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Blutbräutigam

(erstellt: Juni 2014)

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1. Das Problem

Der Ausdruck „Blutbräutigam“ (חֲתַן־דָּמִים ḥǎtan dāmîm) ist im Alten Testament nur zwei Mal belegt, und zwar in der kurzen Erzählung Ex 4,24-26. Nach seinem Mord an einem ägyptischen Aufseher war → Mose nach → Midian geflohen, und dort hat JHWH ihm angekündigt, sein Volk aus Ägypten zu führen. Daraufhin wandert Mose zurück nach Ägypten, um den Auszug des Volkes vorzubereiten (→ Exodus). Die besagte Erzählung spielt auf dieser Wanderung, doch ist der Text schwer verständlich, u.a. weil der Ausdruck „Blutbräutigam“ rätselhaft bleibt und Bezüge unklar sind.

Ex 4,24 Es geschah aber auf dem Weg im Nachtlager (mālôn), dass JHWH ihm [wem?] begegnete (pgš) und zu töten trachtete (bqš). 25 Da nahm Zippora einen scharfen Stein und schnitt die Vorhaut (‘årlāh) ihres Sohnes ab, berührte seine [wessen?] Füße [Euphemismus für Genitalien?] und sprach: „Ja, du [wer?] bist mir ein Blutbräutigam.“ 26 Da ließ er von ihm [wem?] ab (rph). Damals sagte sie „Blutbräutigam“ im Bezug auf die Beschneidungen (mûlot).

Das Ende ist am einsichtigsten: Der Text endet mit einem ätiologischen Deutewort (→ Ätiologie), das den Titel „Blutbräutigam“ mit der Beschneidung assoziiert (V. 26).

V. 24 leitet sehr unvermittelt in das Geschehen ein, da offen bleibt, wer das Opfer der Attacke ist. Die vorangehenden Verse Ex 4,21-23 handeln von einem Gespräch JHWHs mit Mose über die ägyptische Erstgeburt und deren geplante Tötung. Die Reisenotiz in V. 24 schließt sich am besten an Ex 4,19-20a an, die von der Aufforderung JHWHs zur Rückkehr nach Ägypten berichten unter Hinweis darauf, dass alle Männer, die Mose – wegen der Erschlagung des Ägypters (Ex 2,12-15) – nach dem Leben trachteten (bqš in Ex 2,15 und Ex 4,19), inzwischen tot seien. Die fehlende Präzisierung des Opfers und der Gründe für die Verfolgung bleibt auch für das weitere Verständnis problematisch.

Auch in V. 25 sind Bezüge unklar: Wessen Füße / Genitalien berührt → Zippora? Sollten die des Sohnes oder die JHWHs (so z.B. → Septuaginta und → Targum) gemeint sein, schlösse sich sogleich die Frage an, wer denn dann als Blutbräutigam bezeichnet wird. Als Zipporas Bräutigam läge doch am ehesten Mose nahe. JHWH könnte allenfalls in einem übertragenen Sinn als Bräutigam verstanden werden. Den Sohn als Bräutigam zu bezeichnen, wirkt zumindest befremdlich.

2. Deutungstraditionen

2.1. Einführung

Der Text hat sehr verschiedene Deutungen erfahren: → H. Gunkel u.a. vertraten die These, in ihm spiegele sich ein Ritus zur Vertreibung eines für den Bräutigam schädlichen Dämons im Zuge der prima nox. Nach J. Morgenstern geht es um die Beschneidung zur Rettung des erstgeborenen Sohnes („Blutbeschnittener“) in Auslösung des Erstlingsopfers. W.H. Schmidt sieht die Ätiologie der Kinderbeschneidung, die an die Stelle der Beschneidung Heranwachsender tritt, verhandelt sowie die Identifizierung von Blutsverwandtschaft mit einem Heiratsverhältnis, um durch einen apotropäischen Ritus nächtlicher Gefahr zu entgehen (vgl. kollektiv Ex 12,12.23). Andere denken an einen Blutritus zur Abwehr eines Krankheitsdämons (W. Hüllstrung) oder aber an eine ursprüngliche Heldensage des politischen Mose (R. Albertz). In der Regel wird von einem der ursprünglichen Exoduserzählung zugehörigen Erzählstück ausgegangen; anders T. Römer, der von einer spätnachdeuteronomistischen Interpretation zu Moses Heirat mit einer fremden Frau ausgeht (1994, 10-12).

