Stolpersteine
(erstellt: Februar 2016)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Stolpersteine.100163
1. Verortung – zur Idee des Stolperstein-Projekts
„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Mit diesem Satz begründet der Künstler Gunter Demnig seine Initiative zum Erinnerungsprojekt „Stolpersteine“, das Opfern des Nationalsozialismus gewidmet ist. Seit dem Jahr 2000 wurden bis heute ca. 50.000 Stolpersteine in mehreren Ländern Europas gesetzt (vgl.
www.stolpersteine.eu
Zentraler Gedanke beim Stolperstein-Projekt ist das →
Erinnern
Was die Stolpersteine vor allem von anderen Mahnmälern unterscheidet, ist ihr ganz individueller Bezug zum Schicksal eines einzelnen Menschen. Jeder verlegte Stein ist einem einzigen Opfer gewidmet. Durch die individuelle Inschrift auf dem Stein, auf dem neben dem Namen des Opfers auch dessen Geburts- und Deportations-, Flucht- oder Todesjahr sowie das Schicksal stehen, wird die Erinnerung an den jeweiligen Menschen am Leben gehalten. Somit hat Demnig mit den Stolpersteinen eine einzigartige Form des Gedenkens geschaffen.
In vielen Städten findet das Stolperstein-Projekt eine große Akzeptanz. In München allerdings wird seit Jahren diskutiert; dort ist die Verlegung von Stolpersteinen auf öffentlichem Grund verboten.
2. Religionsdidaktische Perspektiven
2.1. Zur erinnernden Wirkung der Stolpersteine
Stolpersteine helfen, der Verdrängung der Verbrechen des Nationalsozialismus entgegenzuwirken und zu einer Gedächtniskorrektur beizutragen. Den oft vorgebrachten Schutzbehauptungen – die ehemaligen Nachbarn seien ‚einfach so‘, ‚ganz plötzlich‘ verschwunden, man hätte ‚von alledem‘ nichts gewusst – werden Fakten entgegengestellt (vgl. Fings, 2007, 46). Somit verweisen sie indirekt auf Reaktionen des Wegblickens, des Schweigens, des Nichtnachfragens. Stolpersteine zielen also auch auf den wichtigen Fragenkomplex, wie all die Deportationen als Auftakt zum Holocaust geplant und ohne größeren Widerstand vonstatten gehen konnten. Auf die besondere erinnernde Wirkung der Stolpersteine macht Reiner Bernstein von der ‚Initiative Stolpersteine für München‘ aufmerksam: „Das Geheimnis der Erinnerung ist die Nähe“ (
www.stolpersteine-muenchen.de
Als Mahnmale erinnern die Stolpersteine an Einzelschicksale, an Menschen, die verschleppt, vertrieben und ermordet wurden und für die es bisher keinen individuellen Ort des Gedenkens und der Trauer gab. Die Erinnerungsarbeit wird zudem in vielfältigen Projekten ergänzt, welche die individuelle Geschichte der Opfer erforschen.
2.2. Zur besonderen Bedeutung der „Namensrückgabe“
Neben der Erinnerung ist von zentraler Bedeutung, dass die Opfer mit dem Stolperstein ihren Namen wieder zurückerhalten, der von den Nationalsozialisten ausgelöscht wurde. „Sie erhielten eine Nummer in die Haut gebrannt, ein Brandmal wie ein Stück Vieh; und damit wurden sie ihrer Individualität, ihres Menschseins beraubt“ (Schmitz-Bonfigt, 2012, 6). Die Eintätowierung in den linken Unterarm erfolgte 1941 in den Konzentrationslagern Auschwitz (→ Auschwitz/Auschwitz-Gedenken
Für viele Opfer war die tätowierte KZ-Nummer ein Zeichen von Erniedrigung und Entmenschlichung, denn durch die Auslöschung des Namens „wurde dem Häftling seine individuelle Identität, menschliche Würde und Lebenskraft geraubt“ (Stephan/Vuk, 2004, 4). Die besondere Bedeutung des Namens für die Identität des Menschen wird auch an vielfältigen Gegenstrategien der KZ-Opfer deutlich, die darauf abzielten, den Namen zu erhalten: „Das wichtigste Muster zur Namenbewahrung war die Anrede der Häftlinge untereinander mit Namen, die zur Identitätserhaltung beitrug“ (Stephan/Vuk, 2004, 6). Insofern ist die Nennung des Namens der Opfer auf der Messingplatte des Stolpersteins sehr bedeutend, weil der Name zum Menschsein gehört und den Opfern damit ihre Würde als Mensch zurückgegeben wird. Gunter Demnigs Motto ‚ein Stein – ein Name – ein Mensch‘ macht auf die besondere Relevanz der Namensrückgabe aufmerksam. Demnig folgt damit dem Trend der „Abkehr von der anonymen Präsentation der Opfer als geschichtslose, namenlose Verfolgte und Tote“ (Flügel, 2009, 119), der durch die TV-Serie „Holocaust“ (1979) ausgelöst wurde.
