philosophischen oder literarischen Hermeneutik steht (vgl. z.B. Ulrich H.J. Körtner, Klaas Huizing), wurde von der wirkungsgeschichtlichen Fragestellung Gadamers nachhaltig beeinflusst.

Für eine wirkungsgeschichtlich orientierte biblische Hermeneutik schlägt der Neutestamentler Ulrich Luz sechs programmatische Schwerpunkte vor: 1. Das Bewusstmachen des Lebenszusammenhangs zwischen „Text und Ausleger“; 2. Das Herausstellen der vielfältigen Sinnpotentiale von Texten in ihrer Rezeptionsgeschichte, woraus sich eine Affinität zur → Rezeptionsästhetik ergibt; 3. Die Sensibilisierung der protestantischen Exegese für die hermeneutische Bedeutung der Tradition in ökumenischer Perspektive; 4. Die Öffnung für Interpretationen in nichtsprachlichen Medien und damit für eine transdisziplinäre Hermeneutik; 5. Die Erschließung der Bibel als kultureller Grundtext; 6. Die Öffnung des Blicks für eine „Hermeneutik der Folgen“ (Dorothee Sölle), bei der die biblischen Texte (bzw. deren Auslegungen) nicht von ihren Wirkungen getrennt, sondern auf ihre Folgen befragt werden (Luz, 1601).

Nicht selten wird der Begriff „Wirkungsgeschichte“ in den Bibelwissenschaften und in der Kirchengeschichte allgemein und nahezu synonym mit den Begriffen „Rezeptions- oder Auslegungsgeschichte“ für die Darstellung der Wirkung und Rezeption biblischer Motive, Traditionen und Texte benutzt. Eine besondere Stellung nimmt dabei innerhalb der Bibelwissenschaft die „zweifache Nachgeschichte“ (Rolf Rendtorff) der Hebräischen Bibel bzw. des Alten Testaments in Judentum und Christentum ein.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971-2007
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007

2. Weitere Literatur

  • Gadamer, H.-G., 1960, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen
  • Gadamer, H.-G., 1985ff., Gesammelte Werke, Tübingen
  • Huizing, K., 2000ff. Ästhetische Theologie, 3 Bde., Stuttgart
  • Iser, W., 1972, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München
  • Jauß, H.R., 1982, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M.
  • Körtner, U.H.J., 2006, Einführung in die theologische Hermeneutik, Darmstadt (Lit.!)
  • Luz, U., 2005, Art. Wirkungsgeschichte / Rezeptionsgeschichte. III 2. Neutestamentliche Wissenschaft, in: RGG 8, 4. Aufl., Tübingen, 1600-1601
  • Rösel, M., 2005, Art. Wirkungsgeschichte / Rezeptionsgeschichte. III 1. Alttestamentliche Wissenschaft, in: RGG 8, 4. Aufl., Tübingen, 1598-1600

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