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(erstellt: September 2012)

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1. Einleitung

Es gibt Bereiche der Wirklichkeit, die ein Mensch meiden sollte, weil sie ihm physischen oder metaphysischen Schaden zufügen können. Darum finden sich im Alten Testament – wie in vielen anderen Religionen und Kulturen – Anweisungen, die die Israeliten vor der Gefahr einer Verunreinigung oder einer Begegnung mit einem übermächtigen Phänomen des Heiligen schützen sollen. Der Kontakt mit unreinen Gegenständen, Lebewesen oder Handlungen wird ihnen ebenso untersagt wie die Annäherung an Erscheinungen des Hochheiligen. Das Verblüffende an dieser Zusammenstellung von Gefahrenquellen ist die Tatsache, dass nicht etwa die Differenzierung von äußerst unrein bis sehr heilig die Skala möglicher mehr oder weniger wünschenswerter Seinszustände beschreibt, sondern dass in diesen Verboten das Unreine und das Hochheilige gleichermaßen als das Gefahrvolle und das Profane und das Heilige, sofern sie „rein“ sind, gemeinsam als das Lebensfördernde angesehen werden. Diese Beobachtung, die von Ethnographen seit rund 250 Jahren für zahlreiche Kulturen beschrieben worden ist, soll in diesem Artikel für den Bereich des Alten Testaments untersucht und gedeutet werden.

1.1. Definition

Die Art der hier behandelten Gebote und Verbote wird in der Ethnologie und Religionswissenschaft mit einem polynesischen Wort als Tabu bezeichnet. Der Begriff wurde durch Reiseberichte des Kapitäns James Cook (1728-1779) bekannt und in der Nachfolge popularisiert. Polynesisch tapu (ta = „abgrenzen“, pu = grammatische Intensivierung) bezeichnet einen Komplex von Meidungsgeboten. Tabus verweisen auf Gegenstände, Lebewesen oder Handlungen, die wegen der damit verbundenen Gefahren gemieden werden sollen. Jene Phänomene verfügen über eine den Menschen überlegene schädliche Macht und gehören einer anderen ontologischen Sphäre als die Lebenswelt des Menschen an. Die Verletzung eines Tabus erregt den Zorn jener verhängnisvollen Macht (oder auch der Ahnen, Naturgeister oder einer Gottheit) und kann eine Krankheit, Seuche, Naturkatastrophe oder den unmittelbaren Tod des Transgressors zur Folge haben (→ Magie; → Apotropäische Riten).

Formen von Tabus bzw. tabuierten Phänomenen sind in der Kultur- und Religionsgeschichte äußerst vielfältig und facettenreich und haben in der Vergangenheit zur Konstruktion zahlreicher und komplexer religions- und sozialwissenschaftlicher Theorien geführt.

1.2. Theoriegeschichte

In vielen archaischen Kulturen herrschte die Überzeugung vor, dass Dingen, Orten, Tieren, Pflanzen und Personen eine übernatürliche und unpersönliche Kraft einwohnt, die in Anknüpfung an eine Studie des britischen Ethnologen Robert H. Codrington über die Melanesier (1891) und an das seinerzeit populäre Werk „The Treshold of Religion“ (1909) von Robert R. Marett als Mana bezeichnet wurde. Diese unbestimmte Macht wurde als geheimnisvoll, dynamisch und wirkmächtig und damit als übernatürlich und heilig erfahren. Die Menschen reagierten auf das Erlebnis dieser Macht ambivalent: Sofern sie das Mana als mächtig und hilfreich erlebten, verehrten sie es und beteten es an. Sofern sie es jedoch als unberechenbar und gefahrvoll empfanden, mieden sie es und suchten sich davor zu schützen. Die Meidung geschah mit Hilfe von Tabus, die im Wissen um die Unberechenbarkeit der heiligen Macht zur Distanz gegenüber einer Sache, Person oder Handlung aufforderten, um das eigene Leben und das der Gemeinschaft nicht in Gefahr zu bringen.

William Robertson Smith und James G. Frazer, als Religionsgeschichtler Vertreter eines evolutionistischen Weltbildes, sahen in den Tabubestimmungen die Anfänge der Moralbildung. Doch solche entwicklungsgeschichtlichen Hypothesen waren historisch nicht belegbar und nachfolgende Theoretiker richteten ihre Aufmerksamkeit stattdessen auf die gesellschaftliche Funktion von Tabus. So gingen Sozialanthropologen wie Émile Durkheim, Arnold van Gennep, Alfred Radcliffe-Brown, Franz Steiner, Mary Douglas, Claude Lévi-Strauss und Edmund Leach davon aus, dass Tabus zur Stabilität von Gesellschaften beitragen, indem sie das aussondern und von einer Gesellschaft „abgrenzen“, was in deren moralischen Ordnungsvorstellungen nicht zu integrieren ist.

Der Psychoanalytiker Sigmund Freud – inspiriert von Smith und Frazer sowie unter Rückgriff auf spekulative Ideen Charles Darwins – erklärte das Auftreten von Tabus mit der Verdrängung begehrenswerter, doch verbotener Handlungen (z.B. Inzest oder das Töten von Totemtieren) schon in der Urgesellschaft. Und Paul Parin verwies aus ethnopsychoanalytischer Sicht auf die Funktion von Tabus zur Machterhaltung und Legitimation gesellschaftlicher Interessen. In diesen Theorien entfernte sich der Tabu-Begriff seit dem ausgehenden 19. Jh. weitläufig von seinen ursprünglichen ethnographischen Untersuchungen. Nur mit äußerster Zurückhaltung wird er noch auf empirische oder historische Forschungen übertragen werden können. Die vorliegende Begriffsbestimmung orientiert sich deswegen möglichst nah am literarischen Befund des Alten Testaments.

