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Versöhnung (AT)

(erstellt: März 2015)

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Sühne; → Gnade

1. Hinführung

Nach traditionellem exegetischem Verständnis ist der Begriff „Versöhnung“ kein direktes Äquivalent eines speziellen hebräischen Wortes. Er umfasst zwar Belege der Wurzel כִּפֶּר kippær „sühnen“, ist konzeptionell aber weiter zu verstehen. Deshalb ergeben sich in sachlicher Hinsicht Probleme bei der Abgrenzung des damit Gemeinten.

Grundsätzlich zielt der Begriff „Versöhnung“ auf die Überwindung einer Kluft zwischen zwei Parteien. Da sich eine solche Kluft einerseits in zwischenmenschlichen Beziehungen, andererseits in der Beziehung Gott-Mensch manifestieren kann, bezeichnet „Versöhnung“ entweder ein Geschehen auf horizontaler oder auf vertikaler Ebene. Das Alte Testament enthält Erzählungen, Rechtssammlungen und das Kultrecht, die jeweils die Überwindung von Beziehungsklüften in der einen oder anderen Dimension thematisieren.

2. „Versöhnung“ in deutschen Übersetzungen

Der Begriff „versöhnen / Versöhnung“ kommt in der Lutherübersetzung (1984) des Alten Testaments (ohne Apokryphen) konkret nur sechsmal vor (Gen 32,21; Lev 23,27; Lev 23,28; Lev 25,9; Num 5,8; Spr 16,14). Vier dieser Belege stehen im Zusammenhang mit kultischen Ritualen; so werden der „Versöhnungstag“ in Lev 23,27; Lev 23,28; Lev 25,9 und der „Widder der Versöhnung“ in Num 5,8 erwähnt. Hier geht es folglich unmittelbar um rituelle Begehungen, die der Versöhnung in vertikaler Dimension dienen. Zwei weitere Belege beschreiben Vorgänge auf horizontaler Ebene: In Gen 32,21 sendet Jakob prophylaktisch eine Viehherde für seinen Bruder Esau vor sich her, denn er „will ihn versöhnen (Einheitsübersetzung: „beschwichtigen“) mit dem Geschenk“; Spr 16,14 zufolge versteht es ein weiser Mensch, den unheilvollen Grimm des Königs zu „versöhnen“ (Einheitsübersetzung: „besänftigen“).

Da diese Belege sämtlich unter das Stichwort → „Sühne“ (Wurzel כפר kpr) fallen, bedeutet das für einen Artikel zum Stichwort „Versöhnung“ im Alten Testament, dass auch Kontexte ohne spezifische Terminologie zu berücksichtigen sind, insofern diese konzeptionell von Versöhnung handeln.

3. Das Konzept „Versöhnung“

3.1. Erzählungen

Versöhnung kommt im Alten Testament in Erzählungen, Rechtssammlungen und im Kultrecht vor. In Erzählungen ist in der Regel brüderlicher Zwist der Grund für den Zusammenbruch zwischenmenschlicher Beziehungen. Eine diesbezüglich paradigmatische Erzählung ist die → Josefsnovelle (Gen 37-50), in der Josef als Opfer des Neides seiner Brüder in die Sklaverei verkauft wird. Die Geschichte kulminiert nach dem Aufstieg Josefs zum obersten Verwalter Ägyptens: Als seine Brüder vor ihm erscheinen, um Getreide zu kaufen, ersinnt er eine List. In dieser Situation manifestieren sich „die wesentlichen Bedingungen aller Versöhnung: Versöhnlichkeit, d.h. Verzicht auf Rache oder Strafe auf Seiten dessen, dem ein Unrecht geschah, Einsicht in das verübte Unrecht und Bewährung (...) auf Seiten der Schuldigen“ (Schenker 2003, 16). Nach Jakobs Tod kommt es schließlich zu einer weiteren Szene der endgültigen Versöhnung zwischen Josef und seinen Brüdern (Gen 50,15-21).