2.2. Wellhausen: Moses Sohn wird stellvertretend für Mose beschnitten

Einflussreich war die Erklärung von Julius Wellhausen. Seine Untersuchung alt-bzw. früharabischer Einflüsse in der hebräischen Bibel führte zu der These, dass die verstreuten Nachrichten über die in der früharabischen Welt praktizierte Beschneidung „eine Art … Reifeprüfung, die der Jüngling bestehen mußte, bevor er heiraten durfte“ darstellten (Wellhausen 1897, 174f.). Dem Zusammenhang von der Institution der Beschneidung und dem Status des Bräutigams entspricht die arabische Wurzel ḫatana, die sowohl „Beschneidung“ als auch „Bräutigam“ umfasst (vgl. Mittelhebräisch; Gesenius 18. Aufl., 411). Dieser Befund lege es nahe, dass in der leicht korrigierten „jehovistischen Kultussage“ in Ex 4,24ff. einerseits der Sohn des Mose beschnitten wird, dass der Akt aber andererseits im Sinne einer stellvertretenden Beschneidung von Mose selbst zu verstehen sei. Erst durch diesen stellvertretenden Ritus wird Mose dann schließlich zum „Blutbräutigam“ und entgeht dem tödlichen Zorn Jahwes, den er durch die Ermordung des Ägypters auf sich gezogen habe. Der Nachsatz in V. 26 hätte dann die Funktion, einen nicht mehr gebräuchlichen terminus technicus zu erklären und ihn gleichzeitig in seiner neuen Form, nämlich der Beschneidung von kleineren Kindern, zu sanktionieren. Die Version in Gen 17 stelle eine dem „priesterlichen Kultgesetz“ zugehörige gereinigte Fassung der alten Kultussage und ihrer „alten volkstümlichen Praxis“ dar (Wellhausen 1905, 338f.).

Als „Mose auf seiner Rückkehr von Midian nach Gosen unterwegs übernachtete, überfiel ihn Jahve in der Absicht ihn zu töten; sein Weib Sipphora aber nahm einen Feuerstein und schnitt die Vorhaut ihres Sohnes ab und berührte damit die Scham Moses und sprach: du bist mir ein Blutbräutigam; da ließ Jahve von ihm ab. Sipphora beschneidet also ihren Sohn statt ihres Mannes, macht den letzteren dadurch symbolisch zum Blutbräutigam und löst ihn von dem Zorne Jahves, dem er verfallen ist, weil er eigentlich kein Blutbräutigam ist, d.h. weil er nicht die Beschneidung vor der Hochzeit an sich hat vollziehen lassen. Mit anderen Worten wird die Beschneidung der Knäblein hier geschichtlich erklärt als ein gemildertes Äquivalent für die ursprüngliche Beschneidung der Männer vor der Hochzeit. Damit vergleiche man die Art und Weise, wie der Priesterkodex in Gen. 17 die Beschneidung der männlichen Kinder am achten Tage nach der Geburt statutarisch verordnet und durch die Verordnung die Erzählung, die ihr zum Anlaß gedient hat, vollkommen in den Schatten stellt und verdirbt, nämlich die Erzählung von der Verheißung der Geburt Isaaks zum Lohn für die Gastfreundschaft, welche Abraham dem Jahve zu Hebron erwiesen hat. Es besteht aber nicht nur ein formeller Unterschied, sondern auch ein materieller Gegensatz zwischen der jehovistischen Kultussage und dem priesterlichen Kultgesetz. Die Kultussage wird durch das Kultgesetz purificirt, das heißt in allen ihren Grundzügen und Trieben negirt. […] Das Volksreligionsbuch, welches uns in der jehovistischen Genesis noch so ziemlich, wenngleich auch nicht ganz unkorrigirt, erhalten ist, erzählt, wie die Ahnen und Repräsentanten Israels die alte volkstümliche Praxis des Kultus, an den Hauptorten wo derselbe gefeiert wurde, begründet haben. (Wellhausen 1905, 338f.)“