2. Das Heilige

Auch im Alten Testament finden sich Spuren einer urtümlichen älteren Auffassung des Heiligen, die den dynamistischen Konzepten ethnologischer Mana-Theorien ähnelt. In diesen Überlieferungen wird der Begriff „heilig“ (קָדוֹשׁ qādōš) mit der Idee einer machthaften Substanz verbunden, die Gegenständen, Personen oder Handlungen innewohnt. Deutlich wird dies am Beispiel von → Gold und → Edelsteinen, die ihrem Wesen nach (und nicht etwa auf Grund einer Weihe) als „heilige Steine“ gelten (Klgl 4,1). Priesterliche und königliche Gewänder werden mit Edelsteinen verziert, damit deren Heiligkeit und Glanz auf ihre Träger abstrahlt (Ex 28,17-20). Aber auch unbehauenen Natursteinen wohnt eine solche Kraft inne und macht sie heilig. Erst ihre Bearbeitung mit Eisenwerkzeugen oder die Aufdeckung männlicher Genitalien über ihnen „entweiht“ sie (Ex 20,25). Damit dürfte gemeint sein, dass die Mächtigkeit von Eisen und Geschlechtlichkeit stärker ist als die den Natursteinen einwohnende Kraft.

Solche immanenten Energien strahlen auf ihre Umgebung ab. Von daher erklärt sich auch das aus heutiger Sicht wenig einleuchtende Verbot ein Feld mit zwei verschiedenen Arten von Samen zu besäen oder einen Weinberg mit zwei verschiedenen Arten von Gewächsen zu bepflanzen. Dieses Verbot wird damit begründet, dass sonst „das Ganze heilig wird“ (Lev 19,19; Dtn 22,9). Dahinter steht die Annahme, dass die Pflanze mit der größeren Kraftsubstanz die andere Pflanze „ansteckt“ und damit die geordnete Entwicklung beider Pflanzen in Gefahr bringt. Aus diesem Grund dürfen auch nicht verschiedene Arten von Tieren den Pflug ziehen, gepaart werden oder Kleidungsstücke aus verschiedenartigen Fäden gewebt werden (Dtn 22,9f). So soll auch kein Mensch mit einem Tier geschlechtlichen Umgang haben, da dies zu einer Vermischung (תֶּבֶל tæbæl) (der Kraftsubstanzen) führt (Lev 18,23).

Lebewesen kann diese Heiligkeit angeboren sein. So gelten Erstgeburten allein auf Grund ihrer Primogenitur als „heilig“ (Num 18,17) und müssen, wenn es sich um Haustiere handelt, Gott geopfert werden (Ex 13,2; Num 3,13; Dtn 15,19). Erstgeborene Söhne müssen durch ein Opfer „ausgelöst“ werden (Ex 13,12-14; Num 18,15-18). Aufgrund ihrer besonderen Heiligkeit empfangen sie sowohl das Erbe wie den väterlichen Segen (Gen 27).

Die Früchte von Bäumen dürfen in den ersten drei Jahren nach ihrer Anpflanzung nicht geerntet werden. Der vierte Jahrgang soll Gott „geheiligt“ (geopfert) werden (Lev 19,23-25; vgl. Ez 44,30). Zum Beginn der Getreideernte wird das Frühlingsfest mit der Darbringung der ersten Garbe von Gerste gefeiert (Lev 23,10f). Am Wochenfest sieben Wochen später zum Beginn der Weizenernte wird Brot geopfert, das aus der neuen Ernte gebacken wurde (Lev 23,15-17). Hinter der Opferung der Erstlinge dürfte der Gedanke stehen, dass die Darbringung der in ihnen enthaltenen Kraft und Heiligkeit zu Gott der Steigerung der Fruchtbarkeit der Ernte insgesamt dient.

Schließlich gibt es soziale Handlungen, die zwar nicht von Natur aus heilig sind, denen jedoch durch das rituelle Verhalten der Teilnehmer Heiligkeit zukommt. So können Kriege durch die Einhaltung bestimmter Reinheitsgebote „geheiligt“ werden (קדשׁ מִלְחָמָה qdš Pi. milḥāmāh in Jer 6,4; Jo 4,9; Mi 3,5) und Soldaten können „Geheiligte“ genannt werden (Jes 13,3; Jos 3,5), weil der Krieg sie „heilig“ macht (1Sam 21,5f).

Wie einen Krieg, so „heiligt“ man in Israel auch Festtage und Kultversammlungen. Den → Sabbat „heiligt“ man durch die Einhaltung des Ruhegebots an diesem Tag (Ex 20,8-11). Kultische Bußversammlungen werden durch das Einhalten asketischer Gebote „geheiligt“ (Jo 1,14; Jo 2,15f). Ebenfalls die Kultversammlungen der Kanaanäer gelten als „heilig“ (2Kön 10,20).

Der → Nasiräer (נָזִיר nāzîr, abgeleitet von der Wurzel נזר nzr „dem üblichen Gebrauch entziehen / aussondern“) – ein gottgeweihter Asket – „heiligte“ sich auf Dauer oder für eine bestimmte Zeit durch den Verzicht auf Haareschneiden und Alkoholgenuss (Ri 13,5.7; Ri 16,17; 1Sam 1,11; Am 2,11f; Num 6,1-21). Im Nasiräat hatten auch Laien – Männer wie Frauen – die Möglichkeit heilig zu werden.

