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Religiöse Entwicklung, Forschungszugänge

(erstellt: Februar 2016)

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Dieser Artikel knüpft an den WiReLex-Artikel zur → Entwicklungspsychologie an, fokussiert jedoch auf Fragen der methodischen Zugänge innerhalb der empirischen ( Empirie) Erforschung der religiösen Entwicklung. Dabei wird besonders im Blick auf Forschung mit Kindern das Spektrum von vorliegenden Arbeiten und methodischen Zugängen erweitert und visuelle Daten einbezogen. Abschließend stellen wir eigene Modellbildung und Instrumentenentwicklung vor.

1.Modelle und Methodik in der kognitiv-strukturellen Untersuchung religiöser Entwicklung

Das Entwicklungsmodell für moralisches Urteil, das in den 1970er und 1980er Jahren in Harvard im Forschungsteam um Kohlberg (1981; 1984) seine Blütezeit hatte, hat auch Modelle religiöser Entwicklung inspiriert und geprägt. Die so entstandenen Entwicklungsmodelle für religiöses Urteil (Oser/Gmünder, 1984) und von faith (Fowler, 1981) sind für die praktische Theologie und → Religionspädagogik bis heute auch hierzulande maßgeblich, ja zum Inbegriff für → „Entwicklungspsychologie“ geworden (für Einführung und Überblick siehe: Schweitzer, 1987; Büttner/Dieterich, 2013). Welche Methoden sind in der kognitiv-strukturellen Forschung in Gebrauch genommen worden und wie sind sie zu beurteilen?

1.2. Dilemmata und Anschlussfragen zur Bestimmung des religiösen Urteils

Die von Oser und Gmünder (1984) begründete Forschungslinie für religiöses Urteil ist charakterisiert durch möglichst präzisen Anschluss an Kohlberg. Darum ist nicht allein das Entwicklungsmodell, sondern auch die Methodik der empirischen Forschung sehr eng an Kohlberg angelehnt. Das bedeutet: Untersuchung mithilfe von Dilemma-Geschichten und anschließenden standardisierten Interviews. In einem Interview sollen vier aus acht Dilemmata vorgelegt werden. Prominentestes Beispiel dieser Dilemma-Geschichten ist das sogenannte Paul-Dilemma (Oser/Gmünder, 1984, 129-133). Die Interview-Fragen können in sieben Typen eingeteilt werden (Oser/Gmünder, 1984, 134-138). Bei der Auswertung werden die einzelnen Antworten in einem Interpretationsverfahren einer der fünf Stufen zugeordnet; aus dem Durchschnitt der Einzelratings ergibt sich ein Gesamtrating für den Probanden.

1.3. Das Faith-Development-Interview zur Untersuchung religiöser Entwicklung

Der von Fowler (1981) begründeten Forschungslinie liegt ein weites und inklusives Konzept von faith as meaning-making zugrunde, das sowohl Grundgedanken von P. Tillich und H. R. Niebuhr aufnimmt als auch Eriksons psychosoziale Perspektive. Das diesem weiten Begriff von faith entsprechende Instrument für die empirische Forschung ist entsprechend offen angelegt: Das Faith-Development-Interview (FDI) ist ein halbstrukturiertes, 25 Fragen umfassendes Interview, das in vier Abschnitten a) Lebensrückblick, b) Beziehungen, c) Werte und Verpflichtungen und d) Religion und Weltanschauung thematisiert (Keller/Klein/Streib, 2013). Durch den Einstieg mit dem Lebensrückblick ( Biografieforschung), insbesondere durch die Frage, „Wenn Sie über Ihr Leben nachdenken, können Sie es in unterschiedliche Abschnitte einteilen? Angenommen, es wäre ein Buch, welche Kapitel müsste es enthalten?“ wird der Fokus auf autobiographische Erinnerung gerichtet und autobiographische Erzählung stimuliert. Das vollständig transkribierte Interview wird, wie dies im Manual for Faith Development Research (Fowler/Streib/Keller, 2004) vorgeschlagen wird, Antwort für Antwort nach kognitiv-strukturellen Kriterien ausgewertet. Durch Zuordnung der 25 Fragen zu einem der sieben Aspekte (z.B. Moral Judgment, Bounds of Social Awareness; Form of World Coherence) können diese Aspekte einzeln betrachtet werden. Danach wird ein Gesamt-Score für das betreffende FDI kalkuliert.