2.3. Das Stolperstein-Projekt in schulischen Kontexten
Durch vielfältige Initiativen sowie durch die Diskussion um die Verlegung von Stolpersteinen in München hat Demnigs Projekt in den letzten Jahren an Bekanntheit weiter zugenommen. Auch viele →
Schülerinnen und Schüler
Ein Lernen anhand der Stolpersteine findet auch im Religionsunterricht (→ Religionsunterricht, evangelisch
Nur wenige neuere, kompetenzorientiert ausgerichtete (→ Kompetenzorientierter Religionsunterricht
3. Praktische Optionen für den Religionsunterricht und die Erwachsenenbildung
Im Folgenden werden einige Perspektiven für ein erinnerndes Lernen an Stolpersteinen aufgezeigt, wobei insbesondere die religiöse Dimension von Erinnerung (→ Erinnerung/Erinnerungslernen
3.1. Stolpersteine als regionale Erinnerungsorte
Orte sind a priori in besonderer Weise erinnerungsgenerierend, da sie bestimmte Erinnerungen speichern und zum Erinnern anstoßen. Stolpersteine markieren den konkreten Ausgangspunkt der Verschleppung der jeweiligen Opfer und provozieren die Auseinandersetzung mit einem ganz bestimmten historischen Geschehen. Die schreckenerregenden vergangenen Ereignisse werden somit für die Lernenden in eine unmittelbare Nähe gebracht, in der sie erfahren, dass in ihrem eigenen Nahbereich Menschen einfach spurlos verschwanden und dass die Verfolgungen sich für alle sichtbar in der direkten Nachbarschaft ereigneten. Diese regionalen Bezüge sind gerade für Schüler und Schülerinnen wichtig, da sie im Laufe der Adoleszenz vor der Aufgabe stehen, „sich in der Kultur und Gesellschaft zu beheimaten“ (Boschki, 2008, 140). Das Unsagbare und Unverstehbare wird somit in der Lebenswelt der Lernenden verortet und kann im Verlauf der weiteren Auseinandersetzung mit den Stolpersteinen als „mahnende Erinnerung“ (Ruppert, 1984, 77) sinnstiftend in eine verpflichtende Botschaft übersetzt werden.
Implizit verweisen die Stolpersteine auch auf die Reaktionen des Wegblickens und Schweigens der Nachbarschaft. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach den Tätern, nach deren Entscheidungen und Handlungsspielräumen. Auch an diese Seiten gilt es im Rahmen religiöser Lern- und Bildungsprozesse (→ Bildung, religiöse
3.2. Stolpersteine als Orte einer symbolischen Rückgabe des Namens
Eine wesentliche Leistung des Stolperstein-Projektes ist es, den Opfern ihren Namen zurückzugeben. Wichtig wäre es, den Aspekt der Namensrückgabe vertiefter zu thematisieren und nicht zu vorschnell im Rahmen von → biografischen Lernprozessen
Um den Opfern ihre Würde zurückzugeben, ist es auch wichtig, den von ihnen bisweilen geführten individuellen Widerstand als Kampf um Zurückgewinnung von Würde zu thematisieren, der sich insbesondere auch darin zeigte, dass sich die KZ-Häftlinge selbst untereinander mit Namen ansprachen (vgl. Flügel, 2009, 120). Das Wissen darum kann für Lernende zum Ausgangspunkt werden, inhumanen Tendenzen entgegenzuwirken und „Strategien der Verteidigung“ (Boschki, 2008, 139) der oben genannten elementaren Wahrheit (→ Elementarisierung
3.3. Stolpersteine als Anstoß für biografisches Lernen
Stolpersteine ermöglichen eine aktive Erinnerungsarbeit, bei der Rückbindungen an individuelle, ganz konkrete Lebensgeschichten von zentraler Bedeutung sind (vgl. Assmann, 2006, 249). Hinter jedem Stolperstein verbirgt sich eine individuelle Biografie, die erforscht und erinnert werden kann (→
Biografieforschung
Die Auseinandersetzung mit Einzelschicksalen birgt aber auch die Gefahr einer emotionalen Überforderung der Lernenden. So muss die Gestaltung biografischer Lernprozesse mit großer Sensibilität gegenüber einer eventuellen „Überwältigung durch eine Opfergeschichte“ erfolgen (Körber, 2009, 1).
Darüber hinaus wirft die Beschäftigung mit Einzelschicksalen von verfolgten und ermordeten Juden in religiösen Lern- und Bildungsprozessen die Frage nach Gott als Theodizeefrage auf und fordert eine erinnernde Deutung der Geschehnisse vor dem Hintergrund der → Gottesfrage
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