Erst allmählich setzte sich in Israel die Auffassung durch, dass Heiligkeit keine bestimmten Objekten, Personen oder sozialen Handlungen einwohnende Eigenschaft ist, sondern in Gott selbst liegt und allein von ihm ausgeht. In späterer Zeit gilt als heilig קָדוֹשׁ qādōš, was Gott zugehörig ist. Die Heiligkeit eines Phänomens wird nun als eine abgeleitete Heiligkeit verstanden, die von Gott verliehen wurde. Heiligkeit im engeren Sinn bezeichnet das Wesen Gottes, das ihn von allen anderen Entitäten unterscheidet. In dieser Perspektive verdankt sich Heiligkeit allein göttlicher Gegenwart und Gewährung. So gilt der → Sabbat für die Grundschicht der → Priesterschrift (Pg) als heilig, weil Gott ihn „segnete“ (Gen 2,3). Das Land Israel ist heilig, weil Jahwe darin „wohnt“ (Ex 15,13). In den Zusätzen zur Priesterschrift (Ps; → Numeri) gilt der Sabbat hingegen nicht als heilig (Num 28,9-10) – vermutlich, weil die Erinnerung noch lebendig ist, dass in vorexilischer Zeit mit dem Sabbat der Vollmondtag, also ein natürliches Ereignis, gefeiert wurde.

2.1. hochheilig und tabu

Der älteste literarische Beleg, der Jahwe „heilig“ (קָדוֹשׁ qādōš) nennt, findet sich in 1Sam 6,20. Dieser Vers gehört der → Ladeerzählung an und dürfte damit auf die Anfangszeit des Königtums in Israel zurückgehen. Die sich in Jahwe manifestierende Heiligkeit ist eine konzentrierte Form der Heiligkeit und hat eine andere ontologische Qualität als jenes Heiligsein, das sich in der menschlichen Lebenswelt findet. Ohne kultische Schutzmaßnahmen ist eine unmittelbare Begegnung mit ihr lebensgefährlich.

Diese exklusive Heiligkeit wird im Alten Testament als das Hochheilige bzw. das Allerheiligste קֹדֶשׁ הַקֳּדָשִׁים qodæš haqqădāšim bezeichnet. Die meisten Belegstellen verstehen unter dem Allerheiligsten den unbetretbaren Innenraum des Jerusalemer → Tempels (1Kön 6,16; 1Kön 7,50; 1Kön 8,6; Ez 41,4 u.ö.). Aber auch die gesamte Tempelanlage (Ez 43,12; Ez 45,3; Ez 48,12; Dan 9,24; Num 18,10) oder speziell der Brandopferaltar (Ex 29,37; Ex 40,10; → Kultinstallationen) und der → Räucheraltar (Ex 30,10) können so bezeichnet werden. In der Sichtweise der Priesterschrift wurden die kultischen Gerätschaften des Heiligtums der Frühzeit Israels durch die Weihe des Mose „hochheilig“: Zelt, Lade, Schaubrottisch, Leuchter und Becken (Ex 30,26-28).

Wer auch nur einem dieser hochheiligen Geräte zu nahe kommt, ist ihm ausgeliefert (Num 4,19f). Siebzig Männer aus der Sippe Jechonja sterben, weil sie die → Lade sehen bzw. in die Lade hineinsehen oder – wie es die → Septuaginta versteht – sich nicht von der Freude der Volksmenge über die Wiederkehr der Lade anstecken lassen. Die Augenzeugen rufen angesichts der Toten erschrocken aus: „Wer kann bestehen vor Jahwe, diesem heiligen Gott?“ (1Sam 6,19f). Und Ex 15,11 fragt: „Wer ist dir gleich, der so mächtig, heilig, schrecklich, löblich und wundertätig ist?“ Der Name Gottes – so bringt es Ps 111,9 auf eine kurze Formel – ist „heilig und furchtbar“ (ähnlich Jes 8,13). Jahwes Heiligkeit ist eine „eifernde“ Heiligkeit (Jos 24,19). Sie ist wesenhaft anders als alles Menschliche und Weltliche: „Gott bin ich und kein Mensch“ (Hos 11,9). Wer diese Grenze unbedacht oder mutwillig übersieht, verfällt dem Tod.

In der liberaleren Auffassung der Priesterschrift stirbt zwar nicht, wer diese Gegenstände anrührt, aber er wird selber heilig und „verfällt dem Heiligtum“ (Ex 30,29), d.h., er wird zum Hörigen des Tempels.

Kein Unbefugter darf sich deswegen an den Geräten des Tempels zu schaffen machen oder – nach Num 4,20 – auch nur einen Blick auf sie werfen. Selbst die Kehat-Leviten (→ Leviten), die sich im Heiligtum um die Kultgeräte zu kümmern haben, dürfen diese Gegenstände nicht direkt berühren, weil sie sonst sterben würden (Num 4,15; vgl. 2Sam 6,6-7). Geweihte Priester müssen die Kultobjekte zunächst mit Tüchern bedecken, ehe sie von den Tempeldienern transportiert werden können.