1.4. Konzeptionelle und methodische Kritik

Modelle, die in der Traditionslinie Kohlbergs (Kohlberg/Levine/Hewer, 1983) eine universale, hierarchisch geordnete, invariant sequenzielle, monodirektional-irreversible kognitiv-strukturelle Entwicklung in „ganzheitlichen“ (über alle Entwicklungs-Domänen konsistenten) Stufen postulieren, haben enorm an Plausibilität verloren und werden teils scharf kritisiert, z.B. in der Psychologie der Lebensspanne (Baltes/Lindenberger/Staudinger, 1998; 2006) oder fokussiert auf die strukturelle Entwicklungslogik (Döbert, 1986; 1988; Noam, 1990; vgl. Streib, 2001; 2003). Kohlbergs Modell der Entwicklung des moralischen Urteils rückt zunehmend in die historischen Teile der Lehrbücher. Pflegen wir also in der deutschen Theologie und Religionspädagogik ein antiquiertes Relikt und haben den Anschluss an Entwicklungen in der Psychologie verpasst? Jedenfalls haben wir hier ein Problem.

Kann dieses Problem empirisch gelöst werden, kann religiöse Entwicklung bewiesen (oder widerlegt) werden? Antwort: Nicht auf der Grundlage vorliegender Daten und nicht solange in der kognitiv-strukturellen Untersuchung religiöser Entwicklung ein zirkuläres Design zur Anwendung kommt, in dem konzeptionelle Modelle, die eine allgemein gültige, zwingend aufwärts gerichtete Folge festgelegter Stufen postulieren, sowohl die Hypothese bestimmen, dieselben Modelle aber auch für die Interpretation von Entwicklung in zu einem einzigen Messzeitpunkt erhobenen Daten herangezogen werden. So kann die Hypothese, religiöse Entwicklung findet statt, im Grunde gar nicht falsifiziert werden, oder anders: strenggenommen ist die empirische Beweislage dafür, dass religiöse Entwicklung tatsächlich stattgefunden hat, äußerst dünn und es ist keineswegs empirisch bewiesen (sondern jeweils den Modellen entnommen), dass sich religiöse Entwicklung in einer Abfolge von in sich geschlossenen, konsistenten Stufen vollzieht. Nur Untersuchungen mit einem längsschnittlichen Design, die also die gleichen Indikatoren für religiöse Entwicklung bei denselben Personen zu zwei oder mehr Zeitpunkten mit denselben Instrumenten untersuchen, könnten religiöse Entwicklung belegen (oder widerlegen) und prüfen, ob die starken hypothetischen Annahmen der invariant-sequenziellen und irreversiblen Entwicklung zutreffen oder nicht. Dabei ist bei der Forschung mit Kindern zu beachten, dass die Methoden dem Entwicklungsstand angemessen sein müssen. Auf verbalen Daten beruhende Methoden wie Fragebögen und Interviews setzen den Erwerb sprachlicher und kommunikativer Kompetenzen voraus (Köber/Schmiedek/Habermas, 2015). Es ist also nicht allein bezüglich der konzeptionellen Modellbildung, sondern auch bezüglich der Forschungsdesigns neues Nachdenken nötig.

1.5. Zugänge zur religiösen Entwicklung von Kindern (Zwischenbemerkung)

Im Rückblick kann der kognitiv-strukturellen Perspektive auf Entwicklung als großes Verdienst bescheinigt werden, dass sie die entwicklungspsychologischen Modelle vom Fokus auf Kindheit und frühe Jugend erweitert und auch die Entwicklung im Erwachsenenalter, also Entwicklung über die gesamte Lebensspanne, modelliert. Was jedoch aus konzeptioneller Perspektive höchst sinnvoll war, hat methodisch auch Probleme geschaffen. Denn die Forschungsinstrumente, die für die Untersuchung von moralischem Urteil und in ihrem Fahrwasser von religiösem Urteil (Oser/ Gmünder, 1984) und von faith as meaning-making (Fowler, 1981) besondere Prominenz erreicht haben, sind höchst anspruchsvolle hypothetische Dilemmata und hoch reflexive Interviewleitfragen, die auf Erwachsene zugeschnitten sind, von Kindern aber nicht so gut oder gar nicht verstanden werden.

