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(erstellt: Januar 2009)

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1. Der deutsche Sprachgebrauch

1.1. Die deutsche Gegenwartssprache

Das Wort „Wucher“ hat im gegenwärtigen Deutsch an sich eine negative Bedeutung. Die Wörterbücher definieren es z.B. als „Verleihen oder Vermieten von Geld oder Waren zu einem unverhältnismäßig hohen Zins“ (Bertelsmann Wörterbuch). Dabei kann hinzugefügt werden: „indem die Notlage, Unerfahrenheit od. der Leichtsinn des anderen ausgenützt wird“ (Wahrig) oder „unter bewusster und rücksichtsloser Ausnutzung einer Zwangslage des Partners“ (Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache). „Wucher“ wird damit per definitionem von → „Zins“ als einer neutralen Bezeichnung unterschieden. Wucher ist „unverhältnismäßig hoher Zins“. Diese semantische Differenzierung zwischen „Wucher“ und „Zins“ hat sich erst in der Moderne herausgebildet. „Wucher“ heißt von seiner althochdeutschen Wurzel her (mit „wachsen“ verwandt) einfach „Ertrag, Frucht, Gewinn“, während „Zins“ vom lateinischen census („Schätzung, Steuer“) übernommen ist. Noch Luther verwendet in der Übersetzung letzter Hand von 1545 ausschließlich das Wort „Wucher“ für alle Phänomene, die wir modern in „Wucher“ und „Zins“ differenzieren.

1.2. Die Problematik des gegenwartssprachlichen Gebrauchs

Durch die Differenzierung in der deutschen Gegenwartssprache wird zwischen einem Zins, der als „verhältnismäßig“ oder „angemessen“ angesehen wird, und einem Zins, der als „unverhältnismäßig“ oder „unangemessen hoch“ gilt, unterschieden. Das wirft zum einen die Frage auf, wer die Unterscheidung festlegt. In konkreten Fällen können das Gerichte, die über Streitfälle entscheiden, oder Aufsichtsbehörden, die Genehmigungen aussprechen, sein. Diese orientieren sich wiederum am Markt, auf dessen Zinsniveau ihrerseits die Notenbanken durch Festlegung eines Leitzinses Einfluss nehmen. „Verhältnismäßigkeit“ von Zinsen bezieht sich dann auf die Marktüblichkeit als Maßstab. Ob dagegen Zinsen in Bezug auf die Zahlungsfähigkeit eines Schuldners „verhältnismäßig“ sind, spielt keinerlei Rolle.

Damit ist das zweite Problem schon angedeutet, das sich bei der Übersetzung biblischer Texte – oder auch der Revision der Luther-Bibel –, die die gegenwartssprachliche Differenzierung nicht kennen, stellt. Wenn diese Texte „Zins“ oder – in der Sprache Luthers – „Wucher“ kritisch sehen, meinen sie in der Tat jede Art von Zins, nicht nur den „unverhältnismäßig hohen“. Durch die Wiedergabe mit „Wucher“ kann der Eindruck erweckt werden, die entsprechenden Texte würden nur den Wucher im Sinne des unangemessenen Zinses kritisieren, hätten aber ansonsten nichts gegen Zinsen. Das entspricht jedoch nicht dem biblischen Befund.

1.3. Aktuelle Bibelübersetzungen

Die modernen Bibelübersetzungen sind sehr viel sparsamer mit dem Wort „Wucher“, als es Luther war, eben weil sie anders als Luther auch das Wort „Zins“ verwenden. In der Luther-Revision von 1984 steht „Wucher“ nur noch in Ex 22,24; Jer 15,10; Ps 109,11; Neh 5,7. So heißt das Zinsverbot von Dtn 23,20 bei Luther 1545: „Du solt an deinem Bruder nicht wuchern / weder mit geld noch mit speise / noch mit allem da mit man wuchern kan.“ Daraus wird 1984: „Du sollst von deinem Bruder nicht Zinsen nehmen, weder für Geld noch für Speise noch für alles, wofür man Zinsen nehmen kann“. Auf diese Weise wird der gegenwartssprachlich falsche Eindruck vermieden, Dtn 23,20 verbiete nur Wucher, nicht aber jegliche Form von Zinsen. Dennoch behalten moderne Übersetzungen das Wort „Wucher“ an einzelnen Stellen bei, weil es den gesellschaftskritischen Unterton der Originaltexte besser trifft als das rein technisch klingende „Zins“. Etwas großzügiger als die Luther-Revision 1984 mit ihren vier Stellen, die Gute Nachricht mit zwei (Ex 22,24; Jes 3,12) und die Zürcher Bibel 2007 mit drei Stellen (Ex 22,24; Spr 28,8; Neh 5,7) sind die Menge-Bibel mit elf und die Bibel in gerechter Sprache mit zehn Belegen für „Wucher“.