Nur wer oder was geweiht bzw. „geheiligt“ ist, kann mit dem Hochheiligen bei einem bestimmten Anlass unbeschadet in Beziehung treten. Heiligung bedeutet also, dass Gott Personen oder Sachverhalte dem profanen Bereich entnimmt (Lev 22,9). So sollen die Menschen an den ersten sechs Tage einer Woche ihrer Arbeit nachgehen, der siebte Tag jedoch ist „für Jahwe“ (Lev 23,3) und gilt deswegen als „heilig“ (Gen 2,3). Auch Priester (Ex 28,41; Lev 21,8), Propheten (Jer 1,5) oder das Stiftszelt und seine Kultgeräte (Ex 40,9) werden dadurch geheiligt, dass sie von ihrer Umwelt „ausgesondert“ werden. Schließlich ist Israel deswegen ein „heiliges Volk“, weil Jahwe es „abgesondert hat von den Völkern“ (Lev 20,26).

Eine solche Aussonderung kann sich auch akzidentell ereignen. Weil Gott im Kampf → Jakob auf den Muskel am Hüftgelenk geschlagen hat, sondern die Israeliten dieses Stück Fleisch bei einer Tierschlachtung aus (Gen 32,33).

Eine besondere Art der Weihe und Tabuisierung ist der (Kriegs-)Bann חֵרֶם ḥeræm (→ Bann / Banngut). Das Verb חרם ḥrm bedeutet wörtlich „(für Gott) aussondern“ bzw. „weihen“. Personen, Tiere und Sachen werden aus ihrem profanen Umfeld ausgesondert, um sie Gott zu übereignen. Für alles Gebannte bedeutet dies die Vernichtung, weswegen man den Bann auch als „Vernichtungsweihe“ bezeichnet.

Alles, was hochheilig bzw. geweiht oder gebannt ist, untersteht der Machtsphäre Gottes. Niemand darf sich ihm ohne rituelle Weihen nähern oder gar daran vergreifen. Da das Hochheilige → Jahwes Wesen bezeichnet, hat es eine andere ontologische Qualität als die Natur des Menschen und ist mit dieser nicht kompatibel. Es wird dem Menschen gefährlich und ist deswegen tabu. Jeder Tabubruch gilt als eine Verletzung der Souveränität der Macht des Hochheiligen. Er ist der Versuch zwei verschiedene Arten (z.B. Menschliches / Göttliches) zu mischen und untersteht damit dem Verdikt des Unerlaubten. Ein Tabubrecher stellt sich außerhalb der Schöpfungsordnung und wird von Jahwe „zerschmettert“ (Ex 19,22).

2.2. heilig und rein

Die Begriffe Heiligkeit und Reinheit scheinen sich im Alten Testament mitunter zu entsprechen (Dtn 23,11.15; 2Chr 30,17-20) und Unreinheit kann als Gegensatz zur Heiligkeit verstanden werden (Lev 11,44). Zudem kann das Verb טהר ṭhr „reinigen“ gelegentlich als ein Synonym für קדשׁ qdš „heiligen“ verwendet werden (siehe Ex 30,35; Lev 16,19; Jes 66,17) wie auch umgekehrt (2Sam 11,4). Auch die Gegensatzpaare rein / unrein und heilig / profan werden mitunter in Parallele gesetzt (Lev 10,10; Ez 22,26; Ez 44,23) und erwecken den Eindruck austauschbar zu sein.

Diese Gleichsetzungen dürften der kultischen Praxis entspringen. Denn dem Heiligen darf sich nur nähern, wer sich den erforderlichen Reinigungsriten unterzogen hat. Das erklärt, warum die Verben „reinigen“ bzw. „sich von Verunreinigungen fernhalten“ und „heiligen“ im Alten Testament oftmals synonym gebraucht werden und קדשׁ qdš im Piel oder Hitpael entsprechen. Anschaulich werden die unterschiedlichen Konnotationen von קדשׁ qdš in der Erzählung von der Vorbereitung des Volkes Israel auf den Empfang der Gebotstafeln am Berg Sinai (Ex 19,10-24). Ähnliche Bedeutungsnuancen finden sich in Num 11,18; Jos 3,5; Jos 7,13; 1Sam 16,5. Aus diesen Belegstellen für das Verb קדשׁ qdš lässt sich eine Abfolge von impliziten Sinnschritten erkennen: Durch eine kultische Reinigung werden Gegenstände oder Personen in einen Weihezustand und damit in einen Zustand der Heiligkeit versetzt. Das Verb קדשׁ qdš im Piel oder Hitpael drückt damit zusammenfassend die Gedankenfolge „reinigen“ – „weihen“ – „heiligen“ aus.

Trotz dieser gelegentlichen Überschneidungen der Wortfelder darf nicht übersehen werden, dass „rein“ ( טָהוֹר ṭāhōr) und „heilig“ (קָדוֹשׁ qādōš) keineswegs identische Begriffe sind. Während קָדוֹשׁ qādōš die Sphäre des Heiligen bzw. des zu Gott Gehörigen oder sogar als „der Heilige“ Gott selbst bezeichnet, besagt טָהוֹר ṭāhōr, dass ein Ding oder ein Lebewesen mit dem Heiligen in Beziehung treten kann, dass es die Voraussetzung zum Ertragen der Nähe Gottes erfüllt. Reinheit ist der Zustand, der zur Begegnung und zum Austausch mit dem Heiligen befähigt, sofern ihm das Heilige diese Nähe gewährt.