Versöhnung auf horizontaler Ebene ist in Erzählungen des Alten Testaments allerdings auch dort greifbar, wo es in Bemühungen um soziale Gerechtigkeit letztlich um die langfristige Aussöhnung verschiedener Bevölkerungsschichten geht. Versöhnung überschneidet sich dann mit – bzw. wird ein Anliegen von – prophetischer → Sozialkritik. So kritisiert der Prophet → Elia König → Ahab, weil der einen Justizmord begeht, um sich das Grundstück eines Bauern anzueignen (1Kön 21; → Nabot), und → Zefanja thematisiert primär den exzessiven Reichtum und damit einhergehendes Verhalten spezieller Jerusalemer Bevölkerungskreise (Zef 1,8-13). → Jeremia verknüpft beide Aspekte, wenn er einerseits beklagt, dass die „Großen“ das Recht missachten (Jer 5,1-5; vgl. Lundbom, 376-379), und andererseits König → Jojakim und seiner Führungsriege vorhält: „Schafft Recht und Gerechtigkeit und errettet den Bedrückten von der Hand des Frevlers; bedrängt nicht die Fremdlinge, Waisen und Witwen, tut niemandem Gewalt an und vergießt nicht unschuldiges Blut an dieser Stätte“ (Jer 22,3). Als Anwalt der Ärmsten in der Gesellschaft profilieren sich ebenfalls die Propheten → Amos (Am 2,6-8; Am 4,1-3; Am 5,11 u.ö.) und → Ezechiel (Ez 18,6 u.ö.).

3.2. Rechtssammlungen

Von Versöhnung lässt sich mit Blick auf Rechtssammlungen des Alten Testaments insofern sprechen, als diesen an Normen gelegen ist, welche Konfliktparteien im Falle von Vergehen verschiedenster Art die Rückkehr zu friedlichen Verhältnissen ermöglichen (→ „Friede“; שָׁלוֹם šālôm), um das Zusammenleben in diversen sozialen Konfigurationen (Familie, Dorf, Stadt, Volk) zu gewährleisten (→ Recht). Solche Normen können z.B. als Satzung (חֹק ḥoq bzw. חֻקָּה ḥuqqāh), Rechtssatz (מִשְׁפָּט mišpāṭ), Gebot (מִצְוָה miṣwāh) oder Weisung bzw. Belehrung (‏תּוֹרָה‎ tôrāh) ergehen. Erwartungsgemäß zielen auch diese Vorschriften u.a. auf soziale Gerechtigkeit; nicht zuletzt im → Bundesbuch (Ex 21,1-23,33) manifestiert sich Israels Identifikation mit den Benachteiligten aufgrund des Selbstverständnisses, einmal der ägyptischen Sklaverei entronnen zu sein (vgl. Ex 22,20; Lev 19,34; → Fremder).

Allerdings haben auch Rechtssammlungen eine vertikale Dimension. Stifter und Garant des Rechts bleibt JHWH, der Gott Israels. Jede Störung auf horizontaler Ebene ist folglich theologisch zu reflektieren, was im Kultrecht geschieht.

3.3. Kultrecht

Israels Gott ist ein heiliger Gott (Ps 71,22; Ps 89,19; Ps 99,9 usw.). Deshalb ergeht die programmatische Forderung an das Bundesvolk: „Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, JHWH, euer Gott“ (Lev 19,2). Allerdings stehen diesem Anspruch nach priesterlich-levitischem Verständnis einerseits die allgemeine menschliche Verfallenheit unter die Sünde sowie andererseits die Unvermeidlichkeit von Verunreinigung entgegen (→ Reinheit). (Der Umstand, dass nach alttestamentlicher Vorstellung auch Objekte unrein sein können, mag in den hier angestellten Überlegungen zum Stichwort „Versöhnung“ vernachlässigt werden.) Das Kultrecht des Alten Testaments schreibt dafür diverse Reinigungs- und Sühnerituale vor (→ Sühne), nämlich Waschungen und kultische Opfer. Speziell Sünd- und Schuldopfer ermöglichen Vergebung (Lev 4-5), da Tierblut als Sitz des Lebens Sünde und Unreinheit zu reinigen vermag (Eberhart, 204-207). Dort, wo sich solches Kultrecht verabsolutiert und nicht mehr als Komplement zur Forderung nach zwischenmenschlicher Versöhnung begreift, wird die → Kultkritik der Propheten und in den Psalmen laut (Jes 1,10-15; Am 5,21-24; Ps 40,7; Ps 51,18 usw.).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1933-1979
  • Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007

2. Weitere Literatur

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