Allerdings kommt diese Auslegung weder ohne Voraussetzungen aus, die die Szene im größeren literargeschichtlichen Kontext interpretieren, noch ohne Konjekturen, wie die, dass der Sohn ein Säugling oder Kleinkind sei, was der Reiseaufbruchsnotiz in Ex 4,20 widerspricht, da hier beide Söhne auf einen Esel gesetzt werden und somit älter sein dürften. Bei der Ableitung des Begriffs חָתָן ḥātān von arabisch ḫatana könnte es sich zudem um einen Anachronismus handeln.

2.3. Propp: Blutritus, um Mose von Schuld zu reinigen

Nach W.H.C. Propp (1993, 502ff.) muss die Interpretation mit דָּמִים dāmîm einsetzen, einer Abstraktpluralbildung, die „Blutschuld“ bezeichnet (vgl. den pejorativ konnotierten Begriff אִישׁ־דָּמִים „Blutmann“ in 2Sam 16,7-8; Ps 5,7; Ps 26,9; Ps 55,24; Ps 59,3; Ps 139,19; Spr 29,10), in welcher Mose seit seinem Mord an dem Ägypter steht (Ex 2,12). Nach bestehendem Asylrecht solle der in Midian als Asylant niedergelassene Mose vor der Rückkehr nach Ägypten ein substituierendes Opfer bringen, damit keine Blutschuld auf dem Lande verbleibt (vgl. Dtn 21,1-9, wo im Falle eines Mordes ohne ausgemachten Täter eine junge Kuh zu schlachten ist). In Ex 2,15; Ex 4,19.24 werde Mose gesucht (bqš), um getötet zu werden. Die sich anschließende Handlung thematisiere die Reaktion Zipporas auf die Entdeckung, dass ihr Mann ein Straftäter ist. Indem sie das Blut ihres Sohnes vergieße, improvisiere Zippora einen Blutritus, um Mose zu reinigen und für die neue Mission zu befähigen. Die reinigende Funktion von Beschneidungsblut könnte man aus Lev 12,3 ablesen, wo die durch die Geburt verunreinigte Mutter zeitgleich mit der Beschneidung des Sohnes gereinigt und in die Kultgemeinde wieder aufgenommen wird. Die indirekte Beschneidung des Mose über seinen Sohn könnte sich daraus erklären, dass Mose als Ägypter wahrscheinlich schon beschnitten war (vgl. Jer 9,24f.; Jos 5,5), weshalb seine Beschneidung sonst nicht weiter thematisiert ist. Ex 4,24-26 „chronicles a shift in meaning – in iv 25 ḫātān ‚bridegroom / circumcised’ is addressed to the symbolically circumcised Moses, but in verse 26 it applies to the actually circumcised child (lammûlōt). Note, however, that although Exod. iv 24-6 is the etiology of the expression ḫǎtan dāmîm, it is not necessarily J’s etiology of the practice of infant circumcision (pace Wellhausen).“ (Propp 1993, 510).

Propp rekonstruiert in diesem Text vier Interpretationsstadien (1993):

● Zuerst, in vor-israelitischer Zeit, war Beschneidung mit Heirat assoziiert, was die Titulierung als „Blutbräutigam“ (חֲתַן־דָּמִים ḥǎtan dāmîm) erklärt (vgl. Gen 34; 1Sam 18,17-27).