Was rein ist, ist nicht zwangsläufig auch heilig. Das Reine kann sowohl der Sphäre des Heiligen wie der Sphäre des Profanen angehören. Die Reinheitsvorstellungen im Bereich des Heiligen kreisen besonders um die Heiligkeit des Tempels. Nur wer rein ist, darf den Tempel betreten (Lev 12,4) und vom Opferfleisch essen (Lev 7,19; Lev 22,4). Nur ein reines Tier darf geopfert werden (Dtn 14,7-20; Lev 11; Gen 7,2; Gen 8,20) und nur wer rein ist, darf die → Opferung ausführen (Esr 6,20). Auch das Heilige muss rein gehalten werden, um der Begegnung zwischen Mensch und Gott dienen zu können (1Chr 23,28; 2Chr 29,15f).

Das Reine setzt sich – im Unterschied zum Heiligen und Profanen – immer aus mindestens zwei Elementen zusammen. Ein Ding oder ein Lebewesen sind entweder profan und rein oder heilig und rein. Tiere sind rein, wenn sie für den profanen Gebrauch (d.h. für die Schlachtung und den Verzehr) freigegeben sind. Das Land Israel ist rein, weil es Eigentum des Heiligen (Jahwes) ist. Die Stiftshütte oder der Tempel sind rein, weil sie Jahwe als Wohnung dienen.

Rein ist also ein synthetischer Begriff, dessen Sinn sich nur aus seiner Beziehung zu den ontologischen Kategorien profan oder heilig ergibt. Weil sowohl das Profane wie das Heilige rein sein können, können sie miteinander in Beziehung treten. Reinheit dient der Vermittlung zwischen dem Profanen und dem Heiligen, zwischen Mensch und Gott.

Reinheit ist ein Begriff des Medialen und bezeichnet den Bereich der Vermittlung zwischen profan und heilig. Während Unreinheit vom Heiligen trennt und vom Kult ausschließt (Lev 7,20f; Num 9,6ff), ist Reinheit der Zustand, in dem der Teilnahme am Kult und damit der Begegnung mit dem Heiligen nichts entgegensteht (Lev 7,19; Num 9,13). Wo Reinheit herrscht, können sich Profanes und Heiliges durchdringen. Das Reine schafft einen Bereich der Begegnung, in dem sich Manifestationen des Heiligen, Hierophanien und Offenbarungen ereignen können. Dies veranschaulicht die → BerufungsgeschichteJesajas im Jerusalemer Tempel. Dadurch, dass → Serafim ein Reinigungsritual an dem Propheten vollziehen, wird dieser fähig, der Hierophanie standzuhalten und die Botschaft Gottes aufzunehmen (Jes 6,1-7).

Das Reine hat eine dialektische Struktur. Es ermöglicht sowohl die Manifestationen Gottes in der Menschenwelt wie die Begegnungen von Menschen mit Wesen und Botschaften aus der Sphäre des Heiligen. Das Reine hat Anteil am Profanen wie am Heiligen, aber es ist mit keinem dieser Bereiche identisch. Das Reine ist eine mediale Sphäre, die aus den Überschneidungen und Durchdringungen von heilig und profan ein Tertium bildet.

3. Das Profane

Was von der Heiligkeit Gottes geschieden ist, wird im Alten Testament als profan חֹל ḥol bezeichnet. Die Wurzel חלל ḥll Pi. bedeutet „freistellen / dem gewöhnlichen Gebrauch übergeben“. חֹל ḥol profan ist deshalb im Sinne von „allen zugänglich / erlaubt“ zu verstehen. Der Begriff drückt die Profanität von Sachen, Handlungen und Personen aus. Er bezeichnet den Gegensatz zu קָדוֹשׁ qādōš heilig im Sinne von „ausgesondert / dem allgemeinen Gebrauch entzogen“. Schon in dem frühen Text 1Sam 21,5f tritt חֹל ḥol als Gegenteil von קָדוֹשׁ qādōš auf. Die Polarität von heilig und profan darf damit als alter Bestandteil israelitischen Denkens verstanden werden.

Seit der exilischen Zeit setzt sich allerdings die Tendenz durch, die Trennungslinie zwischen der Sphäre des Heiligen und der Sphäre des Profanen stärker zu betonen. Die Wendung „ihr sollt unterscheiden zwischen dem Heiligen und dem Profanen“ (וּלֲהַבְדִּיל בֵּין הַקּדֶשׁ וּבֵין הַחֹל) zieht sich seitdem wie eine Formel durch alttestamentliche Texte (Lev 10,10; Ez 22,26; Ez 42,20; Ez 44,23). In der späteren rabbinischen Literatur kann חֹל ḥol auch den Werktag im Gegensatz zum → Sabbat oder „profanes“ Geld im Gegensatz zum Zehntgeld bezeichnen (F. Hauck, 1938, 791).

Dabei ist die Unterscheidung von heilig und profan für den Laien nicht immer unmittelbar einsichtig. Sachen, Handlungen oder Personen können je nach den Umständen das Eine wie das Andere sein. So können z.B. Brote (1Sam 21,5), Kriege (1Sam 21,6) oder ganze Stadtteile (Ez 48,15) sowohl profan als auch heilig sein. Das Wissen um diese Unterscheidung liegt bei den Priestern. Das korrekte Unterscheiden ist eine ihrer zentralen Aufgaben (Ez 22,26; vgl. Zef 3,1-4; Dtn 24,8). In seiner großen Tempelerneuerungsvision schreibt → Ezechiel den Priestern die Pflicht zu: „Sie sollen mein Volk lehren, dass es zu unterscheiden wisse zwischen Heiligem und Profanem“ (Ez 44,23).