Eher sekundär wurden Dilemmata und Fragen für jüngere Jugendliche und Kinder adaptiert. So hat Fowlers Forschergruppe Kinder interviewt und dabei, wie aus den Fragen zu den Interviews (Fowler, 1981) zu ersehen ist, versucht, die Fragen an kindliches Denken anzupassen; auch wurden Dilemmata aus Kohlbergs Inventar verwendet. Doch abgesehen von Randerscheinungen gibt es in der Forschungslinie der Faith-Development-Theorie bislang kaum Unterrichtsforschung und keine systematische Instrumentenentwicklung für Kinder und Jugendliche. Anders in der Forschungslinie von Oser: Hier gibt es umfangreiche Forschung mit Kindern und Jugendlichen und auch Unterrichtsforschung (Oser, 1988). Beispielsweise hat Bucher (1990) mit Schwerpunkt auf das Verstehen von Gleichnissen auch Kinder befragt; in einer längsschnittlich angelegten Untersuchung zur Entwicklung von Schöpfungs- und Weltbildvorstellungen (Fetz/Reich/Valentin, 2001) wurden zum ersten Erhebungszeitpunkt Probanden im Kindesalter befragt.

Auch wenn die Bemühung um kindgerechte Adaption der Fragen zu würdigen ist und der Einsatz desselben oder wenigstens vergleichbaren Instruments verständlich und begrüßenswert ist, grenzwertig sind die rein verbalen Verfahren im Blick auf Kinder im Grund- und besonders im Vorschulalter. Wer religiöse Entwicklung von Kindern im Vorschul- und Grundschulalter untersuchen möchte, sollte methodisch noch einmal neu nachdenken und Alternativen in Erwägung ziehen. Die Alternative der Untersuchung mit von Kindern gemalten Bildern und anderen visuellen Gestaltungen ist in der Tat immer wieder versucht und umgesetzt worden.

2.Modelle und Methoden der Entwicklungsforschung mit visuellen Gestaltungen

2.1.Klassische Kinderbildstudien

Bucher (1994) hat in einer Studie mit knapp 350 Kinderbildern die Unterscheidung zwischen anthropomorpher und symbolischer Darstellung besonders beachtet und Parallelen zu den Stufen des religiösen Urteils gezogen und so die Untersuchung in den Rahmen des Entwicklungsmodells religiösen Urteils eingebettet. Auch Hanisch (1996) hat in zwei Kinderbildstudien, eine mit knapp 1500 religiös erzogenen und eine andere mit über 1000 nicht-religiös erzogenen Sieben- bis Sechzehnjährigen, auf den Unterschied zwischen anthropomorpher und symbolischer Darstellung fokussiert und den Rückgang von anthropomorpher und das Hervortreten symbolischer Darstellungen als Entwicklungsfortschritt interpretiert, wobei sich das deutliche Abnehmen der anthropomorphen und das starke Zunehmen symbolischer Darstellungen jedoch nur bei den religiös Erzogenen gezeigt hat. Kritisch einzuwenden ist gegen diese Forschungslinie, dass konzeptionell die an Piaget (1978) und Luquet (1927) orientierte Unterscheidung „symbolisch vs. anthropomorph“ durch Merleau-Pontys (1988) Kritik als überholt gelten muss (vgl. Streib, 2013a) und dass es methodisch fragwürdig ist, die Häufigkeit von menschlich erscheinenden Gesichtszügen, Bärten, Heiligenscheinen, Wolken etc. auszuzählen und dies als Indiz für den Entwicklungsstand des zeichnenden Kindes zu interpretieren.