● In einem zweiten Schritt fand eine religiöse Anreicherung statt, indem die Beschneidung nicht nur eine Voraussetzung für Heirat, sondern auch für Kultfähigkeit wurde (vgl. Integration des Fremden im Passa-Kontext Ex 12,44; Jos 3-5).

● Dann wurde der Ritus zu einem Kindheitsritus verändert, in dem das blutende Kind zu einem Symbol für die Passa-Nacht wurde und die gefährdete Erstgeburt der Israeliten durch das Passa-Lamm freigekauft wurde (Ex 13,1-2.13-15.22.28-29; → Passa).

● Die theologische Lesart ergab sich erst aus dem größeren Kontext der Mose-Biographie. Hier wurde die Erzählung zu einem Beispiel der Sühne dank gelungener Familiensolidarität.

Somit ist Ex 4,24-26 zu einem Schmelztiegel unterschiedlicher Beschneidungsüberlieferungen geworden: „originally circumcision was performed upon adolescents, was associated with marriage and likely betokened social and religious maturity; from this (pre-Israelite?) phase comes the application of the epithet ḥǎtan dāmîm to the initiate. Later, when adulthood involved participation in the cult of Yahweh, the operation became a prerequisite not just for marriage, but for celebration of the paschal rite; this stage is reflected in the (symbolic) circumcision of Moses and in the placement of our story before the narration of the Exodus. Later still, circumcision was transferred to childhood or infancy, but the old associations lingered. The application of the term ḥǎtan dāmîm to a young boy became obscure, but the bloodied child became a symbol of the paschal night, when the endangered first-born of Israel were saved by the blood of a lamb. Finally, the Yahwist (or his source) used the story as part of a biography of Moses.“ (1993, 515).

Das Problem dieser Interpretation bleibt auch hier, dass weder der Sohn noch Mose selbst als Zipporas Bräutigam bezeichnet werden können.

2.4. Fazit

Der ursprünglich aus einem gänzlich anderen Kontext stammende Passus enthält einen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Ritualtext, der erst durch die Einfügung in den vorliegenden Exoduskontext und das Deutewort eine religiöse Aussageabsicht erhält:

● Ein ursprünglich apotropäischer Ritus wird zu einer Ätiologie der Kinderbeschneidung transformiert (Albertz 2012, 96f.; → apotropäische Riten).

● Es geht um die Integration der midianitischen Zippora in Israel durch einen Akt symbolischer Blutsverwandtschaft (Blum 1990, 47f.; Römer 1996, 73ff.; Schmidt 1988, 219).

● Möglicherweise war es ursprünglich nicht JHWH, der attackiert hat, sondern ein dämonisches oder göttliches Wesen (vgl. Gen 32,23-33, bes. Gen 32,25; Ex 12,35; vgl. Noth 1958, 35f.; Schmidt 1988, 224-226; Römer 1994, 5f.), das durch einen von Zippora vollzogenen apotropäischen Ritus ausgeschaltet wird. Es könnte sich dabei um eine alte midianitische JHWH-Tradition handeln, die für den israelitischen Kontext adaptiert wurde (Schmidt 1988, 226; kritisch Knauf 1987, 16-23 und 1988, 150-152 sowie → Keniter § 4).