Die Sphäre des Profanen ist jener Bereich, in dem sich das alltägliche Leben mit seinen Notwendigkeiten und Pflichten abspielt (Ez 48,15). Während Opfertiere nur an „von Jahwe erwählten“ Stätten geschlachtet werden und nur von Priestern und Leviten verzehrt werden dürfen, können Profanschlachtungen an jedem Ort vorgenommen werden und jeder darf von diesem Fleisch essen (Dtn 12,13-15).

3.1. profan und rein

Das Profane dient dem Menschen zur Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse. Es ist ihm ohne Vorbehalte zugänglich und steht ihm zur freien Verfügung. In dieser Sphäre verbringt er seinen Alltag. Das Profane ist rein, jedoch ist es in vielfältiger und mitunter unvermeidbarer Weise durch Verunreinigungen gefährdet. Darum muss sich der Mensch reinigen, wenn er mit dem Heiligen in Beziehung treten will. Denn nur wer rein ist, darf sich dem Göttlichen bzw. dem Heiligtum nähern (Lev 7,19; Lev 22,4).

Reinheit erfordert rituelle Reinigungszeremonien (→ Reinheit; → Ritual). Von den Priestern und Leviten werden ausdrücklich Körper- und Kleiderwäsche im Zusammenhang mit ihrem Dienst am Heiligtum verlangt (Num 19,7-10; → Reinigungsgesetze). Manche rituellen Handlungen erfordern von Priestern und Laien ein → Fasten, besonders, wenn am → Versöhnungstag das ganze Volk und das Heiligtum durch ein Sühnopfer „gereinigt“ werden (Lev 16). In gewissen → Krankheitsfällen muss eine Quarantäne eingehalten werden (Lev 13,4.46). Für die Leviten gehört auch das Haarescheren zur Reinigung (Num 8,7). Bei schweren Verunreinigungen muss ein Priester den Unreinen mit einem besonderen Reinigungswasser besprengen, das mit der Asche einer roten Kuh vermischt wurde (Num 19).

Auch → Land ist von Natur aus profan. Was in ihm und mit ihm geschieht, bestimmt, ob es als rein oder unrein zu betrachten ist. Das Land Israel ist nach den Vorstellungen des Alten Testaments „rein“ (Dtn 21,23b; vgl. Dtn 24,4; Esr 6,21; Esr 9,11), weil Gott in ihm „wohnt“ (Num 35,34) und es als sein „Eigentum“ betrachtet (Jer 2,7). Andere Länder gelten hingegen als „unrein“, weil in ihnen fremde Gottheiten verehrt werden und die Reinheitsvorschriften der Tora nicht befolgt werden (Am 7,17; Jos 22,19). Israel bleibt rein, solange die Reinheitsgebote der Tora nicht dauerhaft verletzt werden. Götzendienst z.B. verunreinigt ein Land (Jer 2,7). Die Verehrung fremder Götter wird als „Gräuel“ bewertet (Dtn 7,26; Dtn 13,15; Dtn 20,17f). Darum müssen die Israeliten – nach Auffassung des Propheten Ezechiel – ins Exil, weil sie ihr Land, Gottes Eigentum, verunreinigt haben (Ez 36,17-21). Die Kultreformen des Königs → Josia können hingegen als Reinigungsritual verstanden werden (2Chr 29,15ff; 2Chr 34,3ff). In der nachexilischen Heilsprophetie wird die eschatologische Hoffnung laut, dass Gott die Reinheit seines Volkes wieder herstellen wird (Jes 35,8; Jer 33,8; Ez 36,25ff; Ez 37,23).

Die Reinheit des profanen Lebens ist also gefährdet und steht immer wieder auf dem Spiel. Wer sich verunreinigt, ist aus der Sphäre des Reinen ausgeschlossen. Er kann jedoch durch Reinigungsriten entsühnt und damit wieder reintegriert werden. Wer geheiligt wird, erhält unter Umständen sogar Zugang zur Sphäre des Hochheiligen und kann in Beziehung zum Göttlichen treten. Aber eine solche Begegnung macht es notwendig, dass der Betreffende anschließend entheiligt wird, um gefahrlos in die Sphäre des Profanen zurückkehren zu können (Lev 16,28; Num 19,7-10).

3.2. unrein und tabu

„Rein“ (טָהוֹר ṭāhōr) und „unrein“ (טָמֵא ṭāmē’) müssen im Alten Testament primär als kultische Begriffe verstanden werden (→ Reinheit § 5). Das Reine ermöglicht den Zugang zum Heiligen. Das Unreine trennt vom Heiligen und schließt vom Kult aus. Doch während das Reine statisch ist, ist das Unreine dynamisch und wird auf Personen und Gegenstände übertragen. Der Prophet → Haggai nennt ein Beispiel aus dem häuslichen Alltag: Während Nahrungsmittel, die mit geweihtem Fleisch in Berührung kommen, dadurch nicht auch heilig werden, werden sie jedoch unrein, wenn sie von jemandem berührt werden, der sich zuvor an einer Leiche verunreinigt hat (Hag 2,10-13). Das Unreine versucht seine Sphäre zu erweitern und gibt die Unreinheit an benachbarte Bereiche weiter. Alles Unreine ist seiner Natur nach expansiv.

Die Grenzen zwischen dem Unreinen und Reinen sind instabil und durchlässig. Es gibt keine dauerhafte und zu jeder Zeit eindeutig erkennbare Trennungslinie. Gerade bei den alltäglichen Beschäftigungen ist die Gefahr der Verunreinigung groß. Deshalb wird Israel im Alten Testament aufgerufen, mit Hilfe der Priester skrupulös zwischen rein und unrein zu unterscheiden (Lev 10,10f), der Ausdehnung des Unreinen zu wehren und „Infiziertes“ durch Riten möglichst bald wieder zu reinigen. Ein Volk muss sich verraten fühlen, wenn die Priester ihr Amt nicht mehr wahrnehmen (Ez 22,26).