Methodisch innovativer vorgegangen sind Kinderbild-Studien, die den Malprozess (Klein, 2000; Wiedmaier, 2008) dokumentiert und interpretiert haben – Wiedmaier auf der Grundlage filmischer Dokumentation; allerdings sind Fragen der religiösen Entwicklung hier eher am Rande in den Blick genommen. Dezidiert auf Entwicklung zugeschnitten ist die nun folgende Langzeitstudie, die relativ neu ist und vielen nicht bekannt sein dürfte, weshalb sie hier etwas ausführlicher dargestellt wird.

2.2.Visuelle Gestaltungen und Gespräche in offener Interpretation

Szagun (2013) hat in der Rostocker Langzeitstudie zusammen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern knapp 60 Kinder seit dem Schuleintritt teilweise bis zum Abitur begleitet und regelmäßig befragt. Dabei wurden – methodisch teils im Anschluss an diagnostische Verfahren aus der Kinderpsychotherapie (Familie in Tieren, Baumtest) – vorwiegend visualisierende Verfahren wie z.B. Bilder und Kollagen mit allen möglichen Materialien eingesetzt und diese in Interviews mit den Kindern und Jugendlichen besprochen. Die Ergebnisse dieser ideographischen Untersuchungen sind von unschätzbarem Wert. Detailuntersuchungen sind in einigen Büchern publiziert (Szagun, 2006; Szagun/Fiedler, 2008; Dannenfeldt, 2009; Fiedler, 2010; Wagener, 2013).

Zu den Schlussfolgerungen aus ihrer Langzeitstudie gehört, dass Szagun (2013, 28-40) eine sehr kritische Position gegen die verschiedenen an Piaget angelehnten Entwicklungsmodelle einnimmt. Dazu gehören die Annahmen, Kinder denken in Kategorien von Anthropomorphismus, Animismus und Artifizialismus (vgl. Piaget, 1978), die Szagun in Frage stellt, weil Kinder in säkularisierter Umgebung solche Denkfiguren mehrheitlich gar nicht mehr entwickeln. Auch die klar abgrenzbare Stufenfolge von erster Naivität, Symbolkritik und zweiter Naivität sieht Szagun (2013, 29-31) kritisch und nimmt mit Verweis auf Oberthür (1990) eine Überlagerung und Verschränkung der drei Formen des Symbolverstehens an. In der Tat sieht Szagun bei den von ihr untersuchten Grundschulkindern ein fließendes Ineinander von Symbolformen und eine große Varianz und fehlende Konsistenz bei den Gottesvorstellungen. Abschließend postuliert Szagun (2013, 109f.) den „Abschied von der Theorie, dass sich der Glaube bei Kindern in bestimmten, aufeinander folgenden Stufen entwickelt“. Stattdessen möchte Szagun, dass wir Erwachsenen den Kindern mehr zutrauen und bei ihnen eine größere Fähigkeit zur Mehrperspektivität voraussetzen.

2.3.Konzeptionelle und methodische Kritik

In einem Streitgespräch diskutierten Szagun und Bucher (2009) ihre Positionen. Dabei weist Bucher darauf hin, dass die etablierten und mit zahlreichen Studien unterlegten Entwicklungsmodelle nicht mit einer relativ kleinen partikularen Stichprobe und einem idiographisch ausgerichteten Untersuchungsdesign falsifiziert werden können; für eine Falsifizierung sollten vielmehr dieselben Verfahren eingesetzt werden. Das hat seine Berechtigung, denn innerhalb des Rahmens von nomothetischen Verfahren wären Bestätigung oder Widerlegung besonders plausibel. Um der oben beschriebenen zirkulären Argumentation zu entgehen, liegt es nahe, mit multimethodischen Designs zu arbeiten, welche die Kombination expressiv angelegter explorativer mit standardisierten Verfahren erlauben, sowie die Herstellung von Bezügen zwischen einzelnen Verläufen und gruppenbezogenen Auswertungen.