Die antiken Übersetzungen bzw. deuterokanonischen Traditionen

Die meisten antiken Übersetzungen bzw. deuterokanonischen Traditionen interpretieren den Angreifer als → Engel (→ Septuaginta; Targum Onkelos; Targum Pseudo-Jonathan) oder Mastema (→ Satan; vgl. Jub 48,2f). Targum Pseudo-Jonathan begründet den Angriff damit, dass Mose seinen Sohn nicht beschnitten hatte. Ähnlich expliziert die Chronik des Jerahmeel: „Sie ruhten sich an einem bestimmten Platz aus, und ein Engel kam herab und griff ihn an wegen der Übertretung des Bundes, den Gott mit seinem Sklaven Abraham gemacht hatte, weil er seinen ältesten Sohn nicht beschnitten hatte, und er wollte ihn erschlagen.“ (47,1.2; vgl. Vita Mosis [slaw.], 598). Während in den Targumim der Vernichter bzw. der Engel des Todes handelt, ist es nach dem babylonischen Talmudtraktat Nedarim 32a Satan. Einig sind sich die Traditionen darin, dass der Angriff Mose und nicht seinem Sohn gilt.

Die Septuaginta verändert zudem den Gestus des Berührens der Füße bzw. Genitalien in einen Akt der Proskynese, indem sie mit „sie fiel zu Füßen [JHWHs]“ übersetzt. Außerdem verändert sie beide Sprüche zum „Blutbräutigam“ (חֲתַן־דָּמִים ḥǎtan dāmîm; V. 25f.) in „Still steht das Beschneidungsblut meines Sohnes!“, was an eine Beschwörungsformel erinnert. Die Septuaginta gibt somit einen stringenter komponierten Handlungsverlauf wieder: An die Stelle Gottes tritt ein Bote, die Frau schreitet ein und beschneidet den Sohn, fällt vor dem Boten nieder, äußert einen Ritualspruch, der entweder den Vollzug der Handlung bestätigt oder aber der Blutstillung dient. Der Ritualspruch, der keines weiteren Deutewortes bedarf, liefert die Begründung, warum es gelang, die Gefahr abzuwehren. Die rätselhafte ätiologische Notiz zum „Blutbräutigam“ (חֲתַן־דָּמִים ḥǎtan dāmîm) wird in eine Erfüllungsnotiz transformiert (im Vaticanus ist die ätiologische Notiz von V. 26 ausgelassen). (Wyatt 2009, 412f.).

Targum Onkelos übersetzt übersetzt den hebräischen Spruch in V. 25 und seine Reprise in V. 26 unterschiedlich: den ersten im Sinne von „Möge uns mein Bräutigam durch das Blut dieser Beschneidung geschenkt sein“ und den zweiten mit „Wäre nicht das Blut dieser Beschneidung gewesen, hätte mein Bräutigam den Tod verdient“ (vgl. Blaschke 1998, 302). Targum Pseudo-Jonathan verändert in „Der Bräutigam (ḥātān) wollte beschneiden, aber sein Schwiegervater (ḥoten) erlaubte es ihm nicht. Möge das Blut dieser Beschneidung für die Schuld dieses Bräutigams sühnen“ (vgl. auch Fragmenten-Targum) und verlagert so die Verantwortung für die Krise auf Zipporas Vater (Blaschke 1998, 300; vgl. Wyatt 2009, 412ff.; Propp 1999, 189).

3. Der Ritualkontext

Das dreiteilige → Ritual besteht aus a) dem „Abschneiden der Vorhaut“ (statt des übliches Verbs מול môl ist כרת krt „schneiden / abschneiden“ verwendet), b) dem Berühren der Füße (häufig gedeutet als Euphemismus für Scham) und c) dem Ritualspruch der Zippora „Blutbräutigam (חֲתַן־דָּמִים ḥǎtan dāmîm) bist du für mich!“ als einem deklaratorischen Sprechakt. Durch dessen Performanz wird eine Aura von Faktizität erzeugt, die die beschriebene Krisis als überwunden darstellt (V. 25a): Der Angreifer lässt nämlich ab.

Der letzte, ätiologisch anmutende Vers enthält das Deutewort (V. 26), das den rätselhaften Ritus und die Wendung an die Beschneidung rückbindet.

