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Frühkindliche Bildung

(erstellt: Februar 2017)

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1. Mehrperspektivische Betrachtung des Bildungsbereichs

Der Begriff Frühkindliche Bildung (Frühe Bildung) wird im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs häufig in Hinblick auf Kinder zwischen 0 und 6 Jahren verwendet und fokussiert somit die Entwicklung von der Geburt bis zum Eintritt in die Grundschule. Der Begriff Kindheitspädagogik (im Englischen: Early Childhood Education) findet oft als Überbegriff Verwendung und schließt Kinder zwischen 0 und 12 Jahren ein – von der Geburt bis zum Eintritt in die weiterführende Schule. Der frühkindliche Bildungsbereich erfährt in den letzten Jahren ein ständig zunehmendes Interesse, das sich aus unterschiedlichen Perspektiven generiert:

Aus empirischer Perspektive zeigen Forschungsbefunde auf, dass Kinder bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt domänenspezifisch Kompetenzen entwickeln und in Kindertageseinrichtungen (→ Kindertagesstätte) ihre Potentiale durch Bildungsangebote gezielt weiterentwickeln können (Weinert, 2007, 89-106). Die pädagogische Perspektive betont dabei die Konstruktionspotentiale von Kindern, das Kind wird als produktives und realitätsverarbeitendes Subjekt diskutiert und als Ausgangspunkt und Ziel aller Erziehungs- und Bildungsprozesse betrachtet (Siebert, 2007). In Forschung und Praxis veränderte sich das „Bild vom Kind“ dementsprechend von einer eher passiven hin zu einer aktiven Interpretation des kindlichen Wesens.

„Bestärkt durch Erkenntnisse der neueren frühpädagogischen Forschung hat sich das Bild vom Kind als aktiv lernendem Individuum etabliert, das in der Auseinandersetzung mit einer anregenden Lernumwelt, dem konstruktiven Austausch in Peer-Beziehungen und im Dialog mit Erwachsenen seine Selbstbildungspotentiale entfaltet“ (Weltzien/Viernickel, 2008, 203).

Kinder sind in der Lage, ihre persönliche Lebenswelt mitzugestalten, soziale Beziehungen zu organisieren und somit aktiv an ihrer sozialen und persönlichen Entwicklung mitzuwirken. Sie nehmen ihre Umwelt aktiv wahr und deuten die sie umgebende Wirklichkeit konstruktiv. Die aktuelle entwicklungspsychologische Diskussion verortet die Entwicklung von Kompetenzen dementsprechend in einem sehr frühen Altersbereich, lange vor dem Eintritt in die Grundschule (Siegler/DeLoache/Eisenberg, 2005, 177-295):

„Wenn die Kinder in die Schule kommen, verfügen sie bereits über eine Fülle sprachlicher und kognitiver Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensbestände, die sie im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter erworben haben“ (Weinert, 2007, 90).

Die Entwicklung von Kompetenzen in der frühen Kindheit ist dabei funktionsspezifisch und durch Bildungsangebote nachhaltig beeinflussbar, Kompetenzen können bereits in der Kindertageseinrichtung gezielt gefördert werden (Weinert/Doil/Frevert, 2008, 90). Das von Piaget favorisierte Entwicklungsstufenmodell wird dabei zunehmend durch flexiblere Prozessmodelle und Konzepte zur domänenspezifischen Entwicklung in Frage gestellt. Piaget scheint in vielen Fällen „[…] das Erreichen bestimmter Kompetenzen, wie das Erkennen von Identität und von Objektpermanenz, altersgemäß zu spät angesetzt zu haben“ (Flammer, 2002, 49). Bereits im frühkindlichen Bereich können Kinder selbstständig Vorstellungen und Ideen reflektieren und in Bildungssettings konstruktiv weiterentwickeln – die Förderung verschiedener Domänen kann Prozesse des domänenspezifischen Kompetenzerwerbs gezielt unterstützen.

Vor diesem Hintergrund fokussieren bildungspolitische Perspektiven Kindertageseinrichtungen als Bildungsorte und fordern die Weiterentwicklung und Etablierung von Bildungsplänen für den frühkindlichen Bereich (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2008, 84-89). Aus Elternperspektive können frühkindliche Bildungsprozesse und -potentiale aus neuen Blickwinkeln reflektiert und im Rahmen der Erziehungspartnerschaft kooperativ diskutiert werden (z.B. Rupp, 2008, 23-40). Schließlich eröffnet die Perspektive der pädagogischen Fachkräfte direkte Einblicke in die tägliche Arbeit in Kindertageseinrichtungen und die damit verbundenen Herausforderungen, Probleme und Möglichkeiten: Die Erfahrungen der Fachkräfte sind dabei für alle Perspektiven von elementarer Bedeutung und ergeben Hinweise auf die Gestaltung von Ausbildung und Studium sowie Möglichkeiten der Fortbildung in den verschiedenen Bildungsbereichen (z.B. Stehle, 2015).