Seinem Wesen nach Unreines kann hingegen niemals rein gemacht werden. Es muss, wenn immer möglich, gemieden werden. Dazu zählt an erster Stelle alles, was zum Bereich des → Todes gehört: Aas und Leichen, Knochen und Gräber. Schon der Aufenthalt in einem Raum mit einem toten Menschen oder Tier macht unrein (Num 19,10-22; Num 9,6). Wer einen Menschen berührt, der sich durch Totes verunreinigt hat, wird ebenfalls unrein (Hag 2,13). Besonders müssen sich → Priester vor aller Totenunreinheit bewahren. → Nasiräer und Hohepriester dürfen nicht einmal an der Bestattung ihrer Eltern teilnehmen (Num 6,6-12; Lev 21,11).

Als häufiger Grund und als eine besonders schwere Form der Unreinheit gilt Aussatz צָרַעַת ṣāra‘at, „der Erstgeborene des Todes“ (Hi 18,13). Das Alte Testament versteht darunter neben Lepra eine Reihe von Hautkrankheiten und Ekzemen (→ Krankheit § 6.3). Auch auffallende Veränderungen in der Textur von Stoffen und Leder (Lev 13,47-59) sowie an Gebäuden gelten als „Aussatz“ (Lev 14,33f). Krankhafte Veränderungen der Haut oder schadhafte Veränderungen an Materialien erinnern den Israeliten an einsetzende Verwesungsprozesse und damit an den Tod (Num 12,12). Deshalb wird ein Aussätziger von der Kult- und Sozialgemeinschaft ausgeschlossen (Lev 13,45f) und muss außerhalb des Siedlungsbereiches wohnen (2Kön 7,3). Gewebe und Leder, die als aussätzig gelten, müssen verbrannt werden (Lev 13,47-59). Bei Gebäuden werden befallene Baustoffe ausgebrochen und an einem unreinen Ort deponiert.

Auch verschiedene mit Geschlechtlichkeit (→ Sexualität) und → Geburt zusammenhängende Absonderungen gelten als Quelle von Unreinheit. So werden → Menstruationsblut (Lev 15,19) und außerzyklischer Blutfluss (Lev 15,25) als Unreinheit betrachtet. Wer damit – und sei es nur indirekt – in Berührung kommt, wird ebenfalls unrein. Beim Mann gelten krankhafter Ausfluss (Lev 15,13) und unbeabsichtigte Pollution (Lev 15,16) als Unreinheit, die ebenfalls übertragen werden kann. Nach einer Geburt gilt eine Frau als unrein und muss sich durch ein Brand- und ein Sündopfer wieder reinigen lassen (Lev 12,6-8). Das → Blut der Frau und der Samen des Mannes sind eigentlich Lebenskräfte, ihr Verlust gehört jedoch in die Sphäre des Todes und macht deshalb unrein.

Des Weiteren gelten solche Landtiere als unrein und dürfen nicht verzehrt werden, die keine Wiederkäuer sind und keine gespaltenen Klauen haben, sowie Wassertiere, die keine Schuppen haben und sich nicht durch Flossen fortbewegen, also solche Tiere, die nicht einer bestimmten Art zuzuordnen sind, sondern Merkmale verschiedener Arten mischen (→ Reinheit / Unreinheit / Reinigung [AT] 2.2. Unreine Speisen).

Ebenso gelten Sexualverkehr außerhalb der Ehe (Lev 18,20; Num 5,20-29), mit einem gleichgeschlechtlichen Partner oder mit einem Tier (Lev 18,22f) oder die Paarung verschiedener Tierarten (Lev 19,19) als unstatthafte Vermischung und damit als Verunreinigung.

Die Propheten klagen die Verunreinigung Israels durch Götzendienst an (Hos 5,3; Jer 7,30 u.ö.), der das ganze Land verunreinige (Jer 2,7). Ezechiel sieht darin den Grund für die Verbannung Israels (Ez 36,17f).

Sieht man von einer Ethisierung des Konzepts der Unreinheit in nachexilischer Zeit ab (vgl. Spr 20,9), wird deutlich, dass Unreinheit im Alten Testament mit ontologischen Vorstellungen verbunden wird. Bestimmte Zustände (Tod, Aussatz), Körperausscheidungen (Blut, Sperma), Tierarten (die nicht eindeutig einer bestimmten Gattung zuzuordnen sind), Handlungen (Sexualverkehr mit Gleichgeschlechtlichen, Verheirateten, Tieren), Orte (dämonische Behausungen) oder Vermischungen von Arten und Substanzen (verschiedenartige Samen, Pflanzen, Tiere oder Textilien) gelten wesensmäßig als unrein, weil sie Elemente, die schöpfungsmäßig getrennt sind, und damit unvereinbare Energien und Kraftsubstanzen (Leben – Tod; Gesundheit – Krankheit; göttlich – dämonisch; verheiratet – unverheiratet; Mensch – Tier; Land-, Wasser- und Lufttiere) in Beziehung bringen und damit das gesellschaftliche oder kosmische Ordnungsgefüge stören und dauerhaft in Gefahr bringen. Da sich solche fehlgeleiteten Energien ausbreiten, sind sie unter allen Umständen zu vermeiden und auszusondern bzw. durch sorgfältige Reinigungsriten aufzuheben.