Dem Ritus geht sonst eine explizite Aufforderung zur Beschneidung voraus (vgl. Gen 17,11-13). Der spontan vorgenommene Akt ist eine Reaktion auf akute Gefahr, dem jeglicher zeremonielle Charakter fehlt (Hüllstrung) und vielleicht auch die weibliche Agentin erklärt (anders Knauf, der ein Relikt weiblicher Genitalbeschneidung erwägt). Als religionsgeschichtliche Parallele etwas jüngeren Datums wird häufig die Notiz aus → Philo von Byblos 2,33 (Attridge / Oden 1981) angeführt, die berichtet, wie der Gott Kronos seinen erstgeborenen Sohn dem Vater Ouranos opfert und an sich eine Selbstbeschneidung vornimmt, um eine Pest abzuwehren (vgl. Knauf 1987, 16f.; Wyatt 2009, 425f.).

Der Umstand, dass eine Frau eine Beschneidung als spontane Reaktion in einer unvorhergesehenen dramatischen Situation vollzieht, widerspricht dem, was wir sonst aus Bibel und Rabbinica über die Beschneidung wissen (Blaschke 1998, 19-30.169-172; vgl. aber 1Makk 1,60 [Lutherbibel: 1Makk 1,63]; 2Makk 6,10, wo ebenfalls Frauen in Notsituationen Beschneidungen vornehmen lassen). Eigentümlich im Kontext der Beschneidung ist auch der sich anschließende Gestus der Berührung der Füße. Selbst die grundsätzlich mögliche Übersetzung durch „Scham“ täuscht nicht darüber hinweg, dass im Vordergrund die Berührung mit dem ausgetretenen → Blut und somit eine Blutapplikation steht. Das Ritual ist also deutlich als Blutritus gezeichnet, wobei die Handlung vor allem der Blutgewinnung dient. Die Blutberührung (hier begleitet von einem performativen Sprechakt) weist apotropäischen Charakter auf, wie er ein zweites Mal begegnet in der Aufforderung zur Bestreichung der Türpfosten und Türschwelle mit dem Blut des Passa-Lammes (Ex 12,7.13.22). Auch hier dient die Markierung dazu, JHWH bzw. den von ihm gesandten „Verderber“ an der israelitischen Erstgeburt vorbei gehen zu lassen. Ähnlich dürfte auch Ex 4,24-26 die apotropäische Bedeutung von Beschneidungsblut bezeugen (dazu ausführlicher Hüllstrung 2003, 189-193).

Trotz des früh erkennbaren Unverständnisses des ursprünglichen Blutrituals und seiner Bezeichnung mit „Blutbräutigam“ (חֲתַן־דָּמִים ḥǎtan dāmîm) hat sich der ätiologische Ansatz wirkungsgeschichtlich durchgesetzt. So zog insbesondere die rabbinische Auslegung aus dieser Notiz das Fazit, dass die Beschneidung ein zentrales Merkmal jüdischer Identität ist: „R. Jehosua B. Qorcha sagte: Bedeutend ist die Beschneidung, daß sogar alle Verdienste unseres Meisters Moshe ihm nicht beistanden, als er die Beschneidung vernachlässigte, wobei es heißt: da fiel ihn der Herr an und wollte ihn töten.“ (Nedarim 32a; Goldschmidt 1996, 429; Jacob 1997, 100f.; vgl. Blaschke 1998, 269-273 zu Mischna Nedarim 3,11). Das rabbinische Diktum ist gefolgt von einer Reihe von Begründungen, warum Mose auf der Reise den Sohn nicht beschnitten habe und sich bzw. seinen Sohn überhaupt gefährdet habe. Einigkeit zeigen die Rabbinen in ihrer durchaus kontroversen Diskussion über die Stelle schließlich bezüglich des Imperativs der Beschneidung, den sie aus der rätselhaften Begebenheit ableiten (vgl. Jacob 1997, 100f.).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001