2. Frühkindliche religiöse Bildung

Im Horizont dieser multiperspektivischen Betrachtung entwickelte sich der frühkindliche Bildungsbereich auch zu einem zentralen Thema des aktuellen religionswissenschaftlichen Diskurses (z.B. Zimmermann, 2010). Grundlegende religionspädagogische Modelle und Fragestellungen werden in dieser Entwicklung in Hinblick auf die frühkindliche Bildung und die dazugehörigen Perspektiven reflektiert. Dabei muss auch im Kontext religiöser und interreligiöser Kompetenz in der frühen Bildung ein stufenförmiger Entwicklungsverlauf generell hinterfragt werden, besonders die hierarchischen Stufeneinteilungen zur religiösen Entwicklung sind kritisch zu diskutieren (Eckerle, 2002, 67). Kinder sind bereits im frühen Alter in der Lage, existentielle Fragen zu reflektieren, Wertvorstellungen zu diskutieren und persönliche Glaubensvorstellungen und Überzeugungen zu konstruieren (Knoblauch, 2013, 383-395). Im Mittelpunkt der religionspädagogischen Diskussion steht somit das Kind selbst mit seinen persönlichen (Glaubens-)Vorstellungen, Hoffnungen und Fragen und seiner individuellen Suche nach Sinn (z.B. Biesinger, 1994). Die Stärkung der kindlichen Perspektive, eine subjektorientierte Entwicklung religiöser Bildung und die Anerkennung kindlicher Eigenständigkeit im Glaubensprozess führten zur religionspädagogischen Diskussion einer Theologie der Kinder (→ Kindertheologie) und gleichzeitig zur Entwicklung einer systematischen Theologie der Kindheit (Boschki/Woppowa, 2006, 99). In diesen Begriffen finden sich unter anderem Perspektiven religiösen Lernens, religionspädagogischen Handelns und empirischen Forschens (z.B. Schweitzer, 2011, 82-87).

3. Religiöse Vielfalt als besondere Herausforderung für die frühkindliche Bildung

Diese Diskussion geschieht im Kontext einer Gesellschaft, die Religion auf unterschiedliche Weise wahrnimmt und stark von religiöser bzw. weltanschaulicher Pluralität geprägt ist. Dabei werden Phänomene einer multireligiösen Gesellschaft und Potentiale interreligiöser Bildung im frühkindlichen Bereich zu einem immer bedeutenderen Thema:

„Für das Zusammenleben in unserer pluralistischen Gesellschaft ist es von großer Bedeutung, dass Kinder schon im Vorschulalter lernen, religiöse und kulturelle Unterschiede wahrzunehmen, ein Bewusstsein der eigenen religiösen und kulturellen Zugehörigkeit zu entwickeln und sich mit anderen zu verständigen“ (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2009, 22) (→ Pluralisierung).

Das Bemühen um gegenseitiges Verständnis sowie Schutz und Förderung sozialer Gerechtigkeit und Freiheit stellen grundlegende Werte unserer Gesellschaft und des christlichen Glaubens dar, die es in Kooperation mit anderen Religionen zu fördern gilt. Der frühkindlichen Pädagogik kommt somit in einer frühen Bildungssituation die Aufgabe zu, Konflikte zu entschärfen, Vorurteile abzubauen und wechselseitiges Verständnis zu fördern (Edelbrock/Biesinger/Schweitzer, 2012, 22-28). Frühkindliche Bildung kann die Entwicklung religiöser und → interreligiöser Kompetenz in besonderer Weise fördern, indem sie die faktische religiöse Pluralität annimmt und zum Gegenstand des Miteinanders macht. In einer von Pluralität geprägten „Kindergesellschaft“ spiegeln sich Herausforderungen und Chancen einer pluralen Gesellschaft wider, die durch eine religionssensible frühkindliche Bildung konstruktiv wahrgenommen werden können (Weber, 2014).