Der dezidiert idiographische Schwerpunkt der Rostocker Langzeitstudie ist unseres Erachtens jedoch sehr zu würdigen und zur Nachahmung zu empfehlen. Denn durch die Sistierung der „großen Theorien“ religiöser Entwicklung war es Szagun und ihrem Team möglich, die Einzelfälle zu würdigen und dabei Neues zu entdecken. Besonders geeignet ist dieses Untersuchungsdesign für die Exploration eines neuen Feldes – in diesem Fall das Aufwachsen in einer mehrheitlich nicht-religiösen Umgebung. Zum Design der Rostocker Studie ist noch ergänzend darauf hinzuweisen, dass außer visuellen Gestaltungen eine ganze Reihe von Fragebögen mit vielfältigen Skalen eingesetzt wurden. Darum wäre wohl eher von einem Mixed-Method-Design zu sprechen. Die Ergebnisse der – allerdings eher kleinen – Stichproben werden dann in einfachen Häufigkeits-Tabellen berichtet. Vielleicht hätten hier noch weiterführende Analysen durchgeführt werden können – z.B. im Blick auf eine differenzielle Sicht und/oder eine Typenbildung. Jedenfalls sehen wir ein Potenzial für zukünftige Forschung, gerade in Verbindung mit etablierten standardisierten Methoden. Für die Exploration religiöser Entwicklung in non-theistischen und in multi-religiösen Umgebungen sind Methoden wichtig, die für noch nicht Kartographiertes offen sind. Dabei wäre auch über die Entwicklung von Methoden nachzudenken, die die Medienumwelt aufgreifen und nutzen, in der Kinder inzwischen aufwachsen.

3.Konzeption und zugehörige Methoden des Modells religiöser Stile

3.1. Konzeption religiöser Stile

Stufenmodelle als Interpretationsrahmen für religiöse Entwicklungsverläufe sind mit ernsthaften Plausibilitätsproblemen konfrontiert: Konversionen von Menschen mit hoch entwickelter Reflexionskompetenz, die den höheren Entwicklungsstufen zugehört, zu fundamentalistischen Denkstrukturen im Modus des do-ut-des-Prinzips oder eines mythisch-wörtlichen Textverständnisses, wie es den Theorien Osers und Fowlers zufolge für niedrigere Stufen charakteristisch ist, lassen sich im Modell von monodirektional-irreversibler Entwicklung nicht erklären. Streuungen von mehr als einer Stufe Differenz in ein und demselben Interview, wie wir das zahlreich in unseren Faith-Development-Interview-Auswertungen gefunden haben, widersprechen der Annahme von „ganzheitlichen“ Stufen. Dies sind erhebliche Widersprüche gegen die Stufenmodelle. Eine Antwort darauf ist die Entwicklung des Modells religiöser Stile (Streib, 1997; 2001; 2003; 2005; 2007; 2013a).

Das Modell religiöser Stile hält darum an den starken, in Widersprüche führenden Annahmen im Entwicklungsmodell nicht weiter fest und arbeitet mit Stilen, die zwar inhaltlich den Strukturen der „Stufen“ in etwa entsprechen, aber, so die Annahme, eben auch synchron-überlagernd auftreten können. Bei näherer Betrachtung ist ein Stil markiert durch religiöse Schemata wie z.B. der do-ut-des-Reziprozität, der Absolutheitsbehauptung für heilige Texte in wörtlichem Verständnis, dem fairen und toleranten Umgang miteinander oder der xenosophischen Offenheit für interreligiösen Dialog.

3.2.Modifikation der Forschungsmethode

3.2.1.Forschung mit der Religious Schema Scale

Aufgrund der von uns behaupteten größeren Präzision des Modells religiöser Stile und Schemata ist es möglich und sinnvoll, religiöse Entwicklung auch quantitativ zu untersuchen und dafür eine Skala zu bilden: Die Religious Schema Scale (Streib/Hood/Klein, 2010) haben wir 2010 vorgestellt und in zahlreichen Studien eingesetzt (Streib/Klein, 2014; Streib/Keller, 2015; Streib/ Klein/Hood, 2016). Freilich ist diese Skala für Erwachsenen konstruiert und kann erst ab 14 Jahren gut verstanden und beantwortet werden. Eine Skala für ältere Kinder und jüngere Jugendliche ist in Vorbereitung. Dennoch hat sich die RSS als eigenständiges quantitatives Messinstrument bislang bewährt.