2. Weitere Literatur

  • Albertz. R., 2012, Exodus 1-18 (ZBKAT 2.1), Zürich
  • Attridge, H.W. / Oden, R.A., 1981, The Phoenician history / Philo of Byblos. Introduction, Critical Text, Translation, Notes (The Catholic Biblical Quarterly; Monograph Series 9) Washington, DC
  • Bauks, M., 2015 Beschneidung – ein Substitut des Erstlingsopfers? – Religionsgeschichtliche Überlegungen zu einer ätiologischen Notiz in Ex 4,(24-)26, in: dies. / M. Jung / A. Ackermann (Hgg.), Dem Körper eingeschrieben. Verkörperung und Ritual (Interdisziplinäre Philosophie. Einzelschriften), Heidelberg (in Vorbereitung)
  • Blaschke, A., 1998, Beschneidung. Zeugnisse der Bibel und verwandter Texte (TANZ 28), Tübingen
  • Blum, E. und R., 1990, Zippora und ihr חתן־דמים, in: E. Blum / C. Macholz / E.W. Stegemann (Hgg.), Die hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R. Rendtorff), Neukirchen-Vluyn, 41-54
  • Goldschmidt, L., 1996, Der babylonische Talmud, Bd. 5: Ketuboth, Nedarim, Nazir, Frankfurt
  • Gunkel, H., 1903, Über die Beschneidung im Alten Testament, APF 2, 13-21
  • Hüllstrung, W., 2003, Wer versuchte wen zu töten? Ein Beitrag zum Verständnis von Exodus 4,24-26, in: A. Lange / H. Lichtenberger / K.F.D. Römheld (Hgg.), Die Dämonen – Demons. Die Dämonologie der israelitisch-jüdischen und frühchristlichen Literatur im Kontext ihrer Umwelt, Tübingen, 182-196
  • Jacob, A.S., 2008, Blood will out. Jesus’ Circumcision and Christian Readings of Exod 4:24-24, Henoch 30, 311-323
  • Jacob, B., 1997, Das Buch Exodus, Stuttgart
  • Knauf, E.A., 1987, Supplementa Ismaelitica, BN 40, 16-23
  • Knauf, E.A., 1988, Midian. Untersuchungen zur Geschichte Palästinas und Nordarabiens am Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. (ADPV 10), Wiesbaden
  • Morgenstern, J., 1963, The ‚Bloody Bridegroom’ (?) (Exod. 4:24-26) once again, HUCA 34, 35-70
  • Noth, M., 1958, Das 2. Buch Mose. Exodus (ATD 5), Göttingen (5. Auflage 1973)
  • Propp, W.H.C., 1987, The Origins of Infant Circumcision in Israel, HAR 11, 355-370
  • Propp, W.H.C., 1993, That Bloody Bridegroom (Exodus IV,24-6), VT 43, 495-518
  • Propp, W.H.C., 1999, Exodus 1-18 (AB), New York
  • Römer, T., 1994, De l’archaïque au subversif: le cas d'Exode 4/24-26, ETR 69, 1-12
  • Römer, T., 1996, Dieu obscur. Le sexe, la cruauté et la violence dans l’Ancien Testament (Essais bibliques 27), Genève
  • Schmidt, W.H., 1988, Exodus 1,1-6,30 (BKAT II/1), Neukirchen-Vluyn 2. Auflage 2011
  • Wellhausen, J., 1897, Reste arabischen Heidentums. Skizzen und Vorarbeiten H. III, Berlin 2. Auflage
  • Wellhausen, J. 1905, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 6. Auflage (Nachdr. 2001)
  • Wyatt, N., 2009, Circumcision and Circumstance. Male Genital Mutilation in Ancient Israel and Ugarit, JSOT 33, 405-431

Abbildungsverzeichnis

  • Mose mit seiner Frau Zippora und seinen Kindern auf dem Weg von Midian nach Ägypten – allerdings spricht Ex 4,20 nur von einem, Ex 18,3f nur von zwei Söhnen des Mose (Wenzelsbibel; 14. Jh.).

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