Dabei steht „Wucher“ für mindestens vier verschiedene hebräische Vokabeln, und zwar in der Regel dann, wenn im Hebräischen Doppelbegriffe verwendet werden. So heißt es in Ex 22,24, wo alle verglichenen Übersetzungen das Wort „Wucherer“ haben: „Wenn du Geld leihst … dem Elenden bei dir, sollst du ihm nicht wie ein nošæh sein. Ihr sollt ihm keinen Zins auflegen“. Die Wurzel nšh, deren Partizip in den modernen Übersetzungen mit „Wucherer“ eingedeutscht wird, heißt freilich ganz neutral „Gläubiger“. So gibt die Luther-Bibel 1545 und 1984 dasselbe Wort in 2Kön 4,1 mit „Schuldherr“ wieder, die Bibel in gerechter Sprache mit „Gläubiger“ und die Zürcher Bibel 2007 mit „Geldverleiher“. Natürlich steht Ex 22,24 dem Gläubiger-Sein ablehnend gegenüber, was bei dem deutschen Wort „Wucherer“ sofort ins Auge springt. Aber die Stelle lehnt eben nicht nur Wucherzinsen ab, sondern jeglichen Zins. Das wiederum kann durch die Verwendung des Wortes „Wucherer“ eher verschleiert werden.

Im Übrigen verwenden die Menge-Bibel und die Bibel in gerechter Sprache das Wort „Wucher“ bei dem hebräischen Doppelausdruck næšækh wətarbît (Lev 25,36; Ez 18,17; Ez 22,12) bzw. marbît (Lev 25,37), wobei einer der beiden Ausdrücke mit „Zins“ und der andere mit „Wucher“ wiedergegeben wird (welcher womit wiedergegeben wird, wechselt). Der hebräische Doppelausdruck meint freilich nicht die moderne Differenzierung zwischen verhältnismäßigem und unverhältnismäßigem Zins, sondern verschiedene Techniken der Zinserhebung (→ Zins / Zinsverbot).

2. Der Sprachgebrauch der Hebräischen Bibel

Aus allem bisher Ausgeführten geht hervor, dass die Differenzierung in zwei Wörterbuch-Artikel „Wucher“ und „Zins / Zinsverbot“ vom gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch her sinnvoll und notwendig ist. Gleichwohl spiegelt sie nicht den Sachverhalt der Hebräischen Bibel wider. Die ausgefeilte Terminologie des Hebräischen auf dem Feld des Kreditwesens kennt viele Differenzierungen, aber eben nicht die zwischen angemessenen und unverhältnismäßig hohen Zinsen. Selbst ein Zins von 5% per Monat, d.h. 60% per annum, wie er in einem jüdischen Kreditvertrag aus → Elephantine aus dem Jahr 456 v. Chr. belegt ist (deutsch in TUAT.NF 1, Gütersloh 2004, 265f), gilt nicht als anstößig. Wenn Texte des Alten Testaments Vorgänge der Kreditvergabe mit den Begleiterscheinungen der Zinsforderung, der Pfandnahme und der (gewaltsamen) Vollstreckung kritisieren, dann nicht, weil sie ökonomische Kriterien von Angemessenheit und Unangemessenheit anlegen, sondern weil sie die sozialen Folgen in den Blick nehmen. Das oben schon angedeutete Beispiel von 2Kön 4,1-7 kann zeigen, was damit gemeint ist. Da wird erzählt, dass ein Gläubiger nach dem Tod des verschuldeten Familienvaters kommt, um die Söhne der Witwe als Schuldsklaven zu nehmen. Es ist dem Text völlig gleichgültig, ob der Gläubiger ein „Wucherer“ ist, der unangemessen hohe Zinsen verlangt, oder ob er sein Darlehen zinslos gegeben hat. Indem er seine – von allen anerkannte – Schuld durch Zugriff auf die Söhne vollstreckt, zerstört er die Familie. Dies, und nicht ein gar nicht erwähnter „Wucher“, ist der Grund für das Wunder wirkende Eingreifen des Gottesmannes → Elisa, das das Unglück in diesem Fall verhindert.

Literaturverzeichnis

  • Kessler, Rainer, 2009, Das hebräische Schuldenwesen. Terminologie und Metaphorik, in: ders., Studien zur Sozialgeschichte Israels (SBAB 46), Stuttgart, 31-45

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