Literaturverzeichnis

  • Biesinger, Albert, Kinder nicht um Gott betrügen. Anstiftungen für Mütter und Väter, Freiburg i. Br. 1994.
  • Boschki, Reinhold/Woppowa, Jan, Theologie der Kinder – Theologie der Kindheit, in: Katechetische Blätter 131 (2006) 2, 94-100.
  • Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.), Kindliche Kompetenzen im Elementarbereich: Förderbarkeit, Bedeutung und Messung. Unter Mitarbeit von Hans-Günther Roßbach und Sabine Weinert, Bonn/Berlin 2008.
  • Damon, William/Lerner, Richard M. (Hg.), Handbook of child psychology, 6. Aufl., Hoboken (New Jersey) 2006.
  • Eckerle, Sandra, Gottesbild und Sozialisation im Vorschulalter. Eine empirische Untersuchung zur religiösen Sozialisation im Vorschulalter, in: Bucher, Anton A. (Hg. u.a.), „Mittendrin ist Gott“. Kinder denken nach über Gott, Leben und Tod, Jahrbuch für Kindertheologie 1, Stuttgart 2002, 57-68.
  • Edelbrock, Anke/Biesinger, Albert/Schweitzer, Friedrich (Hg.), Religiöse Vielfalt in der Kita. So gelingt interreligiöse und interkulturelle Bildung in der Praxis, Berlin 2012.
  • Flammer, August, Psychologische Entwicklungstheorien, in: Krüger, Grunert (Hg.), Handbuch Kindheits- und Jugendforschung, Opladen 2002, 43-64.
  • Knoblauch, Christoph, Die Entwicklung kindlicher Wertvorstellungen im interkulturellen und interreligiösen Erziehungs- und Bildungsumfeld Kindertagesstätte, in: Feininger, Bernd/Riedl, Hermann Josef/Wunderlich, Reinhard (Hg.), Weisheit im Spiegel theologischer und pädagogischer Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2013, 383-395.
  • Rupp, Hartmut, Kinder und Kindheit unter der Perspektive religiöser und philosophischer Bildung, in: Kirchhoff, Rupp (Hg.), Religiöse und philosophische Bildung. Grundlagen für das Studium der Frühpädagogik, Freiburg i. Br. 2008, 23-40.
  • Schweitzer, Friedrich, Kindertheologie und Elementarisierung. Wie religiöses Lernen mit Kindern gelingen kann, Gütersloh 2011.
  • Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Welt entdecken, Glauben leben. Zum Bildungs- und Erziehungsauftrag katholischer Kindertageseinrichtungen, Bonn 2009
  • Siebert, Horst, Pädagogischer Konstruktivismus. Lernzentrierte Pädagogik in Schule und Erwachsenenbildung, Weinheim 3. Aufl. 2007.
  • Siegler, Robert S./DeLoache, Judy S./Eisenberg, Nancy, Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter, München 2005.
  • Stehle, Andreas, Religionspädagogische Kompetenzen und persönliche Einstellungen von Erzieherinnen. Empirische Zugänge und Perspektiven für die Praxis, Münster 2015.
  • Weber, Judith, Religionssensible Bildung in Kindertageseinrichtungen. Eine empirisch-qualitative Studie zur religiösen Bildung und Erziehung im Kontext der Elementarpädagogik, Münster 2014.
  • Weinert, Sabine, Kompetenzentwicklung und Kompetenzstruktur im Vorschulalter, in: Kompetenzdiagnostik. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft Sonderheft 8 (2007), 89-106.
  • Weinert, Sabine/Doil, Hildegard/Frevert, Sabine, Kompetenzmessungen im Vorschulalter: Eine Analyse vorliegender Verfahren, in: Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.), Kindliche Kompetenzen im Elementarbereich: Förderbarkeit, Bedeutung und Messung. Unter Mitarbeit von Hans-Günther Roßbach und Sabine Weinert, Bonn/Berlin 2008, 89-211.
  • Weltzien, Dörte/Viernickel, Susanne, Einführung stärkenorientierter Beobachtungsverfahren in Kindertageseinrichtungen – Auswirkungen auf die Wahrnehmung kindlicher Interessen, Dialogbereitschaft und Partizipation, in: Fröhlich-Gildhoff, Klaus/Nentwig-Gesemann, Iris/Haderlein, Ralf (Hg.), Forschung in der Frühpädagogik, Freiburg i. Br. 2008, 203-234.
  • Zimmermann, Mirjam, Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern. Grundlagen, Methodik und Ziel kindertheologischer Forschung am Beispiel der Deutung des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2010.

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