4. Das Hochheilige und das Unreine als Sphären des Tabu

Für die älteren Traditionen des Alten Testaments enthalten sowohl die Sphäre des Hochheiligen wie die Sphäre des Unreinen eine Schrecken erregende, dem Menschen gefährliche Kraft, die auf ihn überspringt, wenn er ihr zu nahe kommt, und ihn in einen Bann versetzt. Das Unreine (טמא ṭm’) wie das Hochheilige (קֹדֶשׁ הַקֳּדָשִׁים qodæš haqqădāšim) gelten gleichermaßen als unberührbar und sind tabu (חרם ḥrm).

Das Anfassen der Bundeslade ist ebenso tabu wie der Kontakt mit einer Leiche. Ein Priester muss nach dem Opferdienst im Tempel, der ihn in den Zustand der Hochheiligkeit versetzt, seine Kleider wechseln wie eine Frau sich nach einer Entbindung, durch die sie unrein wird, Reinigungsriten unterziehen muss (Lev 16,27f; Num 19,7-10; Lev 12,6-8).

Es liegt in allen diesen Fällen ebenso wenig eine hygienische oder eine moralische Verunreinigung vor, wie der Zustand der Reinheit als eine geistig-seelische Tugend angesehen ist. Der Betroffene ist vielmehr – willentlich oder ungewollt – in einen Machtbereich geraten, der seinen Lebensbedingungen abträglich ist und aus dem er heraustreten muss, um wieder in die Sphäre der Reinheit zu gelangen und sich in einer schöpfungsgemäßen Ordnung entfalten zu können.

Die Wurzel חרם ḥrm begegnet in fast allen semitischen Sprachen in der Bedeutung „bannen / weihen“ (→ Bann). Im Alten Testament bezeichnet sie ursprünglich das, was verboten ist, entweder, weil es hochheilig oder weil es unrein ist (Brekelmans, 1971, 635). Was als חֵרֶם ḥeræm gilt, muss vom Reinen strikt getrennt werden, sowohl von seinen profanen wie von seinen heiligen Teilen. Es gehört einem eigenen Machtbereich an. Das Hochheilige und das Unreine haben keinen Anteil an der schöpfungsgemäßen Ordnung der menschlichen Lebenswelt. Sie sind tabu, weil sie mit den menschlichen Lebensbedingungen nicht vermittelbar sind. Im Kontakt mit einem Menschen offenbaren sie eine überwältigende Machtfülle, die auf ihn überspringt und ihn unrein macht. Der so infizierte Mensch wird selber zu einem Unberührbaren oder gar zu einem Totgeweihten.

Menschliches Leben kann seiner Natur nach nur in der Sphäre des Reinen (טָהוֹר ṭāhōr) gedeihen. Das Reine – als ein synthetischer Begriff – bezeichnet allerdings keine eigene Wesensart. Es verbindet das Heilige mit dem Profanen. „Rein“ bedeutet, dass in dieser Sphäre das allen Zugängliche und Erlaubte (חֹל ḥol) mit dem Heiligen und Göttlichen (קָדוֹשׁ qādōš) in Einklang steht. In diesem Umfeld kann menschliches Leben ganzheitlich gedeihen. Es ereignet sich im Spannungsfeld von Profanem und Heiligem. Weder das Profane noch das Sakrale allein bieten dem Menschen auf Dauer eine zureichende Existenzmöglichkeit. Menschliches Leben entfaltet sich in der Dualität.

Daneben gibt es jedoch Bereiche der Wirklichkeit, die den Menschen unverträglich sind und deshalb vom Reinen abgegrenzt werden müssen. Diese Grenze darf der Mensch im Normalfall nicht überschreiten. Sowohl das Hochheilige wie das Unreine gelten als Tabuzonen (חֵרֶם ḥeræm). Wer damit in Kontakt kommt, muss von einem Priester gereinigt bzw. „geheiligt“ werden, um vom חֵרֶם ḥeræm los zu kommen (vgl. Jos 7,13).

Die Sphären des חֵרֶם ḥeræm sind nicht unbelebt, doch existieren hier andere Arten von Wesen. An unreinen Stätten, besonders in Ruinen, Wüsten und an Grenzen, hausen → Dämonen, Geister und unreine Tiere. Dämonennamen wie „Wüstlinge“, „Heuler“ oder „Vernichter“ geben zu verstehen, dass diese Wesen zur menschlichen Lebenswelt in einem Gegensatz stehen. Auch die Sphäre des Hochheiligen ist belebt. In ihr wohnen nicht nur Gott und seine Engel, sondern sie sind das Hochheilige. Darum kann der Mensch keinen Anteil am Hochheiligen haben, weil er seinem Wesen nach diesem Bereich der Wirklichkeit nicht entspricht.

Das Hochheilige und das Unreine stellen einen eigenen Machtbereich dar und sind eine Qualität außerhalb der Menschenwelt (→ Magie). Es spielt keine Rolle, ob diese Macht in einem ethischen Sinne positiv oder negativ gewertet wird. Sie steht zur menschlichen Lebenswelt in einem Gegensatz und gefährdet diese. חֵרֶם ḥeræm ist in jedem Fall die Gegensphäre zum Reinen, ein Bereich der Unreinheit und Todesverfallenheit.

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  • Die Sphären des Tabu. © Rainer Neu; Graphische Umsetzung: Klaus Seul

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