3.2.2.Forschung mit dem Faith-Development-Interview

In unseren über 500 Faith-Development-Interviews aus verschiedenen Forschungsprojekten, darunter eine stattliche Anzahl mit islamischen Jugendlichen und Erwachsenen, hat sich dieses Interviewformat als sehr produktiv und die kognitiv-strukturelle Evaluation als sehr effektiv erwiesen, um die religiösen Stile zu identifizieren. Das heißt: Auch ohne die starken, jedoch wenig plausiblen Annahmen einer universalen, invariant sequenziellen, monodirektional-irreversiblen Entwicklung in „ganzheitlichen“ (über alle Entwicklungs-Domänen konsistenten) Stufen können mit dem Faith-Development-Interview effektiv religiöse Stile identifiziert werden. Ein hinreichend großes Sample vorausgesetzt, können die Ergebnisse der Evaluation, auch aspektspezifisch oder nach religiösen und nicht-religiösen Fragen getrennt, mit anderen quantitativen Daten verrechnet werden.

Mit rein kognitiv-struktureller Evaluation ist jedoch der Reichtum der im FDI enthaltenen Informationen bei weitem nicht ausgeschöpft. Es ist die besondere Beachtung von Inhalten und von Narrativität, die, wie von Streib (2005; vgl. auch Keller/Streib, 2013; Keller/Coleman/Silver, 2016) vorgeschlagen, inzwischen unsere Faith-Development-Interview-Evaluation und unsere Ausarbeitung von Fallstudien prägt. Es finden auch Inhaltsaspekte wie Beziehungen, Werte und Verpflichtungen sowie Religion und Weltanschauung (entsprechend den Abschnitten in den Faith-Development-Interview-Fragen) besondere Beachtung in den Fallstudien. Ebenso achten wir in der Auswertung auf Perspektiven der Mentalisierung, Bindung (attachment) und Weisheit (siehe exemplarisch die Fallstudien in Streib/Keller, 2015; Streib/Hood, 2016).

Das klassische Faith-Development-Interview ist freilich ein Instrument für Erwachsene und für Jugendliche unter 16 Jahren kaum effektiv einsetzbar, geschweige denn für die Befragung von Kindern. Darum haben wir einen Faith-Development-Interview-Leitfaden für Kinder erstellt. Dieser kann unter http://www.uni-bielefeld.de/theologie/CIRRuS-downloads/FDI-Fragen-Kinder.pdf bezogen werden. Je nach Alter der Kinder kann sich an die Frage „Wie stellst Du Dir Gott vor?“ eine Einladung zu einem Mal- oder sonstigen Gestaltungsprozess anschließen. Damit wird die forschungsmethodisch bedeutsame Frage nach der kontinuierlichen Erfassung eines Konstruktes, in diesem Fall „Gottesbild“ mit unterschiedlichen, zuerst beobachtungorientierten, dann verbalen Methoden aufgegriffen, die für Untersuchungen im Kindesalter wichtig ist.

4.Ausblick

Mit Blick auf die in diesem Artikel dargestellten Untersuchungen kann notiert werden, dass sowohl in das Konzept „religiöse Entwicklung“ – in religionspädagogischen Kreisen gerne → „Entwicklungspsychologie“ genannt – als auch in die Methodik zur empirischen Untersuchung von religiöser Entwicklung wieder etwas Bewegung kommt. Dies ist auch dringend notwendig, wenn die Perspektive religiöser Entwicklung nicht museal verstauben oder zum gedankenlosen Memorierstoff für Lehramtsstudierende verkommen soll. Kritische und innovative Vorschläge sollten darum willkommen sein. Andererseits sollte bei aller Kritik das Kind nicht mit dem Badewasser ausgeschüttet werden: Die differenzielle Sicht auf religiöse Entwicklung, auch die kognitiv-strukturelle Perspektive, ist zu aufschlussreich, als dass sie ignoriert werden oder ein Schattendasein führen darf; dies gilt für die → Religionspädagogik und die → Theologie und Religionsforschung im weiteren Sinn, dies gilt jedoch auch für die → Religionspsychologie und → Entwicklungspsychologie. Doch allein durch kritisch-konstruktives Weiterdenken und die Schärfung ihrer Methoden kann die empirische Forschung religiöser Entwicklung wirklich überzeugen.

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